die große Überfahrt

Die dunkle Weste, die er unter seiner unauffällig modischen Sportjacke trug, drückte schwer auf seinen Schultern, die staubige, trockene Luft des Spätnachmittags des Hochsommertages ließ jeden müde werden, den er getroffen hatte, komisch eigentlich.

Der kratzige Sandstaub in der Luft, der sich auf den schweißgebadeten Leibern niederließ, wurde allgemein als Übel empfunden. Komisch eigentlich. Für ihn war es wie ein Hauch von Heimat, der ihn bis hoch in den Norden verfolgt hatte. Obwohl es angeblich einer der heißesten Tage des Jahres sein sollte, schwitzte er nicht, im Gegenteil, über der Weste  trug er noch einen Pullover und dann erst die dünne Sportjacke; an den Beinen schlackerte eine lange Stoffhose und seine Schuhe waren hochgeschlossen; er würde nie begreifen können, weshalb man hierzulande bei warmen Temperaturen die Haut entblößte anstatt sie zu bedecken, was so viel effektiver war.

Die Weste hatte er sich am vergangenen Tage selbst genäht, er war froh, dass Aalim ihn dazu genötigt hatte, es zu lernen, obwohl es ihm damals wie eine lästige Pflicht erschienen war.

Die Weste war aus schwerem Segeltuch gefertigt, zwischen der inneren und der äußeren Schicht lagen fast zwei Fingerbreit, gefüllt mit Kies und Erde. Der Druck der kugelsicheren Weste auf seinen Schultern fühlte sich beruhigend an. Eigentlich hatte er eine solche Weste aus seiner Heimat mitbringen wollen, sowohl zum Schutz als auch als Andenken an Aalim, doch Jonas, ein Junge von hier, hatte ihm davon abgeraten. "Damit kommst du durch keine Flughafenkontrolle, alter", hatte er gesagt. Er hatte erst nachhaken müssen, bis er verstand, dass in Europa die Angst vor Selbstmordattentaten unnatürlich hoch war, und "so wie du aussiehst", hatte Jonas mit schiefen Seitenblick auf seine Hautfarbe gesagt. "Hast du die Polizei innerhalb von Sekunden auf dem Hals.

Also hatte er auf den beruhigenden, allgegenwärtigen Schutz seiner Weste und das zuverlässige deutsche Gewehr, dass ihm seit drei Jahren treue Dienste geleistet hatte, verzichten müssen. Er hatte sich beinahe nackt gefühlt, als er die beiden abgelegt hatte.

Die Weste war schnell hergestellt gewesen, ein halber Tag in einer ruhigen Ecke auf einem Flughafen,  den Stoff hatte er sich mitgebracht, überhaupt kein Problem. Auf ein Gewehr hingegen würde er vorerst verzichten müssen.

Etwas ratlos sah er sich um. Der Taxifahrer hatte ihn hier abgesetzt, sein Geld gezählt, ihm auf englisch einen schönen Tag gewünscht und war davon gedüst. Nach 6 Stunden Flug und einer halben im Taxi fühlte es sich gut an, wieder auf eigenen Beinen zu stehen. Erst war er auf wackeligen Beinen einige Schritte hin- und hergegangen, hatte dann seinen Rucksack genommen und war in Richtung der Menschenansammlung in der Ferne gegangen.

Im Vergleich zu den Städten in der Nähe seiner Heimat und denen auf der anderen Seite des Mittelmeeres war sie winzige, kein einziges Haus mit mehr als zwei Stockwerken zu sehen, und auch wenn es keine Slums wie im Armenviertel seiner Jugend nach dem Tod seines Vaters waren, so waren sie dennoch Provisorien; sie wirkten weniger heruntergekommen, als vielmehr ... hastig errichtet, um darin zu wohnen, vor allem schnell, aber noch relativ neu.

Die Reise war lang gewesen, erst war er aus dem äußersten Süden des afrikanischen Kontinents abgereist, hatte seiner Tante zugewunken, war dann ins Flugzeug gestiegen, viele endlose Stunden später in Ägypten zwischengelandet, das Terminal für Europa hinter sich gebracht, die Weste in einer ruhigen Ecke genäht und dann weitergeflogen. Das erste, was er tat, als er den Flughafen verlassen hatte, war, noch bevor ein Taxi zu rufen, die Weste mit kleinen Steinen zu füllen. Sie zu tragen beruhigte ihn.

Dann war er gekommen, denn er wollte das Niemandsland, jene legendäre europäische Bewegung, die die Unabhängigkeit ohne Krieg erworben hatte, mit eigenen Augen sehen, seinen Brüdern drüben im Reich des Sandes - so hieß der Staat, der sich im Krisengebiet zu etablieren versuchte - davon zu berichten.

Nun war er hier. Nun ja, zumindest fast, einige hundert Meter musste er noch ungefähr gehen, so weit entfernt schätzte er die Siedlung ein, die sich vor ihm auftat, so weit musst er noch über das Feld gehen; er hatte noch nie so viel grüne, bewachsene Fläche am Stück gesehen; es war ihm ein Rätsel, wieso sie hier so unbeachtet brach lag; die Leute seiner Heimat hätten sie gehegt und gepflegt, wunderschöne Pflanzen auf ihr gezüchtet und ein kleines Paradies geschaffen. Aber hier? Man hatte alles, was man sich nur wünschen konnte, Frieden, Leben und grüne Wiesen, und nicht zu verschweigen das legendäre Niemandsland; glücklicher schienen die Menschen hier dennoch nicht zu sein.

"Bist du Faidh?" Er drehte sich blitzschnell um, die Hand intuitiv an den Rücken gehoben, um nach dem Gewehr zu tasten - er griff ins leere. Natürlich war da kein Gewehr, er wusste es, aber Gewohnheiten wurde man schwer los; und diese hier hatte ihm nicht selten schon das Leben gerettet. Seins, und das seiner Brüder.

Ein schwarzhaariges, hellhäutiges Mädchen stand ihm gegenüber. Er würde sich nie an diese unnatürlich blasse Hautfarbe gewöhnen können; jedes Mal, wenn er einen Blassen sah, fragte er sich unwillkürlich, ob er krank sei; aber nein, anscheinend nicht. Nun gut, so lange er nicht so herumlaufen musste ...

"Ich bin Juliane", sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen, er schüttelte sie, wie er es aus den Hollywoodfilmen kannte, die er zusammen mit Jonas gesehen hatte. Die Geste würde ihm auch weiterhin fremd bleiben. "Faidh", brachte er über die Lippen; so, dass hatte Jonas ihm erklärt, stellte man sich hier vor.

"Kommst du? Jonas wartet schon auf dich!" Sie sprach mit einem starken Akzent englisch, das hörte er, obwohl es nicht seine Muttersprache war. Er folgte ihr wortlos.

Im Ort angekommen wurde er überflutet von neuen Eindrucken, die so sehr fremd wie heimisch waren. Er hatte es sich nicht eingestanden, aber in den drei Monaten bei seiner Tante hatte er das Reich des Sandes vermisst, und auch wenn man hier deutsch sprach (glaubte er zumindest, ganz sicher war er sich da nicht, jedenfalls beherrschte er die heimische Sprache nicht), so war es doch ein Ort ähnlich seiner Heimat, denn auch hier sah man fast nur junge Leute, zwischen 14 und 30, auch wenn von den äußeren Enden der Alterskurve nur sehr wenig zu sehen war.

Das legendäre Niemandsland war ein Anlaufpunkt für Visionäre und Idealisten; und hier versammelten sie sich, aus ganz Europa, er meinte, mindestens fünf verschiedene Sprachen gehört zu haben, allen voran englisch und deutsch (glaubte er zumindest).

Neue Hütten wurden stetig aufgebaut, es wurde gearbeitet, ebenso handwerklich wie am Computer. Die Leute kochten, backten, nähten, schneiderten und schreinerten, programmierten und führten Buch, wählten und wurde gewählt, recherchierten und lasen Zeitung.

Juliane führte ihn in eine Hütte, deren Dach noch aus einer großen, blauen Plane bestand. Im Inneren saß ein junger Mann, der aufgeregt auf ihn zu stürmte, als er durch die Tür - na ja, eher Vorhang - trat.

Jonas umarmte ihn kräftig, klopfte ihm auf die Schulter und sagte dann: "weißt du, ich werde mich nie daran gewöhnen können, wie selbstverständlich du dich bewaffnest."

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