Brief 9
4 Wochen und 6 Tage ohne dich
Lieber Kian,
Ich weiß nicht, ob ich heute Nacht schlafen kann. Morgen sollst du zurückkommen. Zwar meinte dein Vater, wir sollten mit ein paar Tagen Verspätung rechnen, aber trotzdem freue ich mich jetzt schon. Du hast bestimmt einiges zu erzählen und ich will nichts lieber, als dir dabei zuhören. Mir kommt alles andere so bedeutungslos vor, wenn ich daran denke, dich wiederzusehen.
Ich habe darüber nachgedacht, morgen die Schule zu schwänzen, um dich hier erwarten zu können, aber dazu müsste ich meine Oma bitten, mich zu entschuldigen und das will ich nicht. Obwohl ich ihr dabei helfe, für deine Mutter zu sorgen, herrscht zwischen uns Eiszeit. Gerade, weil sie so tut, als sei alles bestens. Das macht mich so sauer, manchmal muss ich mich echt beherrschen, ihr nicht alles Mögliche an den Kopf den knallen. Aber vielleicht kommt es mir zu Gute, wenn ich ein bisschen weniger abweisend zu ihr bin. Irgendwas sagt mir, dass Alica schon einiges von Oma weiß. Sie war schon immer ihr Liebling. So viel wie sie an ihr rumschleimt, kein Wunder.
Weißt du eigentlich, wie viele Erwachte dafür zuständig sind, für Essen für dich zu sorgen? Ihr habt hinter den Palastgärten riesige Felder, auf denen Sachen für dich angebaut werden. Naja, momentan futtert meine Familie alles weg, aber du weißt, was ich meine.
Jetzt fragst du dich bestimmt, woher ich das weiß. Keine Sorge, ich bin nicht durch die Stadt marschiert. Dein Volk weiß nicht, dass ihr gerade menschlichen Besuch habt und dein Vater will, dass es so bleibt, weil er keine gute Erklärung dafür abliefern kann ohne Dinge preiszugeben, die er nicht preisgeben möchte. Seine Worte.
Jedenfalls habe ich den Palast bestiegen wie ein Affe. Naja, wahrscheinlich etwas weniger cool. Eigentlich wollte ich nach Kasimir suchen. Den Nord- und Westturm habe ich bereits ausgeschlossen.
Im Südturm war er auch nicht. Ich war relativ spät dort, gerade, als die Sonne untergegangen ist. Ich finde, vom Südturm aus gibt es die beste Aussicht. Ich habe mich ein bisschen von ihr in den Bann ziehen lassen. Obwohl ich enttäuscht war, weil ich Kasimir noch nicht gefunden habe, hat mir die Stimmung sehr gefallen. Es war zwar arschkalt, aber ich bin trotzdem rausgeklettert und direkt aufs Dach. Ich wäre ein paar Mal fast abgestürzt, aber das war es auf jeden Fall wert.
Du musst mal mit mir dahinkommen, okay? Es klingt zwar unspektakulär und wahrscheinlich auch ein bisschen lebensmüde, aber es ist wirklich schön da oben.
Der Südturm ist der höchste, habe ich festgestellt. Man kann die ganze Stadt überblicken, den Wald, die Seen und Flüsse, das Gebirge am Horizont und, wenn man genau hinsieht, dann erkannt man im richtigen Licht ein leichtes Schimmern, da, wo euer Schutzwall endet.
Du hast mir nie erzählt, was der Schutzwall eigentlich genau macht. Ich hoffe, er erfüllt seinen Zweck. Keine Ahnung, was passieren würde, wenn die Leute aus der Stadt euch finden würden und frei hier reinspazieren könnten. Bei allem, was gerade so abgeht, bezweifle ich, dass es etwas Gutes wäre.
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