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Silas

Mich in meinen hässlichen Anzug zu zwingen und meine Haare zu richten dauerte nicht halb so lange wie ich es mir wünschte. Andererseits wäre wohl keine Zeit der Welt genug gewesen, um mich auf den Abend vorzubereiten.

Obwohl ich vom König persönlich eingeladen war, schlich ich mich auf den Ball und durch die Säle. Auf meiner Suche nach einem Raum, der nicht ganz so prall gefüllt war stellte fest, dass ich nicht der einzige war, der einen viel zu farbigen Anzug trug. Die Leute um mich herum waren in allen Mustern und Farben gekleidet. Im Vergleich dazu kam mir sogar Maddys Tülltraum schlicht vor.

Die Gruppe schwarz tragender Leute stach sofort heraus. Sie belagerten eine Ecke des kleinen Saals komplett für sich. Keiner nährte sich ihnen an und sie näherten sich keinem an.

Als erstes erkannte ich Arian. Er war so groß, dass er die meisten um ihn herum um etwa einen Kopf überragte. Um ihn herum standen weitere Vertreter der Dynastien. Und ein Stückchen weiter Cédric, Nicolo, Ezra und Ben.

Zwar waren sie in eine Unterhaltung verstrickt und Ben gab auch hin und wieder Resonanz, doch er wirkte nicht so als würde er sich großartig amüsieren. Allein in der Minute, in der ich hierstand, um die Szene zu mustern, schaute er vier Mal wenig diskret auf sein Handy.

In der Schule damals hatte er das auch gemacht und dafür regelmäßig Ärger mit den Lehrern, dem Direktor und seinen Eltern bekommen.

Als ich damals das erste Mal durch eine Rauferei negativ auf mich aufmerksam gemacht hatte – der Tod meines Vaters war ein paar Wochen her gewesen und ich war nur noch ein physisches Abbild gewesen, das aufgrund seiner Unachtsamkeit die falschen Leute angerempelt hatte – war der Direktor davon überzeugt gewesen, Ben hätte einen schlechten Einfluss auf mich gehabt. Dabei hatte ich zu diesem Zeitpunkt wochenlang nicht mehr mit ihm oder sonst wem gesprochen.

Amelie, Boris und Alica hatten es aufgegeben, mich zu verfolgen und ich wollte einfach einen Tag nach dem nächsten überstehen und zurück ins Bett.

Ich war an einem von Bens Freunden hängengeblieben, einem von denen, mit dem man lieber pseudobefreundet war als ihn zum Feind zu haben.

Ich hatte nicht von Ben erwartet, dass er für mich eintreten würde, wenn sein Kumpel mich beleidigte und anfing, mich zu schütteln, weil er sich eine Reaktion erhoffte, die ich schlichtweg nicht geben konnte... oder überhaupt eine Reaktion.

Ben hatte mich an diesem Tag nachhause gebracht, mir etwas zu essen zubereitet und solange schrecklich gesungen, bis ich mich dazu zwingen konnte, ein paar Bissen zu tun.

Er war plötzlich nicht mehr der nervige große Bruder meiner besten Freundin gewesen, der uns jeden Tag fragte, ob wir denn nun zusammenseien, sondern ein Freund. Ein Freund, der etwas mehr wurde als ein Freund.

Ich begann zu trinken, nahm Drogen und war ständig in Streitereien verwickelt. Aber ich war verliebt gewesen und ich hatte jeden, der auch nur daran gedacht hatte, mir vor Augen zu führen, dass wir nicht gut füreinander waren, für neidisch und blöd erklärt.

Es hatte mich auch nicht interessiert, dass ich nie der einzige für ihn gewesen war. Jedes Bisschen Aufmerksamkeit, jedes Bisschen Zuwendung, das er mir geschenkt hatte, war genug gewesen.

Je näher sein Einzugstermin gekommen war, desto weiter hatte auch er sich von allen abgekapselt und irgendwann... Da redete er nur noch mit mir und ich nur noch mit ihm. Wir waren ein Team gewesen. Und dann war er plötzlich weg und ich war allein und begann, Gedanken zu hören und war allen Urteilen ausgeliefert.

Wenn Boris mich damals nicht solange belästigt hätte, bis ich ihm seine Gedanken schreiend vorgehalten hatte, säße ich jetzt vermutlich immer noch trübselig auf meinem Bett und würde hoffen, dass mein Körper einfach aufhörte zu atmen.

Ich beobachtete Ben dabei, wie er ein Gemälde von König Benedict fotografierte.

Wenige Sekunden später vibrierte mein Handy. Er hatte mir das Bild geschickt und dazu geschrieben: „Kein Wunder, dass dein Prinzchen so sexy ist bei den Genen. Denkst du, der König hat Interesse an einer Mätresse?"

Ich antwortete, dass Kian nicht mein Prinzchen sei und machte mich auf den Weg zu ihm.

Als ich aufsah, blickten mir Cédric, Nicolo, Ezra und Ben bereits entgegen. Auch andere Mitglieder der Dynastien wurden auf mich aufmerksam. Vorgestellt worden war ich ihnen bisher nicht. Bei dem Treffen damals hatte Nicolo mich empfangen und wir hatten das Meeting sofort verlassen.

Ich war sicher, dass meine Herkunft bei dem Angebot der ADGD eine geringere Rolle spielen musste als mein Kontakt zum Königshaus der Erwachten. Genauso wie Benedict wollte, dass ich für ihn bei der ADGD spionierte, stellten sich die Dynastien sicher ähnliches für mich vor.

Spätestens, wenn ich klarstellte, dass ich den Spion für niemanden spielen würde, würde ich das rausfinden.

Alles, was ich wollte, war Frieden. Frieden und Kian. Und alles, was ich tat, tat ich dafür.

Ezra begrüßte mich als erste. Sie umarmte mich und schwärmte sofort über meinen Anzug.

„Den hat der König extra für mich anfertigen lassen."

Ich versuchte durch den Klang meiner Stimme zu verdeutlichen, was ich davon hielt.

„Verstehst du dich gut mit ihm?", fragte Ben ein wenig überrascht.

„Eigentlich nicht, nein." Ich warf ihm ein Lächeln zu und wusste, als er es erwiderte, dass unser angespanntes Telefonat längst vergessen war.

„Dann ist der Anzug deshalb so scheußlich. Und ich dachte schon, er hat einfach einen scheiß Geschmack. Ich meine, du siehst aus wie ein Clown."

„Trotzdem noch um Welten besser als du", warf Ezra Ben an den Kopf.

Während die beiden über Bens Erscheinungsbild zu diskutieren begannen, sah ich mich weiter um.

Überrascht stellte ich fest, dass etwa fünf Meter entfernt eine lange Tafel mit Essen und Trinken deckt war.

Ich fragte mich, was der König damit bezwecken wollte. Er lud die ADGD zu seinem Ball ein, versorgte sie mit Nahrung und hieß sie in seinem Heim willkommen? Das passte nicht zu dem Mann, den ich die letzten Monate kennengelernt hatte. Es passte zu dem König, der er sein wollte. Aber nicht zu der Person, die er war.

„Ich finde Silas' Anzug schick." Ezra hielt ihr Armband an meinen Ärmel, verglich die Farbtöne und brach so eine weitere Diskussion vom Zaun. Diesmal mit Nicolo über die verschiedenen Nuancen von Blau.

„Seit wann lässt du dir eigentlich vorschreiben, was du anziehen sollst? Früher hättest du dem König den Mittelfinger vorgehalten und wärst demonstrativ nackt gekommen", behauptete Ben, während er an seinem Getränk nippte.

„Das hätte dir gefallen, was?"

Unter dem Vorbehalt, dass Maddy Kian nach unserer Vereinbarung jederzeit so platzierte, dass er Ben und mich sehen konnte, legte ich meine Hand hoch auf seine Schulter.

Ich kam mir heuchlerisch dabei vor. Schmutzig. Vor allem, als ich merkte, wie sehr er sich darüber freute.

„Weggesehen hätte ich definitiv nicht."

„Dabei kennst du doch schon alles."

„Ach, da hat sich bestimmt noch einiges getan. Schau mal bei mir." Er winkelte seinen Arm an, um mir seinen Bizeps zu zeigen. Sofort fühlte ich mich in alte Zeiten zurückversetzt.

Damals hätte ich mich geweigert, ihm zu zeigen, wie sehr er mir gefiel. Er hatte es mir dennoch angesehen und mich bis in alle Maße verlegen gemacht. Seine Maschen hatten funktioniert, bei mir und auch bei jedem anderen.

Heute wollte ich nichts lieber als ihm klarzumachen, dass er sich seinen Bizeps von mir aus hinten reinschieben konnte. Schöne Arme waren vielleicht toll anzusehen, aber nichts mehr, womit man nicht beeindrucken konnte. Meine Ansprüche hatten sich verändert.

„Ich wollte dir übrigens schon länger sagen, dass diese langen Haare dir total gut stehen. Hat mich richtig umgehauen."

Ich konnte nicht abstreiten, dass ich es genoss, umworben zu werden. Ben war verdammt charmant. Falls er es für nötig hielt, würde er alle Fäden ziehen, um mich einzulullen. Das machte ihn nicht unbedingt unaufrichtig - ich wusste, dass er mehr war als seine Flirts es vermuten ließen - aber es machte ihn zu leichter Beute.

„Du solltest dir unbedingt überlegen, ob du uns echt beitreten willst. Das erste, was sie machen, wenn du mit dem Training anfängst, ist, dir die Haare zu rasieren. Du kannst dir nicht vorstellen, wie das bei mir ausgesehen hat!"

Ich musste lachen. Ben war schon immer eitel gewesen, was seine Haare betroffen hatte. Ich konnte mir gut vorstellen, wie er Rotz und Wasser geheult hatte, als er kahlgeschoren worden war.

„Glaubst du, mir steht keine Glatze?"

„Puh, ganz ehrlich? Ich würde es nicht riskieren."

Obwohl er mir so vorkam als sei er in den letzten eineinhalb Jahren verspätet erwachsen geworden, erkannte ich nach wie vor den frechen Jungen in ihm, der seine kleine Schwester und mich mit dem Gartenschlauch über die Wiese hinter ihrem Haus gejagt hatte. Der mir heimlich Küsse gestohlen und mich am Abend beim Essen mit seinen Eltern verschmitzt angegrinst hatte, während er mich unter dem Tisch begrabscht hatte. Der dafür gesorgt hatte, dass ich Dinge fühlte, für die ich keine Worte gekannt hatte.

Als mir das bewusstwurde... Dass ich mich ihm nach wie vor verbunden fühlte, bereute ich es, ihn auszunutzen. Aber ich wusste, er würde darüber hinwegkommen. Er würde es müssen.

Nicht lange, nachdem ich angekommen war, wurden alle Gäste im Tanzsaal zusammengetrommelt. Uns blieb keine andere Wahl als Charlies Anweisungen zu folgen. So vermischten sich Jäger und Erwachte langsam und als ich schließlich im Thronsaal angekommen waren, schienen es keine zwei Gruppen mehr zu sein.

Ich sah Kian und wusste, dass er mich sah. Der Ausdruck der Überraschung auf seinem Gesicht konnte nur Bens wundersamer Auferstehung gelten.

Irgendwie seltsam. In einem unserer letzten Gespräche hatten wir zusammen in Kians Bett gelegen und ich hatte ihm von meiner Beziehung zu Ben erzählt. Nun stand der Todgeglaubte neben mir, während Kian duzende Meter entfernt war.

Der König flüsterte ihm irgendetwas zu, bevor er vortrat und begann, sich an alle Anwesenden zu wenden. Er musste sich keine große Mühe geben verständlich zu sprechen. Seine Stimme hallte laut und klar durch den Saal und mich suchte ein unangenehmer Kälteschauer heim.

König Benedict verkündete Kians Verlobung und ließ sich dafür reichlich applaudieren. Alle klatschten, sogar ich. Dabei hielt ich nach wie vor den Blickkontakt zu Kian und hoffte, er könne meine Gedanken lesen.

„Komm, wir hauen ab", Bens Hand auf meinem Rücken riss mich aus meinem monotonen Klatschen.

Er zog mich Schritt für Schritt nach hinten und ich wir schafften es, uns unauffällig zu entfernen, als der König seine Rede fortsetzte.

Ben irrte durch die nun leeren Säle und stieß die ersten Türen auf, die er sah. Vom Balkon führten Treppen runter in den Garten. Ben ließ mir keine Sekunde, um mich an die Kälte hier draußen zu gewöhnen, sondern schnappte sich meine Hand und rannte los. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm im gleichen Tempo zu folgen.

Er entführte mich in die Rosenanlage, die ich von Kians Fenster aus oft bewundert hatte. Direkt darin zu stehen, war ein ganz anderes Erlebnis. Man konnte diese einzigartige Schönheit nicht nur sehen, sondern auch riechen und spüren. Es war magisch.

Ben wurde immer langsamer und blieb nach wenigen Schritten stehen. Wir beide atmeten beschleunigt und produzierten dadurch Dunstwolken, die sich in der kalten Nacht auflösten.

Da sich das Licht der Laternen sich von der Schwärze verschlucken ließ, hatte ich Schwierigkeiten, sein Gesicht zu erkennen. Der Mond schien es auch nicht für nötig zu halten, ein wenig zur Beleuchtung beizutragen.

„Wow, wie romantisch", scherzte Ben und wandte sich von mir ab, um sich umzusehen.

„Finde ich nicht. Lass uns zurückgehen."

Es war nicht Teil des Planes gewesen, Zweisamkeit mit Ben zu bekommen. Das war so ziemlich das Gegenteil von dem, was ich wollte.

„Nah, keine Lust. Ich hasse diese großkotzigen Reden von Anführern, in denen sie sich nur selbst verherrlichen."

„Aber mir ist kalt."

Ich klang total verzweifelt und fühlte mich genauso, spätestens als er sein Jackett auszog und es mir über die Schultern hängte.

„Frostbeule", schmunzelte er dabei.

Er strich einige meiner Haarsträhnen zurück und lächelte mich an.

Ich versuchte, seinem Blick auszuweichen, doch er legte einen Finger unter mein Kinn und drückte mein Gesicht so ein wenig nach oben.

Ich musste ihn ansehen. Erkennen, wie sein Blick zwischen meinen Augen und Lippen rauf- und runtersprang.

Bevor er irgendetwas tun oder sagen konnte, ging ich einen Schritt zurück und drehte ihm den Rücken zu. Sein Jackett schloss ich enger um mich, nicht unbedingt, weil mir kalt war, sondern weil ich etwas brauchte, an dem ich mich festhalten konnte.

„Wenn du willst, gehen wir zurück. Ich dachte nur, du brauchst ein bisschen Frischluft, nach der Sache."

„Welcher Sache?" Ich drehte mich wieder zu ihm, um ihn fragend anzusehen.

Er zuckte mit den Schultern. „Naja, muss schon scheiße sein, dein Prinzchen so mit seiner Prinzessin zu sehen. Ich dachte-"

„Hör auf zu denken, Ben. Das war noch nie deine Stärke"

Wieder drehte ich mich weg. Ich musste nachdenken und sein scheinheiliger Welpenblick blockierte meine Gehirnströme.

Kian und Maddy zusammen zu sehen tat nicht weh. Kein Bisschen. Es trieb mich an. Der Fakt, dass er das nur machte, weil sein Vater es verlangte, trieb mich an. Und der Traum davon, seine Hochzeit zu verhindern. Der Traum davon, dass er für sich einstand und der Wunsch danach, dass ich ein Grund dafür sein könnte.

„Hilft es dir zu hören, dass er ziemlich eifersüchtig war, als er uns zusammengesehen hat?"

Tatsächlich half das, ja. Aber wozu musste Ben mir so nahekommen, um mir das mitzuteilen? Wieso legte der die Hände an meine Seiten und flüsterte in mein Ohr?

„Mach dich locker. Dein Plan geht auf."

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