Die Geschichte
Hannah
Schon beim Aufwachen hatte Hannah das Gefühl gehabt, dass heute etwas passieren würde.
Es war ein Tag wie jeder andere Sommertag. Mit einem Lächeln auf den Lippen verließ Hannah ihre Wohnung und machte sich auf den Weg zur Bahn. Der Himmel war wolkenlos und deutete an, dass heute wieder ein schöner, warmer Tag werden würde. Sie wollte den Tag nutzen und ein bisschen in der Innenstadt shoppen gehen.
Auf dem Weg zur Bahn kam sie an einem kleinen Blumenladen vorbei. Ihr Blick fiel auf die rosafarbenen Nelken. Nelken in jeglichen Farben waren Hannahs Lieblingsblumen. Eine Blume, die so viel ausdrücken konnte. Zart und zerbrechlich und dabei trotzdem bedeutend und schön. Auch ihre Mutter hatte Nelken geliebt. Am liebsten hatte sie rosafarbene gehabt, genau wie die in diesem Geschäft. Kurz huschte ein Schatten der Trauer über Hannahs Gesicht, doch dann erinnerte sie sich an ihr Versprechen und lächelte kurz darauf wieder. Kurzentschlossen betrat sie den Laden, um eine der Nelken zu kaufen.
Nachdem Hannah den Blumenladen verlassen hatte und zum Bahnhof gelaufen war, um den Zug noch zu erwischen, stand sie schließlich im Zugabteil und sah sich nach einem freien Platz um. Sie ging durch den Mittelgang und entdeckte schließlich einen Sitzplatz neben einem jungen Mann, der nichts um sich herum wahrzunehmen schien.
„Ist hier noch frei?", fragte sie lächelnd.
Der Mann wandte sich in ihre Richtung und schien sie tatsächlich erst jetzt zu bemerken. In seinen grünen Augen lag ein trauriger und zugleich wütender Ausdruck, der aber nicht ihr zu gelten schien. Sie fragte sich, was mit ihm los war.
Henry
Henry lehnte den Kopf gegen die Scheibe der fahrenden Bahn und sah den vorbeiziehenden Bäumen und Gebäuden zu. Er konnte es noch immer nicht glauben. Warum musste ausgerechnet ihm das immer und immer wieder passieren? Wie hatte es soweit kommen können? Wie hatte Annabelle ihm das antun können? Sie waren doch glücklich zusammen gewesen – hatte er zumindest gedacht.
Die Bilder prasselten immer wieder auf ihn ein. Er bekam sie einfach nicht aus seinem Kopf. Annabelle, der Footballer aus ihrem Sportstudium, die fehlenden Klamotten... Er ballte die Hände zu Fäusten. Warum war er nicht dageblieben und hatte diesem Kerl eine verpasst? Warum war er wie ein Feigling abgehauen? Die Wut breitete sich in ihm aus.
Warum musste ihn jede Frau, die er mochte, früher oder später betrügen? Er hatte echt ein Händchen für die falschen Frauen...
„Ist hier noch frei?"
Eine weibliche Stimme riss Henry aus seinen Gedanken und er drehte den Kopf in Richtung der Stimme. Eine junge Frau lächelte ihn fragend an. Sie hielt eine rosafarbene Blume in der Hand und sah ihm mit ihren strahlend blauen Augen direkt in seine.
Henry wusste nicht, was er erwidern sollte und nickte daher nur kurz.
„Dankeschön." Die junge Frau schenkte ihm ein weiteres Lächeln und setzte sich auf den freien Platz neben ihm, während er seinen Blick wieder auf die Welt außerhalb dieses Zuges richtete.
Er bemerkte jedoch, wie sie ihn von der Seite musterte.
„Entschuldigung, aber ist bei Ihnen alles in Ordnung?", fragte sie nach einer Weile plötzlich.
Verwirrt und überrascht sah er sie wieder an.
„Ja, alles bestens", erwiderte er knapp und wollte sich wieder abwenden. So hübsch sie auch mit ihren blonden Haaren, himmelblauen Augen und ihrer zarten Figur sein mochte, seine aktuelle Gefühlslage ging sie nicht das Geringste an.
„Das sieht aber nicht danach aus", fuhr sie fort und zog damit erneut seine Aufmerksamkeit auf sich.
„Ach ja? Es tut mir leid, aber ich wüsste nicht, was Sie das angeht", meinte er wütend. Was bildeten sich die Frauen ein? Was hatte er verbrochen, dass er erst betrogen und kurz darauf von der nächsten blöd von der Seite angemacht wurde?
„Da haben Sie recht, aber, wenn ich merke, dass es jemandem nicht gut geht, kann ich einfach nicht anders. Entschuldigen Sie bitte. Natürlich ist das Ihre Angelegenheit", antwortete sie und spielte mit der Blume in ihrer Hand. Henrys Verhalten schien sie etwas verunsichert zu haben und im nächsten Moment machte sich auch schon sein schlechtes Gewissen bemerkbar.
„Das war nicht so gemeint. Ich möchte nur nicht drüber reden", entschuldigte er sich.
Sie sah wieder auf und Henry bemerkte das Strahlen in ihren blauen Augen.
„Entschuldigung angenommen. Ich bin übrigens Hannah", erwiderte sie lächelnd.
„Henry."
„Freut mich dich kennenzulernen."
Die Zeit verging schnell – viel zu schnell. Hannah erwies sich als eine außergewöhnliche Gesprächspartnerin. Henry wusste, dass sie ihm ansah, wie es im ging, aber sie fragte nicht noch einmal nach. Sie hatte etwas an sich, was Henry zuvor noch nie gesehen hat. Sie schien das Leben zu nehmen, wie es kam und aus jedem Augenblick das Beste machen zu wollen. Als sie schließlich aussteigen musste, drehte sie sich nochmal zu ihm um.
„Die hier ist für dich", sagte sie und reichte ihm die Blume.
„Ähm, danke. Aber mit Blumen kann ich nicht wirklich was anfangen", meinte er.
„Das ist eine Nelke. Sie stehen für Freiheit, Glück und das Außergewöhnliche. Ich merke dir an, dass dich etwas beschäftigt und ich denke, du kannst gerade etwas Glück gut gebrauchen", erklärte die junge Frau und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln.
„Äh... okay... danke", stotterte er als Antwort und nahm die Nelke schließlich entgegen.
„Und falls du irgendwann doch mal drüber reden möchtest, dann ruf mich an." Hannah zog einen Stift aus ihrer Handtasche, nahm Henrys Hand und schrieb ihm ihre Nummer auf die Handfläche.
Danach stieg sie mit einem Lächeln aus.
Hannah
„Schön, dass du gekommen bist." Henry begrüßte sie mit einem Lächeln.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du dich so schnell meldest", erwiderte Hannah lachend. Erst gestern hatten die beiden sich kennengelernt und schon für heute hatten sie sich in einer Eisdiele verabredet. Normalerweise ging das nicht so schnell, aber Henry war anders als alle Männer, die sie bisher kennengelernt hatte.
„Tja, warum immer drei Tage warten? Das ist doch Schwachsinn", meinte er.
„Ja, da hast du recht."
„Wollen wir uns setzen?", fragte er und deutete auf einen der Tische, die draußen vor der Eisdiele standen.
„Klar", antwortete sie und die beiden setzten sich an einen der Zweiertische.
„Ich habe dir übrigens etwas mitgebracht. Ich schulde dir ja noch etwas." Mit den Worten griff Henry in die Innenseite seiner Sommerjacke und zog eine rote Nelke hervor.
Hannah musste anfangen zu lachen und sorgte so für ein verwirrtes Gesicht bei Henry.
„Du weißt, dass rot für Liebe und Leidenschaft steht?", klärte sie ihn auf.
„Oh, ähm... Ich fand die Farbe passt zu dir. Deswegen habe ich diese genommen", versuchte er seine Wahl zu erklären und wurde etwas rot vor Verlegenheit.
„Wenn das so ist, nehme ich das Geschenk natürlich sehr gerne an", lächelte sie und nahm die Nelke entgegen.
„Wisst ihr schon, was ihr bestellen möchtet?", unterbrach sie eine weibliche Stimme.
Hannah bemerkte, wie Henry erst zusammenzuckte und dann geschockt die Bedienung ansah.
„Annabelle?"
„Henry?" Jetzt schaute auch die junge Frau ihn verwundert an.
Die junge Frau strich sich nervös eine ihrer braunen Haarsträhnen hinters Ohr. Doch einige Sekunden später setzte sie wieder ein Lächeln auf und bedachte Henry mit einem arroganten Blick.
„Also, was wollt ihr bestellen?", wiederholte sie ihre Frage, jedoch deutlich weniger freundlich als zuvor.
„Seit wann arbeitest du hier?!" Henry starrte sie noch immer fassungslos an.
„Heute ist mein erster Tag. Tom hat mir den Job besorgt. Du hast ihn ja bereits gestern kennengelernt. Schade, dass du so schnell wieder gegangen bist", erwiderte sie.
So langsam wurde Hannah klar, was hier lief.
„Hast du sie noch alle?! Du hast...", fing Henry an, doch Hannah unterbrach ihn. Sie legte ihre Hand auf seine und sah ihn liebevoll an.
„Reg dich nicht auf, Schatz. Das macht das Ganze doch nicht besser", sagte sie mit ruhiger und fester Stimme. Erneut machte sich Verwirrung auf Henrys Gesicht breit.
„Schatz?" Annabelle schaute zwischen Henry und Hannah hin und her.
„Du scheinst ja schnell Ersatz gefunden zu haben. Ich denke, ich schicke lieber eine Kollegin zu euch", meinte die junge Frau und wollte sich gerade auf den Weg nach drinnen machen.
„Ach, ich denke, das ist nicht notwendig. Wir wollten sowieso viel lieber einen Spaziergang machen", sagte Hannah und stand auf. Sie nahm Henrys Hand und zog ihn ohne ein weiteres Wort der Verabschiedung mit sich.
„Danke für die Rettung", bedankte Henry sich bei Hannah, als sie außer Sichtweite waren und sie seine Hand wieder los gelassen hatte.
„Klar. Ich nehme an, sie ist deine Ex?", hakte sie nach.
Henry senkte für einen kurzen Moment den Blick, sah ihr danach aber wieder direkt in die Augen. In dem Moment fielen Hannah seine unglaublich grünen Augen auf, in denen jedoch ein trauriger Ausdruck lag.
„Ich habe sie gestern mit einem anderen Typen, diesem Tom, erwischt", verriet er ihr.
„Wow... das tut mir leid", sagte sie. Sie konnte ihn so gut verstehen. Eine Person, egal auf welche Art und Weise, zu verlieren ist alles andere als einfach zu verkraften. Melancholie machte sich in Hannah bemerkbar.
„Deswegen war ich gestern auch so mies drauf gewesen", erzählte er weiter.
„Das habe ich mir schon gedacht. Und dann komm ich auch noch und frag dich, wie es dir geht. Tut mir wirklich leid", entschuldigte Hannah sich. In so einer Situation wollte man niemanden haben, der fragte, wie es einem geht. Genau das hatte sie gestern jedoch getan. Das hatte die ganze Situation nicht besser gemacht.
„Du brauchst dich doch für nichts zu entschuldigen. Ich muss zugeben, in dem Moment fand ich das echt nicht toll, aber hättest du nichts gesagt, würden wir jetzt wahrscheinlich nicht hier stehen", meinte er und lächelte sie aufmunternd an.
Henry
Bisher hatte Henry Hannah nur gut gelaunt kennengelernt. Jetzt stand sie jedoch mit gesenktem Blick vor ihm und wirkte niedergeschlagen. Irgendwie hatte er gedacht, dass die Leichtigkeit und Frohnatur ihre Art waren. Allerdings kannte er sie auch erst seit gestern, was er immer wieder vergaß. Schon jetzt hatte er zu Hannah eine tiefere Verbindung als zu allen Frauen, die er vor ihr gekannt hatte. Was machte sie nur mit ihm?
„Was ist denn los?", fragte er vorsichtig nach.
„Es ist..." Ihre Stimme wurde von Tränen erstickt, die ihr nun über die Wangen liefen.
Ohne weiter nachzudenken, folgte Henry einem inneren Impuls und nahm Hannah in seine Arme. Sanft strich er ihr mit der einen Hand über den Rücken. Nach einiger Zeit hatte sich ihre Atmung wieder beruhigt und beide lösten sich voneinander.
„Tut mir leid, normalerweise weine ich nicht so schnell, aber ich weiß genau, wie es sich anfühlt, jemanden zu verlieren. Vor sechs Jahren ist meine Mutter gestorben", erzählte sie.
„Oh man... das tut mir leid. Aber das ist etwas völlig anderes, als das, was mir passiert ist. Das kannst du nicht vergleichen. Das ist nichts, wofür du dich entschuldigen musst", erwiderte er und nahm ihre Hand in seine.
„Es ist mir nur so unangenehm. Eigentlich geht es mir soweit gut damit. Vor ihrem Tod habe ich meiner Mum versprochen so zu bleiben, wie ich bin und mein Leben zu leben. Sie wollte nicht, dass ich mich danach unterkriegen lasse", fuhr Hannah fort.
„Das heißt doch aber nicht, dass du deswegen nicht traurig sein darfst. Es ist doch verständlich, dass du jeden Tag an sie denkst und an sie erinnert wirst. Das ist nichts, weshalb du dich schlecht fühlen musst. Im Gegenteil, du solltest deine Gefühle zulassen und zeigen", meinte er und schenkte ihr ein Lächeln.
„Ja, da hast du wahrscheinlich recht. Aber das ist nicht so einfach, wie es sich immer anhört", sagte sie.
„Das ist es meistens nicht. Oftmals hören sich die Dinge leichter an, als sie sind. Meistens braucht es vor allem Zeit."
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Zeit war jedoch das, was er mit Hannah viel zu wenig hatte. Tränen steigen in Henry auf und bahnen sich ihren Weg über sein Gesicht, als er die rote Nelke auf das Grab zu seinen Füßen legt.
Eine rote Nelke hatte er ihr zum ersten Treffen mitgebracht und auch danach hatten sie immer wieder eine wichtige Rolle gespielt. Henry erinnert sich noch genau an eine der wichtigsten Situationen in seinem Leben. Es war an einem warmen Maitag gewesen. Es waren schon zwei Jahre seit diesem ersten Treffen vergangen...
Henry konnte sein Glück nicht fassen, dass er mit so einer wundervollen Frau zusammen sein durfte. Hannah hatte ihm gezeigt, was es heißt zu leben und Momente zu genießen. Er wollte für immer an ihrer Seite sein und war bereit den nächsten Schritt zu wagen. Auf dem Rückweg vom Büro zur Wohnung hatte er den großen Strauß roter Nelken im Blumengeschäft abgeholt. Wie er durch Hannah wusste, standen rote Nelken, wie viele andere rote Blumen, für Liebe und Leidenschaft.
Wenn er alles vorbereitet haben wollte, bevor Hannah nach Hause kam, musste er sich beeilen. In der Wohnung angekommen, zog er sich ein weißes Hemd an. Dann nahm er die Ringschatulle und steckte sie in die Hosentasche. Einige der roten Nelkenblätter verteilte er vor der Haustür und legte damit eine Spur bis ins Wohnzimmer. Dort legte er ein großes Herz mit den verbliebenen Blütenblättern. Die restlichen Nelken hielt er in seiner Hand.
In dem Moment hörte er den Schlüssel in der Wohnungstür. Schnell begab sich Henry in die Mitte des Herzens und kniete sich hin. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Würde sie „Ja" sagen? Es dauerte nur wenige Sekunden bis Hannah mit offenem Mund vor ihm stand.
„Hannah, du bist das Beste, was mir passiert ist. Ich bin so froh, dass du mich damals in diesem Zug angesprochen hast. Ich möchte den Rest meines Lebens verbringen. Jeden Tag liebe ich dich mehr, heute mehr als gestern und weniger als morgen. Ich wusste nicht, dass man einen Menschen so sehr lieben kann. Deswegen frage ich dich: Möchtest du meine Frau werden?" Während der letzten Worte hatte er die Blumen beiseite gelegt und die Ringschatulle aus seiner Hosentasche gezogen.
„Natürlich möchte ich, was für eine Frage", quietschte sie und fiel Henry um den Hals, wodurch die beiden lachend zu Boden fielen.
„Ich möchte auch den Rest meines Lebens mit dir verbringen", flüsterte Hannah.
Lächelnd steckte Henry seiner Verlobten den Ring an.
Mit einer Nelke hatte alles angefangen, Nelken hatten sie begleitet und mit einer Nelke endet es.
Hannahs Krebsdiagnose vor einigen Monaten hatte ihn total aus der Bahn geworfen und seit ihrem Tod ist nichts mehr wie zuvor. Sie hat ihm gezeigt, was es heißt zu leben und auch, als sie krank war, hat sie jeden Moment, der ihr noch blieb, genossen. Und vielleicht sollte er genau das auch tun. Jeden Augenblick leben. Die Zeit nutzen, die ihm hier noch bleibt, bis er sie wiedersieht. Seine Träume leben. Für sich und auch für Hannah. Es ist das Beste, was er tun kann. Denn die Träume, Menschen und Momente unseres Lebens sind alles, was wir haben. Alles, was uns bleibt.
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