8
Kian
Dieser Ball war anders als die vor ihm. Ich hatte den Vorbereitungen nicht interessiert beigewohnt und hin und hier eine überforderte Entscheidung zur Position von irgendwelchen Tischen oder Stühlen getroffen. Ich hatte mich nicht dafür interessiert, in welchen Kategorien das Blut serviert werden sollte, ich war nicht vom einen Saal zum anderen gelaufen und hatte mich darauf gefreut zu sehen, wie es aussehen würde, wenn sie fertig hergerichtet waren. Ich freute mich nicht über den Trubel und den vielen Leuten, denen ich begegnen konnte.
Heute hatte ich mich bei den Vorbereitungen in meinem Gemach verschanzt und versucht zu ignorieren, was mich am Abend erwarten würde.
Ich verspätete mich um eine halbe Stunde, da ich es so lange wie möglich aufgeschoben hatte, auch nur daran zu denken, meinen eigenen Verlobungsball zu besuchen. Dass Maddy unsere Ankunft noch weiter hinauszögerte, hätte eine Gelegenheit sein können, durchzuatmen und mich auf die nächsten Stunden gefasst zu machen. Silas und sein brutaler Angriff sorgten für das Gegenteil.
Der Ball war in vollem Gange, als wir die Treppen herunterstiegen. Maddy hatte sich mit einer Hand bei mir eingehakt und lüpfte mit der anderen den Stoff ihres Kleides. Wir kamen nur langsam voran und die Leute hatten umso mehr Zeit uns zu bemerken.
Ich ballte die Hand auf meinem Rücken zu einer Faust und hoffte, dass es helfen würde meine Anspannung zu verbergen.
Immer mehr Gesichter richteten sich uns zu, einige lugten sogar durch die öffnen Türen der anderen Säle hindurch, um uns zu beobachten.
In meinem Kopf erinnerte mich Charlies Stimme ständig daran, was ich zu tun hatte. Wie ich zu sein hatte. Ich wollte nichts vergessen, nichts falsch machen, keine Angriffsfläche bieten.
Die nächsten Stunden würde ich unter meinem Volk verbringen. So wie ich es mir lange gewünscht hatte. Ich konnte mit ihnen sprechen, an den Tänzen teilnehmen und für den Abend einer von ihnen sein.
Obwohl ich immer geglaubt hatte, ich wäre glücklich, wenn es einmal so weit sein würde, wollte ich nun am liebsten davonrennen. Auf meinem Thron hatte ich Distanz gehabt. Sicherheit. Jetzt konnten alle um mich herum jeden Moment ein Messer ziehen und auf mich einstechen.
Also musste ich selbst für Distanz zu sorgen. Ich erwiderte kein Lächeln, kein Nicken und keinen Gruß, schaute niemanden lange genug an, um ihn zu erkennen und zog Maddy, selbst, als sie sich in ein Gespräch verwickeln ließ, mit mir voran.
„Wir suchen meine Eltern, bleiben etwa eine Stunde bei ihnen und dann kannst du reden mit wem du willst", zischte ich ihr zu.
Sie nickte wortlos und blickte dann nur noch zu Boden.
Ich hatte mir vorgenommen, Silas von mir fernzuhalten. Alle anderen behandelte ich genauso, weil ich mich nicht im einen Moment komplett verstellen und im nächsten sorglos durch die Flure hüpfen konnte.
Es war leichter, diese Scharade die gesamte Zeit über aufrecht zu erhalten als die passenden Momente auszumachen, um sie abzulegen. Ich hatte einen Schalter installiert. Diesen konnte ich an- oder ausstellen. Nichts dazwischen.
Dass Maddy darunter zu leiden hatte, tut mir leid. Sie war eine wundervolle Frau und ich liebte sie so sehr wie man eine Freundin lieben konnte. Ich wollte sie nicht traurig machen oder herrisch und gemein sein. Aber etwas anderes konnte ich ihr momentan nicht bieten. Ihr und auch sonst keinem.
Dauerhaft so zu tun als würde mich nichts tangieren und nichts berühren hatte über die Zeit dafür gesorgt, dass es in mir drin immer leerer geworden war. Ich hatte gelernt, Gefühle und Bedürfnisse zu unterdrücken und mich so zu beherrschen, dass niemand auch nur ahnen konnte, dass sie existierten.
All die Jahre, in denen ich es perfektioniert hatte, die Rolle als Prinz zu spielen, hatte sicher dazu beigetragen. Nur selten schlugen sich manche Emotionen in den Vordergrund. Trauer. Angst. Reue. Wut. Verzweiflung.
Ich sehnte den Moment herbei, an dem ich all das loslassen konnte und verdrängte die Tatsache, dass mit Silas jede Sekunde solch ein Moment werden konnte.
Boris hatte Charlie, Austin und mir seine Vision so detailliert wie möglich beschrieben: Silas lag in meinen Armen und ich saß auf dem Boden vor den Treppen des Palastes und hielt ihn fest. Seine Lippen waren mit Blut benetzt, seine Haut ganz blass und in der Hand hielt er ebendie Klinge, die ich ihm zuvor in den Bauch gestoßen hatte.
Charlie war überzeugt davon, die Visionen wären nur ein Bruchteil von dem, wozu Boris eigentlich im Stande war, während Boris sich weigerte, sich damit mehr auseinanderzusetzen als nötig. Sich überhaupt damit auseinander zu setzen. Ich hatte ihn zwingen müssen. Ihm klarmachen, dass seine Kraft das einzige war, das uns helfen konnte, Silas vor diesem Tod zu bewahren.
Er sollte ein erfüllendes Leben führen, alt werden, irgendwann die Augen schließen und friedlich einschlafen. Alles andere war keine Option.
Ich hatte solange auf Boris eingeredet, bis er geschworen hatte zu versuchen, seiner Kraft ein wenig entgegen zu kommen. Bis mir etwas Besseres einfiel versuchte ich, die Komponenten aus Boris' Traum von Silas fernzuhalten. Einen silbernen Dolch, den Eingang des Palastes und mich.
„Kian", Maddy tappte mir mit den Fingern auf den Handrücken. Es dauerte einen Moment, bis ich es schaffte, meinen Blick zu klären und ihr meine Aufmerksamkeit zu schenken.
„Deine Eltern warten auf dem Podest auf uns."
Maddy hatte einen Thron bekommen, direkt neben meinem. Der Anblick war ungewohnt. Zu sehen, wie meine Eltern davor standen und uns erwarteten, ließ Unbehagen in mir aufsteigen, von den Tiefen meines Rumpfes bis in jeden Atemzug.
Meine Mutter küsste meine Wange und nahm Maddy lange in den Arm. „Ach Liebes, sieh dich nur an! Sie ist wunderschön, nicht wahr?"
„Du siehst reizend aus, Maddy", stimmte mein Vater zu. Es waren liebe Worte, aber aus seinem Mund klangen selbst die nach einer bloßen Aneinanderreihung von Tönen.
Er schaute zu mir und ich stellte fest, dass sein Gesichtsausdruck härter wurde. „Ich bin froh, dass du uns heute die Diskussion über deine Korsettweste erspart hast."
Ich machte mir nicht die Mühe darauf einzugehen.
Meine Mutter dagegen schmunzelte. „Das klingt ja fast wie ein Dank."
Sobald seine Augen auf ihr lagen, schimmerte Zuneigung durch seine Maske. So wie er sie ansah, konnte ich es ihm nicht übelnehmen, dass er es nicht geschafft hatte, es auch so zu formulieren.
„Wie wäre es, wenn wir später in den Gärten spazieren gehen, bevor es zu kalt wird?", schlug Maddy kurz danach vor. Sie sah dabei hauptsächlich zu meiner Mutter.
„Eine tolle Idee. Kian braucht später bestimmt ein wenig frische Luft, sobald er entbehrt werden kann."
„Er soll sich dann nur nicht die ganze Zeit verstecken", brummte mein Vater.
Wieder sagte ich nichts.
Sie wollten über mich reden, so als sei ich nicht da? Bitte. Dann würde ich mich ebenso verhalten.
Nach Silas' kleiner Rede, verstand ich sehr gut, warum mein Vater immer distanzierter zu mir wurde. Er konnte es nicht leiden, wenn etwas nicht so lief wie er es sich vorgestellt hatte. Wenn etwas passierte, auf das er nicht vorbereitet gewesen war. Etwas, das er nicht nachvollziehen konnte. Seine Missgunst, ja gar sein Hass, galt nicht Silas, sondern ganz allein mir und der Tatsache, dass er meine Gefühle nicht kontrollieren konnte.
„Victoria, du übertriffst dich wirklich immer wieder selbst. Du siehst bezaubernd aus."
Charlie war ungehindert an den Wachen vorbeispaziert. Eine seiner Hände lag auf seinem unteren Rücken, während er mit der anderen nach der meiner Mutter fasste und ihr einen zarten Kuss auf die Fingerknöchel hauchte.
„Nicht wahr? Alica hat ein tolles Auge für Make up"
„Sie hat das gemacht?", fragte ich verblüfft.
Meiner Mutter nickte. „Am liebsten würde ich sie als Zofe engagieren, aber eine junge Dame wie sie träumt sehr viel höher."
Mein Vater nahm die Hand meiner Mutter aus Charlies und hielt sie fest in seiner. Charlie quittierte das mit einem einseitigen Grinsen.
„Solltest du nicht Boris an deiner Seite haben?"
Sein Mundwinkel sank auf die Frage meines Vaters hin. Ein trüber Schleier legte sich über seine Iris.
„Er ist noch nicht so weit."
Sein Bedauern war ihm deutlich anzumerken, obwohl es in einem Gespräch mit meinem Vater durchaus so klang, als sei es eine simple Mitteilung gewesen.
„Er hat keine Ahnung, was er sich dadurch erlaubt, meine Einladung auszuschlagen", schnaubte mein Vater.
„Hat er nicht. Aber er will es sich auch nicht beibringen lassen. Er ist sturer als jeder Bock."
„Ach, tu nicht so als würde dich das nicht reizen", kicherte meine Mutter. „Außerdem kannst du mir nicht weismachen, du hättest etwas Anderes von einem 18-Jährigen erwartet. Natürlich trotzt er, wenn ihm etwas nicht gefällt. Und wenn ihr ihn drängt, dann noch mehr."
„Ist es denn für Menschen so schwer zu verstehen, dass man einem König Folge leistet?"
Ich hörte mich selbst schnauben, sagte jedoch nichts.
Ich war der letzte, der meinem Vater erklären sollte, dass er froh sein konnte, dass Boris und Silas ihn weit genug respektierten, ihm nicht durchgehend auf der Nase herumzutanzen.
„Hast du etwas zu sagen, Sohn?" Aus seinem Mund klang das wie eine Beleidigung.
Ich erwiderte seinen Blick ebenso kalt und bemerkte, als Maddy meine Hand mit ihren umschloss, dass ich sie zur Faust geballt hatte.
Obwohl ich ein gutes Stück größer war als mein Vater, hatte ich bisher noch nie das gefühlt gehabt, wir seien auch nur ansatzweise auf Augenhöhe. Ich war gerade mal 20 Jahre alt und musste noch einiges über das Königsein und das Leben an sich lernen. Mein Vater hatte Kriege gekämpft, Schlachten gewonnen, für Reformen gesorgt und den Frieden gebracht. Ich dachte nicht einmal im Traum daran, mich mit ihm gleichzustellen. Aber jetzt gerade fühlte ich mich endlich mal nicht unreif und winzig, als er mich ansah. Ich fühlte mich stark und ich wusste, ihm eine Antwort zu verweigern war vermutlich deutlich mutiger als ihm, was ich sagen wollte, direkt an die Stirn zu knallen.
„Jetzt ist aber mal gut mit den Diskussionen. Lasst uns den Ball eröffnen und für heute Spaß haben."
Meine Mutter bat Charlie dafür zu sorgen, dass unsere Gäste sich im großen Saal versammelten und zog meinen Vater zu ihren Plätzen.
Sobald er mir den Rücken zudrehte, ließ ich den angehaltenen Atem gepresst aus meinen Lungen entweichen und öffnete meine Hand, um meine Finger zwischen Maddys gleiten zu lassen.
Sie bedachte mich mit einem Lächeln, rieb bekräftigend über meinen Arm und kurz bildete ich mir ein, ihr altes Strahlen in ihren Augen aufblitzen zu sehen.
Es dauerte nur wenige Minuten bis Charlie alle fünf Säle zusammengetrieben hatte.
Ich kannte keines der Gesichter, die erwartungsvoll zu uns heraufschauten. Nur Silas... Silas erkannte ich sofort. Und was ich sah, gefiel mir nicht.
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