-1- Januar

Ich saß auf der Liege im Behandlungszimmer und ließ meine Beine hin und her baumeln. Als sich die Tür öffnete sah ich auf, der ernste Blick des Arztes verriet mir schon alles, was ich wissen musste. „Also hat sich Ihre Vermutung bewahrheitet?" fragte ich dennoch. Dr. Yoshida nickte und schenkte mir ein trauriges Lächeln. „Ja, es tut mir wahnsinnig leid. Ihre Symptome und Ihr Blutbild weisen eindeutig darauf hin, dass Sie Leukämie haben."
Ich senkte den Kopf, legte mein Kinn auf die Brust, schloss die Augen und verzog den Mund zu einem gequälten Lächeln. „Es ist wie es ist, nicht wahr?"
„Ich fürchte, es gibt in dieser Sache keine beschönigenden Worte."
Ich öffnete die Augen, blinzelte die Tränen fort und hob dann wieder den Kopf, um den Arzt anzusehen. „Und wie geht es jetzt weiter?"
Dr. Yoshida drehte seinen Stuhl mit der Sitzfläche in meine Richtung und setzte sich. Er sah mich ernst mit seinen blauen an. „Zunächst müssen wir eine Knochenmarkpunktion durchführen, einmal um die Diagnose abzusichern und zum anderen, um zu bestimmen, um welche Art der Leukämie es sich handelt. Hierbei handelt es sich um einen ambulanten Eingriff, der nicht sehr lange dauert. Anschließend werden Sie noch eine Weile beobachtet und dürfen dann nach Hause." Ich hörte Dr. Yoshida aufmerksam zu und nickte immer wieder. „Und danach?"
„Um die genaue Behandlungsmethode zu bestimmen, müssen wir abwarten, zu welchem Ergebnis die Knochenmarkpunktion führt. Die Therapiemethoden hängen von der Art der Leukämie ab." Ich nickte benommen, während der Arzt weitersprach und versuchte mir so verständlich wie möglich zu erklären, was mir bevorstand. „Sind Sie sicher, dass wir nicht besser Ihre Eltern benachrichtigen? Es ist oft leichter, wenn die Kontaktpersonen von Anfang an in den Prozess integriert werden." Ich schluckte den mittlerweile riesigen Kloß in meinem Hals hinunter und legte ein leichtes Lächeln auf. „Ich fürchte, es gibt da niemanden, den ich integrieren könnte. Meine Eltern sind tot...Ich habe eine Tante, die das Sorgerecht hat, aber ehrlich gesagt lebe ich seit meinem 16. Lebensjahr alleine hier in Tokio, natürlich mit ihrer Erlaubnis. Aber wir stehen eigentlich nicht mehr in Kontakt. Falls Sie ihre Zustimmung für irgendwas benötigen, das läuft über ihren Anwalt hier in Tokio... Also fahren Sie bitte einfach fort."
Dr. Yoshida sah mich weiterhin mit neutraler Miene an und ich bewunderte seine Professionalität. Doch für einen kurzen Moment konnte ich auch in seinen Augen das Mitleid aufblitzen sehen, welches jeden ergriff, der meine Geschichte hörte. Er räusperte sich. „In Ordnung. Also wir sollten so bald wie möglich die Knochenmarkpunktion durchführen. Im Idealfall direkt am Anfang der nächsten Woche."
Ich schluckte. „Wäre es möglich, das erst am Freitag zu machen?"
„Es ist Ihnen bewusst, wie wichtig es ist, dass wir die genaue Diagnose so schnell wie möglich erhalten?"
Ich krallte meine Hände in meiner Hose fest. „Das heißt, meinen Schulabschluss in ein paar Wochen kann ich Knicken?" Der Arzt seufzte. „Sie sind im letzten Jahr der Oberschule?"
Ich nickte.
„Ich kann verstehen, dass Sie gerne Ihren Abschluss machen möchten, aber ich kann wirklich nur empfehlen, dass wir so schnell wie möglich mit der Behandlung beginnen."
„Und wenn nicht?"
Dr. Yoshida nahm seine Brille ab, legte sie auf den Schreibtisch und fuhr sich mit der linken Hand übers Gesicht. „Nun, es gibt ein paar Medikamente, die Ihnen helfen könnten und ich betone es noch einmal: Sie KÖNNTEN helfen, eine Garantie gibt es dafür nicht. Ihre Symptome mögen aktuell nicht so gravierend sein aber im schlimmsten Fall verschlechtert sich Ihr Zustand in den paar Wochen rapide und damit natürlich auch die Heilungschancen. Aber all das kann ich erst sagen, wenn wir die Knochenmarkpunktion durchgeführt haben und wir wissen, womit genau wir es zu tun haben."
Ich ließ den Kopf hängen und biss mir auf die Unterlippe
„Verstehe...," murmelte ich leise.
„Vielleicht sollten wir es heute dabei belassen. Das sind sehr viele Informationen auf einmal und Sie sollten sich das wirklich gut überlegen, vielleicht reden Sie mit einem Freund oder Freundin darüber. Je schneller wir beginnen, desto besser."
„Ja..."
„Ich werde Ihnen Medikamente mitgeben und wir sehen uns am Montag wieder. Sollte es Ihnen am Wochenende schlechter gehen, sehen wir uns natürlich früher." Ich nickte müde. Ich ließ mir von meinem Arzt die Medikamente geben, dann zog ich mir meine dicke Jacke über, verließ die Klinik und ging in den kalten Januartag hinaus. Ich tigerte an der Haltestelle auf und ab und versuchte mich warm zu halten, während ich auf den Bus wartete. Als der Bus hielt, stieg ich dankbar ein und ließ mich zitternd auf einen der freien Plätze fallen. Ich lehnte meinen Kopf gegen die Scheibe und starrte aus dem Fenster auf die trostlosen Straßen hinaus, während die Gedanken in meinem Kopf kreisten. Warum ausgerechnet ich? Warum immer wieder ich? Und warum ausgerechnet jetzt? Ich hielt mir die Hände vor mein Gesicht, während sich die Tränen erbarmungslos ihren Weg in meine Augen suchten.

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Am Montag lief ich nach dem Unterricht nervös aus und ab, während ich auf meine Mannschaft wartete. Am Morgen war ich bei der Schuldirektorin gewesen und hatte ihr von meiner Erkrankung erzählt. Eine Entscheidung, die mir schwergefallen, aber um meinen Plan durchzuziehen, notwendig war. Sie war schockiert gewesen aber nach dem sie sich wieder beruhigt hatte zeigte sie viel Verständnis und garantierte mir, den Abschluss machen zu können, vorausgesetzt ich verpasste bis zu den Prüfungen Ende März nicht allzu viel von dem Unterricht. Sie versprach so wenig Menschen wie nötig einzuweihen, aber zumindest meine Lehrer müssten Bescheid wissen. Ich bedankte mich und machte mich auf den Weg in die Klinik, um mit meinem Arzt das weitere Vorgehen zu besprechen. Er war nicht begeistert von meiner Entscheidung, mit der Knochenmarkpunktion bis zum Wochenende zu warten und auch, dass ich unter allen Umständen versuchen wollte meinen Abschluss zu machen, gefiel ihm in Hinblick auf meine Krankheit nicht. Er versprach mir dennoch mich eng zu begleiten und sein Möglichstes für mich zu tun.

Anschließend war ich wieder zur Schule gefahren, um meinem Volleyballteam die Hiobsbotschaft zu überbringen, dass ich aus dem Club austreten würde. Natürlich machte es keinen gravierenden Unterschied, da mein Abgang von der Oberschule ohnehin bevorstand. Allerdings hatte ich meinem Team erst kurz vorher versprochen, bis zum Ende ihre Kapitänin zu bleiben und den Übergangsprozess zu begleiten.
Ich wartete in der Turnhalle bis endlich nach und nach die anderen eintrudelten. Als alle da waren räusperte ich mich. „Also... wie ihr sehen könnt, habe ich keine Sportsachen an..." Ich biss mir auf die Unterlippe und seufzte. „Ich weiß, ich habe euch versprochen bis zum Abschluss zu bleiben, aber ehrlich gesagt fordert mich das Lernen mehr, als ich erwartet hatte...Vor allem die parallele Vorbereitung für die Uniaufnahmeprüfungen raubt mir unheimlich viel Zeit." Ich hielt inne und sah in die enttäuschten und teils wütenden Gesichter. Ich hätte ihnen einfach die Wahrheit sagen können, um mir selbst die Wut und Enttäuschung des Teams zu ersparen und das Leben leichter zu machen. Aber ich ertrug lieber ihren Unmut, als mich ihrem Mitleid auszusetzen und allen von meiner Krankheit zu erzählen. „Ich übergebe den Staffelstab somit heute an Kobayashi und werde mich aus der aktiven Teilnahme des Clubs zurückziehen." Ich hielt erneut kurz inne und las ihnen die Empörung aus den Gesichtern ab. Aber ehe sie reagieren konnten, sprach ich weiter. „Wenn ihr möchtet, stehe ich euch weiterhin ab und zu beratend zur Verfügung..."
Unser Trainer kam herein, sah zuerst das Team und dann mich an. Ich hatte ihn bereits vorher über meinen Entschluss informiert und ihn gebeten mir vor dem Training etwas Zeit einzuräumen.
„Ich wollte dich nicht unterbrechen. Bitte, fahre fort."
Ich setzte ein künstliches Lächeln auf. „Nein, schon gut Sensei, ich habe alles gesagt." Ich verbeugte mich leicht vor ihm, warf dem Team noch einen letzten Blick zu und verließ dann eilig die Sporthalle. Vor der Tür blieb ich stehen, blinzelte ein paarmal und atmete tief durch. Doch die Tränen suchten sich immer wieder einen Weg in meine Augen, wie so oft in letzter Zeit. Der Abschied war schwerer für mich als erwartet.
Ich gehörte immer schon zu den unscheinbaren Mädchen der Schule, in der Regel beachtete man mich kaum. Nur im Volleyball war ich wirklich gut gewesen, ich erntete bereits in der ersten Klasse der Oberschule viel Anerkennung und Lob für mein Talent und ergatterte einen der Stammplätze. Das Team kam Freunden immer am nächsten, obwohl ich auch ihnen nie wirklich so nah stand wie Freunde es wohl normalerweise tun. Sie zu verlassen und nicht mehr Volleyball spielen zu dürfen, war das Schlimmste für mich.
Ich stand eine ganze Weile leise heulend vor der Tür zur Sporthalle und die eisige Kälte kroch nach und nach immer tiefer in mich hinein. Ich atmete tief durch und fuhr mir mit den kalten Fingern über die Augen. Dann setzte ich mich endlich in Bewegung und machte mich auf den Weg nach Hause. Ich hielt noch kurz an einem Supermarkt und kaufte ein paar Sachen ein. Mittlerweile war mein Körper so eisig, dass es in den Fingern schmerzte die Tüte zu tragen. Zitternd und unsicher auf den Beinen bog ich nach einer halben Ewigkeit in meine Straße ein. Ich seufzte erleichtert und bemerkte nicht, wie einer der Plastikhenkel der Tüte riss. Mir rutschte die Tüte aus der rechten Hand und der Inhalt verteilte sich auf dem Bürgersteig. Ich schloss einen kurzen Moment die Augen und ballte die Hände zu Fäusten, während ich zitternd in der Kälte stand, inmitten meiner zu Boden gefallenen Einkäufe.
„Hey, alles okay?" Eine männliche Stimme holte mich zurück in die Realität, sie kam mir irgendwie bekannt vor und als ich die Augen aufschlug, stand kein anderer als mein Klassenkamerad und der Kapitän des männlichen Volleyballteams meiner Schule vor mir. „Kuroo..." murmelte ich leise. Er setze sein schiefes Grinsen auf. „Hey Kätzchen." Schon seit der ersten Klasse auf der Oberschule nannte er mich so. Er hatte mir den Namen verpasst, nachdem er mich einmal beim Training gesehen hatte. Anschließend war er zu mir gekommen. „Du passt ganz hervorragend auf die Nekoma." Ich hatte ihn verständnislos angesehen. „Deine Bewegungen gleichen auch der einer Katze." Ich hatte ihn weiterhin nur verwirrt angesehen, doch er war mit einem Grinsen auf dem Gesicht verschwunden, ehe ich reagieren konnte. Am darauffolgenden Morgen begrüßte er mich in der Klasse mit „Kätzchen" und hatte seitdem nicht wieder damit aufgehört. Wir hatten nie viel miteinander gesprochen. Erst im dritten Jahr wurde der Kontakt etwas mehr, dem Umstand geschuldet, dass wir beide die Kapitäne der Volleyballteams waren.

Kuroo ging in die Hocke und fing an meine Einkäufe einzusammeln. Ich beeilte mich, ihm zu helfen. „Was machst du hier?" fragte ich, während ich ein paar Teile des Einkaufs in meiner Schultasche verstaute. Ich richtete mich auf und sah den Schwarzhaarigen an. „Ich war bei Inuoka. Er ist krank und ich habe ihm seine Hausaufgaben vorbeigebracht." Ein Schmunzeln schlich sich auf meine Lippen. „Ganz der besorgte Kapitän." Kuroo zuckte mit den Schultern. „Lev hat sich geweigert den Umweg bei dem Wetter zu machen." Er reichte mir meine restlichen Einkäufe und ich versuchte sie in meinem Arm zu stapeln. Ein Apfel geriet direkt wieder ins Rollen und fiel zu Boden. Ich seufzte. „Könntest du vielleicht? Ich schätze mir fällt sonst alles wieder runter." Kuroo zog einen Mundwinkel nach oben und bedachte mich mit einem Grinsen. „Klar." Er hob das Fallobst auf und nahm mir noch ein paar andere Sachen aus dem Arm. „Ich helfe dir. Du wohnst doch hier in der Nähe?" Ich zog eine Augenbraue hoch. „Woher weißt du das?" Der Schwarzhaarige zuckte erneut mit den Schultern. „Inuoka hat es mal erwähnt."
„Verstehe." Ich setzte mich in Bewegung und Kuroo folgte mir. Wir gingen schweigend die Straße hinunter. Vor einem der riesigen Mehrfamilienhäuser blieb ich stehen und sah Kuroo unschlüssig an. Er sah mich abwartend an. „Du überlegst doch nicht ernsthaft die Sachen allein hochzutragen?"
Ich seufzte, verschob die Einkäufe auf meinem Arm, so dass mein rechter Arm frei wurde und kramte nach meinem Schlüssel. Ich schloss die Tür auf, stemmte mich mit der Hüfte dagegen und hielt sie für den Schwarzhaarigen auf. „Hier fehlt definitiv ein Aufzug," kommentierte er den Aufstieg in den vierten Stock, während er leichtfüßig neben mir her tapste. Ich blieb schwer atmend vor meiner Wohnungstür stehen und lehnte mich gegen die Wand. „Stimmt," presste ich zwischen zwei Atemzügen hervor. Kuroo musterte mich aufmerksam mit seinen braunen Augen. Ich schloss die Wohnungstür auf, schlüpfte mühsam aus meinen Schuhen und begab mich direkt in die kleine Küche, um die Einkäufe dort abzuladen. Ich ließ sie auf die Arbeitsplatte fallen und strich mir ein paar Haarsträhnen, die sich aus meinem Zopf gelöst hatten, aus dem Gesicht, während der Schwarzhaarige ebenfalls in die Küche kam. Ich lächelte zaghaft. „Danke." Ein freches Grinsen legte sich auf sein Gesicht. „Du könntest mir zum Dank einen Tee anbieten." Ich drehte mich mit dem Rücken zur Arbeitsfläche und stützte mich mit beiden Händen an der Kante ab, während ich Kuroo musterte. Er fing meinen Blick ein und fesselte mich mit seinen haselnussfarbigen Augen. Bevor ich mich in seinem Blick verlieren konnte, blinzelte ich einmal und räusperte mich. „Okay, meinetwegen...ich muss nur erst die Einkäufe wegräumen. Warte einfach nebenan." Zu meiner Überraschung gehorchte der Schwarzhaarige und ging ins Nebenzimmer. Ich schlüpfte aus meiner Jacke und legte sie auf der Arbeitsfläche ab. Dann setzte ich Wasser auf, bereitete zwei Teetassen vor und räumte die Einkäufe ein, während ich darauf wartete, dass das Wasser anfing zu kochen. Ich füllte die Teetassen, trug sie ins Nebenzimmer und stellte sie auf dem kleinen Tisch ab. Der Schwarzhaarige stand vor meinem Bücherregal und musterte den Inhalt. Mein Blick fiel auf die Unterlagen aus der Klinik, die noch offen auf dem Tisch lagen. Ich räumte sie hastig zusammen und steckte sie zwischen ein paar Schulsachen, die dort ebenfalls herumlagen. Kuroo schlenderte zu mir herüber und ließ sich auf einem der Stühle fallen. „Wohnst du hier alleine?" Ich setzte mich ebenfalls und sah mich in dem Zimmer um, welches mir sowohl als Wohnzimmer wie auch als Arbeits- und Schlafzimmer diente, da es der einzige Raum neben der Küche und dem Bad war, der zur Wohnung gehörte. „Gott sei Dank. Man stelle sich vor ich müsste mir das kleine Paradies hier teilen." Der Schwarzhaarige verzog keine Miene und sah mich ernst an. „Wo sind deine Eltern?" Ich senkte den Blick auf den Tisch und rieb mir den Nacken. Bisher hatte ich mit keinem meiner Mitschüler je über meine Situation gesprochen. Zum großen Teil lag es daran, dass bis zu dem Moment nie jemand gefragt hatte, aber selbst, wenn, hätte ich es vermutlich nicht erzählt. Ich wollte ihr Mitleid nicht.
„Sie sind tot," sagte ich schließlich, den Blick weiterhin auf einen Punkt auf dem Tisch gerichtet.
„Das tut mir leid."
Ich hob den Blick und sah direkt in die braunen Augen des Volleyballspielers und natürlich blickten sie mir erfüllt von Mitleid entgegen. Ich zuckte müde mit den Schultern. „Es ist schon Jahre her, es ist okay."
„Nur weil etwas ewig her ist, ist es nicht automatisch okay." Ich betrachte den ernst dreinblickenden Jungen und ein trauriges Lächeln huschte über mein Gesicht. „Das stimmt, aber man gewöhnt sich daran." Ich legte meine Hände um die warme Teetasse und klammerte mich daran fest. Kuroo stützte sich mit seinem linken Ellenbogen auf dem Tisch ab und musterte mich weiterhin. „Und warum lebst du alleine?"
Ich seufzte. „Die Kurzfassung: meine Tante bekam das Sorgerecht, hat sich in der Mutterrolle nie richtig wiedergefunden. Vor etwa zwei Jahren bekam sie ein so gutes Jobangebot, das sie nicht ausschlagen konnte, also mietete sie mir diese Wohnung und verschwand. Ich habe eine Ewigkeit nichts mehr von ihr gehört, wenn ich für irgendwas ihre Unterschrift brauche, wende ich mich an ihren Anwalt hier in Tokio. Aber sie zahlt weiterhin pünktlich die Miete also schätze ich, dass es ihr gut geht." Ich schloss für einen Moment die Augen, ehe ich mich wieder dem bohrenden Blick des Schwarzhaarigen stellte. Kuroo hob die Tasse zu seinem Mund und trank einen Schluck. „Du bist es nicht gewohnt darüber zu sprechen," stellte er treffend fest und stellte die Tasse zurück auf den Tisch. Ich schüttelte leicht den Kopf. „Nein, für gewöhnlich interessieren sich Menschen nicht so genau für mich." Daraufhin schwieg der Schwarzhaarige. Ich nippte an meinem Tee, stellte die leere Tasse schließlich auf dem Tisch ab und rieb mir mit der rechten Hand die Augen. „Ich will wirklich nicht unhöflich sein," begann ich und sah zu Kuroo hinüber. „Aber ich bin ziemlich müde und muss noch meine Hausaufgaben machen..." Kuroo zog seine Augenbrauen hoch und musterte mich. Mir wurde warm und ich lief unter seinem intensiven Blick rot an.
„Okay," sagte er schließlich und trank seine Tasse leer, ehe er sich erhob. Er schlüpfte in seine Jacke und ging Richtung Tür. Dort zog er seine Schuhe an und musterte mich noch einmal eingehend. „Du siehst blass aus, du solltest dich wirklich ausruhen. Nicht, dass du krank wirst." Ich nickte und versuchte ein Lächeln. „Mal etwas mehr Schlaf, dann geht's morgen wieder." Der Schwarzhaarige nickte ebenfalls, öffnete die Tür und trat ins Treppenhaus. Ich schaltete das Licht im Flur ein. „Bis morgen," verabschiedete ich mich. Kuroo hob die Hand zum Abschied. „Bis morgen Kätzchen." Er drehte sich um und ging zur Treppe, doch ehe er die erste Stufe betrat, warf er mir noch einen besorgten Blick zu. „Ruh dich aus," sagte er ernst. Ich verdrehte die Augen aber ein Lächeln legte sich auf meine Lippen. „Jawohl, Sir." Ich schloss die Tür, ehe der Schwarzhaarige noch etwas erwidern konnte.

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Am Freitag stand ich früh morgens vor der Klinik und sah an der Fassade hinauf. Es war ein modernes Gebäude, doch in den kalten Wintertagen sah alles grau in grau aus. Ich seufzte, senkte dann den Blick und ging durch die große Automatiktür hinein. Ich folgte den Pfeilen in Dr. Yoshidas Abteilung. An der Anmeldung bekam ich einen Haufen Formulare, die ich zunächst alle ausfüllen musste. Als ich gerade fertig war, kam Dr. Yoshida um die Ecke und lief direkt auf mich zu. „Ah, schön. Du bist schon da. Dann können wir ja pünktlich loslegen." Bereits beim letzten Termin hatte er aufgehört mich zu Siezen.
Ich lächelte ihn zaghaft an. „Guten Morgen, Dr. Yoshida." Der Arzt streckte seine Hand aus. „Die Unterlagen kannst du mir direkt geben." Ich nickte und reichte ihm sämtliche Formulare, sowie einen Brief des Anwalts meiner Tante. Ich folgte Dr. Yoshida durch die Gänge, bis er mir schließlich die Tür eines Behandlungszimmers aufhielt. „Das Zimmer ist für die nächsten Stunden deins. Wir werden hier die Punktion durchführen und anschließend wirst du zur Beobachtung noch etwas hierbleiben." Ich nickte. „Okay."
„Ich kontrolliere kurz die Formulare und dann schicke ich dir eine Schwester, die dir gleich beim Umziehen hilft und ich auf den Eingriff vorbereitet." Ich nickte erneut und setzte mich auf einen der Stühle. Dr. Yoshida riss den Briefumschlag auf und las sich den Brief durch. Als er geendet hatte nickte er zufrieden und sah mich an. „In Ordnung, das ist nicht die Lösung, die ich mir für dich gewünscht habe, aber mit dieser Erklärung kann ich den Eingriff durchführen." Ich nickte erneut. Der Arzt warf mir einen mitleidigen Blick zu, durchblätterte schnell die anderen Formulare und ging dann zur Tür. „Bis gleich." Ich lehnte mich auf dem Stuhl zurück und sah direkt in das helle Licht der Deckenlampe hinein, versuchte meine Tränen und das mulmige Gefühl in mir zu unterdrücken. Als die Tür sich erneut öffnete senkte ich den Blick und blinzelte die tanzenden Punkte fort. Eine junge Frau war eingetreten, hielt ein OP-Hemd in den Armen. Sie reichte es mir und während ich mich umzog, erklärte sie mir noch einmal grob den Eingriff. Als ich das knappe Hemd anhatte, legte ich mich auf die Liege. Die Schwester deckte mich mit einem dünnen Tuch zu und lächelte mich an. „So schlimm ist es nicht, das wird schon."
„Okay." Meine Stimme war hauchdünn und ich konnte das Zittern kaum noch verbergen. Ich gab es selten zu, doch in diesem Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher, als einen Menschen an meiner Seite zu haben, dem ich vertrauen konnte. Der für mich da war. Der meine Hand hielt.
Ich blinzelte schnell, als die Tür aufging und Dr. Yoshida wieder eintrat. „Also dann, bist du bereit?" Ich nickte. „Schätze schon." Der Arzt nickte ebenfalls, trat zu mir an die Liege. „Bitte leg dich auf die linke Seite und winkle deine Beine an." Ich folgte seinen Anweisungen. „Ich werde dir zuerst die örtliche Betäubung verabreichen, dann warten wir ein paar Minuten, bevor es richtig losgeht."
„Okay," hauchte ich erneut und schloss kurz die Augen, als Dr. Yoshida mir mit einer Spritze das Betäubungsmittel ins Becken setzte. Nur wage bekam ich mit, wie weitere Personen den Raum betraten. Die junge Schwester hatte auf einem Stuhl am Kopfende Platz genommen, beobachtete mich aufmerksam und erklärte mir, wer noch in dazu gekommen war. Dr. Yoshida unterhielt sich leise mit einer anderen weiblichen Person, vermutlich seiner Assistenzärztinnen, die die Schwester gerade erwähnt hatte. Ich fing leicht an zu zittern. Ich spürte, wie die Krankenschwester eine Hand auf meinen Arm legte. „Schon gut. Gleich geht es los und dann ist es auch schon vorbei." Sie drückte einmal sanft mit ihrer Hand in meinen Arm. „Wie wäre es, wenn du mir in der Zwischenzeit ein bisschen von dir erzählst?"
Ich schloss die Augen und seufzte. „Das wird ein kurzes Gespräch." Die junge Frau lachte. „Ach was. Also, du gehst noch zur Schule?"
„Ich bin im letzten Jahr der Oberschule."
„Dann machst du bald deinen Abschluss?"
Ich verzog den Mund und sah zu ihr auf. „Wenn alles klappt..."
Dr. Yoshida kam mit seinem Stuhl zu uns rüber gerollt, unterbrach uns und suchte meinen Blick. „Die Betäubung sollte jetzt wirken..."
„Sollte?" fragte ich skeptisch nach. Der Arzt lächelte breit. „Ich bin mir ziemlich sicher." Ich nickte leicht. „Okay..."
Dr. Yoshida stand auf, schob den Stuhl beiseite und trat an die Liege heran. „Möchtest du die Punktionsnadel vorher sehen?"
„Auf gar keinen Fall!" antwortete ich panisch und kniff die Augen zu. Diesmal war es die Krankenschwester, die ein leises Lachen nicht zurückhalten konnte. „Na gut. Dann beginne ich jetzt und führe die Nadel ein."
Ich merkte zwar, dass sich der Arzt an meinem Körper zu schaffen machte, aber ich spürte nicht wirklich, wie die Nadel meine Haut durchdrang. Erst als er auf den harten Knochen traf durchzuckte mich ein unangenehmes Gefühl und ich schnappte nach Luft. Die junge Schwester griff nach meiner Hand und ich drückte fest zu. „Erzähl weiter," sagte sie aufmunternd. „Du machst bald deinen Abschluss?"
„Ja..." hauchte ich.
„Und dann? Was möchtest du danach machen."
„Ich würde gerne studieren, ich lerne schon eine ganze Weile für die Aufnahmeprüfungen."
Sie erwiderte meinen Händedruck sanft. „Dann weiß du sicherlich auch schon was du studieren möchtest?"
„Architektur," presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Oh wow! Dann kannst du bestimmt auch gut zeichnen?"
Ich drückte ihre Hand noch ein wenig fester. „Es geht, denke ich."
„Okay, das war's." Dr. Yoshida klatschte zufrieden in die Hände und begann einen leichten Kompressionsverband anzulegen. „Das verlief doch wunderbar." Er sah mich lächelnd an. „Alles in Ordnung?" Ich verzog das Gesicht. „Ich denke schon..." Dr. Yoshida nickte zufrieden. „Ich lass dich in den fähigen Händen von Schwester Kamiko zurück und komme später noch mal, um nach dir zu sehen." Er zog das als Decke dienende Tuch wieder über mich und verließ dann zusammen mit seiner Assistenzärztin den Raum.

Ich blieb noch für weitere vier Stunden in der Klinik. Normalerweise beobachteten sie die Patienten nach der Punktion nicht so lange, aber mein Arzt hatte darauf bestanden, da ich allein war. Als ich endlich gehen durfte, begleitete er mich persönlich zum Taxi. „Und denk dran, keine körperliche Anstrengung heute, besser das ganze Wochenende. Am besten du legst dich einfach direkt hin. Vermutlich wirst du leichte Schmerzen haben, wie bei einer Prellung. Das ist ganz normal. Aber wenn was sein sollte, du weißt ja, wie du mich erreichst."
Ich nickte. „Danke..."
Er bedachte mich mit einem letzten besorgten Blick, ehe er die Autotür zuwarf und zurück ins Gebäude ging. An meiner Wohnung angekommen quälte ich mich die endlosen Treppenstufen hinauf und ließ mich direkt an der geschlossenen Wohnungstür zu Boden gleiten. Tränen standen mir in den Augen. Die Betäubung hatte nach und nach ihre Wirkung verloren und der Schmerz hatte eingesetzt. Ich blieb einen Augenblick so sitzen und ließ den Tränen freien Lauf, ehe ich mir umständlich die Schuhe auszog und zu meiner Schlafcouch hinüberrobbte. Ich verbrachte die bis dahin schlimmste Nacht meines Lebens, in der ich immer wieder schweißgebadet vor Schmerz wach wurde. Es fühlte sich definitiv nach mehr an als einer einfachen Prellung. Mitten in der Nacht wechselte ich von der Couch ins Bad, übergab mich in die Toilette und ließ meinen Kopf anschließend erschöpft auf den Badvorleger sinken. Einmal mehr überkam mich das Gefühl, dass es im Leben nicht gerecht zuging und wünschte mir, es würde einfach enden. 

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