ღ Prolog ღ
22.08.2017
Erste, bittersüße Geigenklänge ertönten.
Ich konnte geradezu spüren, wie sie tief in meine Knochen sickerten und mein Herz zum Rasen brachten.
Die Scheinwerfer stachen unangenehm in meinen Augen, doch ich ignorierte sie gekonnt und hielt meinen Blick unverwandt auf das mucksmäuschenstille Publikum gerichtet, genauso, wie es mir mein Tanzlehrer Nicolas Schneider all die Jahre eingetrichtert hatte.
Mein erster Schritt.
Das Kinn stolz erhoben trat ich vor und bewegte zeitgleich meine Arme in einer flüssigen, wellenartigen Bewegung. Schon spürte ich, wie meine Hände von der immer schneller werdenden Melodie getragen wurde und gab mich ihr mit einem wohligen Seufzen vollkommen hin.
Ein weiterer Schritt und noch einer.
Als sich alle Augen bewundernd auf mich richteten, umspielte ein seeliges Lächeln meine Lippen und ich vollführte im Einklang zur wunderschönen Musik eine perfekte Figur nach der anderen.
Für diesen Augenblick hatte ich immer gelebt - Und immer gekämpft.
Andere Tänzer strömten neben mir auf die Bühne, doch ich blendete sie aus. Wunderschöne Tänzer in wunderschönen Kostümen in einem wunderschönen Saal und ich durfte endlich einer von ihnen sein.
Zusammen mit den anderen erhob ich mich gleichzeitig auf die Zehenspitzen und bewegte mich elegant wie eine Puppe an den Fäden ihres Spielers zur Mitte der Bühne. Nun war ich wieder der Mittelpunkt.
Sprünge, Schritte, Drehungen.
Die Musik wurde immer schneller, peitschte durch meine Adern und ließ mich zittern.
Nie hatte ich mich lebendiger gefühlt.
Das hier, das hier war mein lebendig gewordener Traum.
Zaghafter Applaus ertönte, als ich einen besonders schwierigen Part der Choreografie absolvierte und zusammen mit allen anderen Tänzern einen weiteren Sprung vollführte. Das dumpfe Klatschen unserer Füße wirkte wie ein einziger Trommelschlag - Nein, wie ein Herzschlag.
Unbeeindruckt erhob ich mich wieder auf meine Zehenspitzen, drehte mich und lächelte überlegen, obwohl kalter Schweiß meinen Rücken hinab rann und meine Nerven vor Anspannung bis zum Zerreißen gespannt waren.
Mein weißes Kostüm flatterte elfenleicht um meinen Körper, schmeichelte jeder einzelnen Bewegung und plötzlich existierte nichts mehr außer der nächsten Figur und der wunderschönen, perlenden Hintergrundmusik, die wie für mich geschaffen war.
Hierfür war ich geboren worden. Das hier war meine Bestimmung.
Mein Atem ging flacher, keuchender. Ich gab alles.
Wieder ertönte Applaus, dieses Mal schon kräftiger.
Sprünge, Schritte, Drehungen.
Die Musik wurde dramatischer, erreichte ihren Höhepunkt.
Ich sprang in die Luft, riss mein Bein nach oben, nur um eine Sekunde später wieder auf dem Boden zu landen und mich auf meinen Zehenspitzen zu drehen, während ich meine Arme zu einem makellos geformten Bogen über meinen stolz erhobenen Kopf hielt.
Wieder war ich der Mittelpunkt des Tanzes.
Ein Lächeln breitete sich auf meinen ausgetrockneten Lippen aus, als ich die gebannten Blicke der Zuschauer registrierte. Ihre Augen leuchteten fahl im Dämmerlicht und für einen Wimpernschlag lang fragte ich mich, was sie wohl sahen.
Wie musste ich aus ihrem Blickwinkel wirken? Ob sie erkannten, wie sehr ich hierfür geschuftet hatte? Ob sie wussten, dass das hier mein Traum war und nichts als mein Traum?
Bevor ich diesen Gedankengang zu Ende führen konnte, erstarb mein Lächeln.
Ein stechender Schmerz fuhr rasend schnell durch mein Bein und bohrte sich bis tief in meine Wirbelsäule. Ich stieß ein Keuchen aus und zuckte zusammen, als hätte mich jemand geschlagen. Während ich herumwirbelte, glichen die Scheinwerfer plötzlich flackernden Neonröhren. Meine Sicht verschwamm so plötzlich, als hätte mir jemand einen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf ausgeleert, doch dann blinzelte ich einige Male und tanzte weiter.
Sprünge, Schritte, Drehungen.
Ich konnte das schaffen, wenn ich nur stark genug kämpfte! Ich hatte jahrelang dafür gekämpft, was wären da denn noch ein paar Minuten? Tanzen war Kämpfen. Blutblasen, Zerrungen, Muskelfaserrisse - All das hatte ich durchgemacht und noch viel mehr. Schmerzen würden mich nicht daran hindern, mein Ziel zu erreichen. Nicht heute.
Die Musik wurde lauter und leiser. Lauter. Leiser.
Irgendetwas stimmte nicht ...
Mein Herz schlug dröhnend schnell und ich konnte die Angst, die sich durch meinen Magen fraß, nicht länger ignorieren. Tränen schossen in meine Augen, als sich die anderen Tänzer in die Schatten zurückzogen.
Das Publikum hielt den Atem an.
Nackter Schmerz explodierte in mir, doch ich lächelte noch immer brav und tanzte unbeirrt weiter. Tanzte, als wäre es das Einzige, was mich noch am Leben hielte. Tanzte, als wäre es das Letzte, was ich jemals tun sollte.
Ich verharrte keuchend in meiner Schlussposition.
Die Musik erlosch zusammen mit den Scheinwerfern und mit einem Mal war ich froh um die Dunkelheit, denn so konnte zumindest niemand die Tränen in meinen Augen erkennen.
Einen Moment lang herrschte tiefste Stille, dann brandete der ohrenbetäubende Applaus los, der die Bühne unter meinen Füßen zum Beben und die Luft zum Knistern brachte.
Die Menschenmasse erhob sich, blickte mit strahlenden Augen zu mir hinauf und da war sie plötzlich, die Antwort. Plötzlich wusste ich genau, was sie in mir sahen: Eine scheinbar perfekte Balletttänzerin, makellos und unbeschwert wie eine dieser Figuren aus Schneekugeln. Ein Mädchen, das sich jahrelang quälte, nur um einige wenige, kostbare Minuten zu tanzen und es so leicht wirken zu lassen wie ein Spiel.
Aber niemand von ihnen wusste, wie ich sehr ich hierfür gelitten hatte. Sie sahen nicht die Schmerzen, die durch mich hindurchfegten, sie sahen nicht die blutigen Blasen an meine Füßen und sie sahen auch nicht, dass ich so viel mehr für das Tanzen gegeben hatte, als es mir jemals wieder zurückgezahlt werden könnte.
Doch das machte mir heute nichts aus, denn das war schließlich mein Traum. Und so lächelte ich nur und verbeugte mich elegant.
Mein wahr gewordener Traum ...
Keuchend riss ich meine verklebten Augen auf, als mich eine neue Welle des Schmerzes auf den harten Boden der Realität katapultierte.
Von irgendwoher drangen leise, verzerrte Stimmen in mein Ohr, vermischt mit einem eintönigen Piepen.
Schmerzen. Nichts als Schmerzen.
Ich wollte schreien, wollte weinen, doch da war nichts außer diesen furchtbaren Qualen und der bitteren Erkenntnis, dass alles nur ein dummer, dummer Traum gewesen war.
Die Geräusche um mich herum wurden wieder leiser, bis sie beinahe den sanften Klängen einer Geige glichen.
Eine seltsame Schwere senkte sich über meinen Körper, doch anstatt mich weiter zu wehren, hieß ich sie nun mit offenen Armen willkommen.
Rasselnd atmete ich aus und ignorierte dabei die kalte Maske, die sich wie eine Hand um meinen Mund geschlossen hatte.
Das hier, das war die Realität.
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