ღ Kapitel 9 - Beinahe ღ

16.10.2017

Nur wenige Stunden darauf wanderte ich zusammen mit dem Rest meiner Klasse über den endlos langen Strand.

Während die meisten unserem Führer, der irgendetwas über das Watt erzählte, lauschten, weil wir am Ende dieses Klassenfahrt ein Referat halten sollten, entfernte ich mich immer weiter von der Gruppe.

Ehrlich gesagt war ich einfach zu stolz, um zuzugeben, dass es mir ziemlich schwer fiel, durch den nassen Sand zu stiefeln. Jeder einzelne Schritt zog schmerzhaft in meinen Knien und ich hätte schwören können, dass Jenna hin und wieder mit einem gehässigen Grinsen über ihre Schultern blickte, nur um sich dann wieder an David zu wenden und über mich lästern zu können.

Gerade, als ich die Hoffnung aufgegeben hatte, blieben die anderen stehen und scharrten sich um irgendwelche Muscheln, sodass ich endlich aufholen konnte.

Als ich die Gruppe endlich erreichte, blickte Elias auf. Seine eisblauen Augen richteten sich entschuldigend auf mich, dann wandte er sich ab und unterhielt sich mit Tim. Mein Freund hatte ganz genau gesehen, dass ich zurückgeblieben war und nichts dagegen unternommen. Und jetzt wollte er sich nicht einmal mehr mit mir unterhalten?!

Mit einem genervten Kopfschütteln drehte ich mich um und wollte zu Grace gehen, als ich gegen jemanden knallte. Fluchend taumelte ich einen Schritt zurück und fuhr mir übers Gesicht.

"Pass das nächste Mal besser auf, Ballerina", meinte Kai schlicht, bevor er mich vorsichtig zur Seite schob, um zu Jenna und David zu gelangen. Für einen winzigen Augenblick musterte er mich mit unergründlicher Miene.

Eine bissige Bemerkung unterdrückend, drehte ich ihm meinen Rücken zu und wollte meinen Weg fortsetzen, doch seine Worte ließen mich innehalten.

Kai sprach so leise, dass es niemand außer mir zu hören schien und im Nachhinein fragte ich mich, ob er es überhaupt laut hatte sagen wollen: "Wann merkst du endlich, dass er nicht zu dir passt?"

Mit geballten Fäusten wirbelte ich zu ihm herum. "Wie bitte?", zischte ich und konnte es nicht glauben, dass ausgerechnet Kai Porter behauptete, mein Freund würde nicht zu mir passen. "Was weißt du denn schon davon?! Du bist ein arrogantes, egoistisches Arschloch, das mit seiner abscheulichen Art alles von sich stößt und nie auch nur eine Freundin hatte! Was weißt du denn bitte schon von der Liebe?!" Plötzlich war ich froh, dass der Rest unserer Klasse langsam weiterzog und niemand etwas von unserer Auseinandersetzung mitbekam, denn kaum hatten die Worte meinen Mund verlassen, bereute ich sie auch schon.

Kais Blick schnappte hoch und verdüsterte sich merklich. Sein Schatten fiel auf direkt auf mich, als er einen Schritt näher kam und mich unnachgiebig musterte. Jede Faser seines Körpers schien angespannt zu sein, als er sich schließlich abrupt umwandte und Jenna und David hinterher marschierte.

Fassungslos schaute ich ihm nach.

Es war das erste Mal, dass ich Kai Porter sprachlos erlebt hatte.

Am nächsten Tag stand das Zelten und die Nachtwanderung an und so kam es, dass wir schon am frühen Morgen aufbrachen, um zum Zeltplatz zu kommen und vielleicht sogar zu schwimmen, wenn es nicht allzu kalt wäre.

Auch nachdem wir die Zelte aufgebaut hatten und die Sonne schon hoch über dem Meer stand, war es für mich eindeutig zu kalt, auch nur in die Nähe des Wassers zu kommen.

Elias ließ sich jedoch nicht davon abhalten und so schaute ich ihm hinterher, während er durch die Wellen pflügte und dachte angestrengt drüber nach, was in den letzten Tagen geschehen war.

Zwischen uns herrschte noch immer Spannung, doch gestern Abend hatte er mich tatsächlich auf meinem Zimmer besucht, um sich zu entschuldigen, obwohl Herr Müller jedem mit extra schlimmen Mathehausaufgaben drohte, der sich im Zimmer des anderen Geschlechts blicken ließ. Und da Elias dafür bekannt war, niemals gegen eine Regel zu verstoßen, musste es ihm mit der Entschuldigung wirklich ernst gewesen sein.

Grace stellte sich neben mir und rieb sich ihre Hände. "Es ist Oktober und die Idioten gehen im Meer schwimmen. Also wenn sie sich nicht erkälten, weiß ich auch nicht ...."

Ich rümpfte meine Nase. "Sollen sie doch, ist ja nicht unser Problem, solange sie uns nicht anstecken."

Stirnrunzelnd beobachtete ich Elias, der gerade Kai auslachte, weil dieser beim Wettschwimmen nicht mithalten konnte. Irgendwie war das unfair. Jeder wusste, dass Elias sogar Meisterschaften schwamm, während Kai ... keine Ahnung was machte. Um ehrlich zu sein, wusste ich nicht im Geringsten, was Kais Hobby sein könnte. Bisher hatte ich nie darüber nachgedacht. Vielleicht war es ja Fotografieren, immerhin hatten wir ihn gestern in diesem Museum gesehen ...

Grace schnipste mit ihren Fingern vor meinem Gesicht herum. "Hör auf, so zu starren", flüsterte sie und ein freches Funkeln stahl sich in ihre bläulichen Augen. "Kein Wunder, dass Elias so eifersüchtig ist."

Eine heiße Röte kroch meinem Hals hinauf. "Ich starre doch gar nicht", log ich ohne mit der Wimper zu zucken. "Ich ... beobachte doch nur, wie sich Porter blamiert."

"Er blamiert sich nicht, das weißt du genauso gut wie ich", erwiderte meine beste Freundin unbeeindruckt und fuhr sich durch ihre dunkelblonden Locken. "Natürlich kann er nicht mit Elias mithalten, immerhin trainiert der auch alle zwei Tage, aber dafür, dass er nicht denselben Trainingsstand hat, ist Kai ziemlich schnell."

"Kann schon sein", murmelte ich finster.

"Und schau dir Kai mal an. Ich wusste gar nicht, dass er so gut gebaut ist ..."

"Er ist ein Lauch", widersprach ich ihr hastig und wurde noch röter.

Grace zog skeptisch eine Augenbraue in die Höhe und lachte. "Ich weiß ja, dass du eine ziemlich miese Köchin bist, Aly, aber wir wissen beide, dass Kai nicht annähernd ein Lauch ist. Er hat zwar keinen Sixpack, aber es gibt wirklich Schlimmeres ..."

"Themawechsel, bitte. Mir wird schlecht."

"Na schön, wenn du meinst."

Dann schwiegen wir und ich erwischte mich dabei, wie ich Kais mühelose Bewegungen beobachtete. Es hatte etwas Magisches an sich, wie er durch die dunkelblauen Wellen pflügte und sich immer wieder durch seine dunklen, nassen Haaren fuhr, die ihm wirr in die Augen hingen.

Vorhin hatten diese Augen noch versucht, mich zu töten. Passte Elias wirklich so wenig zu mir, dass es sogar dem unsensiblen Porter aufgefallen war? Nachdenklich kaute ich auf meiner Unterlippe herum. Andererseits versuchte Kai ja alles, um mir eines auszuwischen, vielleicht wollte er mich einfach nur verunsichern ...

Grace grinste triumphierend. "Aly?"

Ich blinzelte einige Male. "Ja?", fragte ich geistesabwesend und dachte weiter über den Streit von vorhin nach.

"Du starrst schon wieder."

Nachdem wir uns den halben Nachmittag lang Nudeln auf erbärmlichen Gaskochern gekocht und in einer zwei Kilometer weit entfernten Jugendherberge Wasser geholt hatten, saßen wir am Abend am Lagerfeuer und warteten darauf, dass es so dunkel war, dass wir unsere Nachtwanderung starrten könnten.

Einige aus meiner Klasse, darunter natürlich auch Jenna und ihre beste Mitläuferin Nele, sangen lauthals irgendwelche Lieder, während Neles Freund Tim auf einer Gitarre klimperte, die er von einem Betreuer des Zeltplatzes geliehen bekommen hatte.

Ich saß fröstelnd zwischen Elias und Grace auf einem Baumstamm und starrte in die prasselnden, orangen Flammen, während über uns die ersten Sterne funkelten und die Sonne langsam aber sicher unterging.

"Ich bin schon seit Ewigkeiten nicht mehr im Meer schwimmen gewesen", erklärte Elias gerade und fuhr sich durch seine hellblonden Haare, die ausnahmsweise einmal nicht ordentlich nach hinten gegelt waren. "Aber mir ist heute mal wieder bewusst geworden, wie sehr ich es vermisst habe. Natürlich ist es kein Vergleich zum Schwimmen im Schwimmbad, aber es ist wesentlich herausfordernder mit den ganzen Strömungen und so, aber ich habe es ganz gut hinbekommen. Ich bin mir sicher, dass ich auch hier ein paar Rekorde aufstellen könnte, wenn ich ein wenig öfter trainieren würde, oder was meinst du, Alyssa? Ich finde, du solltest auch unbedingt noch einmal schwimmen gehen, bevor ..."

Ehrlich gesagt hörte ich ihm gar nicht mehr genau zu. Es langweilte mich, zum tausendsten Mal hören zu müssen, welche Schwimmerfolge Elias bereits abgesahnt hatte und welche er sich noch wünschte. Wenn ich Grace neben mir beobachtete, wie sie alle zwei Sekunden gähnte, wusste ich, dass es nicht nur mir so ging.

Irgendwann rückten Elias Gefasel und Jennas Gesang immer mehr in den Hintergrund. Stattdessen konzentrierte ich mich nur auf die Brandung und dem Wind, der an den Planen unserer Zelte zerrte.

Plötzlich fühlte ich mich um Jahre zurückversetzt.

Damals waren meine Eltern und ich zusammen mit Familie Porter in Schweden gewesen und hatten auch dort am Strand übernachtet. Ich konnte mich noch genau daran erinnern, wie wir ein Lagerfeuer gemacht hatten, um das sich alle verteilten, während wir irgendwelche peinlichen Geschichten erzählten.

Damals war sogar noch Katrin bei uns gewesen. Das war, bevor sie wegen ihrer Fotografie Schwanenberg verließ und um die ganze Welt zog - noch bevor Porters Vater zum Trinker mutierte und Kai selber ein unerträgliches Arschloch wurde.

Ich glaubte sogar, mich daran erinnern zu können, dass wir ziemlich viel zusammen gelacht haben. Kai und ich waren damals ziemlich unbeschwert gewesen, aber waren das Kinder nicht immer?

Grübelnd starrte ich in das flackernde Feuer. Einige Funken stoben in den dämmrigen Himmel und erloschen zischend.

Ich blinzelte einige Male und hob meinen Blick. Beinahe sofort blieb er an den dunkelbraunen Augen von Kai auf der anderen Seite des Lagerfeuers hängen. Im Schein der Flammen wirkten seine Augen wie geschmolzene Schokolade mit goldenen Schimmer, die mich ebenfalls stumm musterten. Nicht einmal, als David ihm irgendetwas ins Ohr flüsterte, löste Kai seinen Blick von mir.

Ein Schauer kroch über meinen Rücken und plötzlich war ich selber unfähig, auch nur für eine Sekunde lang wegzugucken. Röte stieg mir in die Wangen, doch ich konnte einfach nicht anders, als weiterhin in sein Gesicht zu blicken.

Es schien beinahe, als hätte Kai dieselben Gedanken wie ich.

Ob er sich auch gerade an den Schweden-Urlaub erinnerte? An damals, als zwischen uns beiden noch alles gut gewesen war? Bevor er zu einem Arschloch wurde und sich unser beider Leben komplett veränderte? Ich schluckte schwer. Ob Kai noch wusste, dass zwischen uns einmal mehr existiert hatte? Dieses zerbrechliche Band der Freundschaft?

Beinahe hätte ich all meine Fragen selber mit einem "Ja" beantwortet. Aber nur beinahe.

Immerhin war das hier Kai Porter. Niemand wusste, was in seinem Kopf vor sich ging.

Schon gar nicht ich.

ღ Hey! ღ

Wie geht es euch so?

Ich hoffe sehr, dass euch das Kapitel gefallen habt, wenn ja, würde ich mich extrem darüber freuen, wenn ihr kurz auf das Sternchen klicken würdet. :D

Frage an euch: In welchem Buch würdet ihr gerne leben?

Ich wünsche euch ein schönes Wochenende,

ღ Kathy ღ

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