7

Silas

Wenn ich mich nicht gerade mit meiner Prüfungsvorbereitung beschäftigte, saß ich stundenlang auf dem Palastdach. Es kam vor, dass ich morgens über das Fenster des Südturmes das Dach hochstieg und den gesamten Tag dort verbrachte. Ich brauchte all diesen Platz für meine Gedanken und die Ruhe für mein Herz.

Wenn ich durch die Gänge lief, dann wollte ich mich am liebsten unsichtbar machen. So gern ich Kian auch sehen wollte, von ihm angesehen zu werden, zumindest so wie er es zurzeit tat, hielt ich kaum aus.

Seinem Vater zu begegnen war noch schlimmer. Er war so verdammt zufrieden mit allem. Es kotzte mich an.

Dann waren da noch Alica und Oma. Alica ging mir aus dem Weg und wenn wir uns mal sahen, dann war sie beinahe so kalt zu mir wie Kian. Irgendetwas ging in ihr vor und momentan war ich mir nicht sicher, ob ich eine Gelegenheit nicht nutzen würde, um mir selbst zu beantworten was. Ich hatte es einfach satt, dass niemand mal die Fakten auf den Tisch knallte. Diese Geheimnisse. Diese Lügen.

Obwohl ich den Himmel vom Dach aus schon oft dabei beobachtet hatte, wie er sich im Laufe des Tages veränderte, fand ich es immer wieder aufs Neue spannend, diesem Schauspiel beizuwohnen. Die Wolkenbilder schienen genau das widerzuspiegeln, wonach ich mich sehnte. Sie waren schwerelos und frei. Sie schwebten, wohin der Wind sie trieb. Wenn sie dunkel wurden, dann rissen sie die gesamte Welt mit in ihre Schwärze. Keiner konnte es ignorieren oder herunterspielen. Vor allem, wenn sie aufsprangen und der Regen in Strömen herunterbrach. Sie hatten Macht. Und nichts blieb ihnen verborgen.

Trotz allen Wünschen und Träumen, die in dieser Freiheit lebendig wurden, hatte ich ein konkretes Ziel: Kian nicht verlieren. Es musste eine plausible Erklärung für sein Verhalten geben und solange ich diese nicht erfahren hatte, würde ich ihn nicht aufgeben.

Zuzulassen, dass Kian mich jetzt von sich schob, war wie alles wegzuwerfen, was wir über Monate hinweg aufgebaut hatten. Vertrauen. Eine Bindung, die ich mit noch keinem anderen gespürt hatte. Mit keinem anderen spüren wollte.

Ja, vielleicht sogar Liebe.

Er brauchte nur einen kleinen Schubser, glaubte ich. Ein bisschen Starthilfe. Vielleicht auch eine Erinnerung daran, was er bereit war aufzugeben.

Dass ausgerechnet Maddy mich davon überzeugt hatte, um ihn zu kämpfen war absurd. Und irgendwie bekräftigend. Sie war die erste Person, die anerkannt hatte, was zwischen Kian und mir war. Die es in Worte gefasst hatte. Die es verstanden hatte. Und die wusste, dass dies eines der Dinge war, für die kein Weg zu weit und kein Bemühen zu viel war.

Es war ein kühler Freitagabend, als die Glocken des Palastes die baldige Eröffnung des Balls einläuteten. Wenige Stunden später sollten sowohl Kians Rückkehr und sein Geburtstag als auch seine Verlobung gefeiert werden.

Ich hatte dabei zugesehen, wie mehrere Hofdamen dabei geholfen hatten, Maddy einzukleiden, zu frisieren und zu schminken. Sie war total überfordert gewesen und hatte ständig um kleine Pausen gebeten, um durchzuatmen.

Jetzt, als sie fertig war, und wir gemeinsam auf ihrer Bettkante saßen, musste ich feststellen, wie schön sie aussah. Nicht einmal ein Blinder konnte das leugnen.

Nur ihre Unsicherheit tat dem einen Abbruch. Ein Blick und man spürte, dass sie nichts lieber wollte als wegzurennen.

„Du willst heute offiziell Prinzessin." Ich versuchte so zu klingen, als wäre das etwas, worüber sie dich freuen konnte.

„Oh Gott. Ich... Oh Gott!" Sie wedelte sich selbst mit den Händen Luft zu. „Ich kann das nicht, Silas. Man wird mir anmerken, dass ich das nicht will. Und wenn man das tut, wird der König böse mit mir sein. Und wenn er böse ist..."

„Dann wird Victoria das regeln."

Endlich schaffte sie es, sich ein kleines Lächeln abzuringen. Sie legte ihre Hände auf ihrem Kleid ab und zupfte mit den Fingerspitzen daran herum.

„Ich will auch meinen Gefährten finden. Es muss so schön sein, jemanden bedingungslos zu lieben... Und es zurück zu bekommen."

„Du wirst ihn finden, da bin ich mir ganz sicher."

Ich legte eine Hand auf ihre und drückte sie ganz fest. Sie erwiderte es.

„Schon irgendwie komisch, dass ausgerechnet wir zusammen hier sitzen. Ich dachte, du magst mich gar nicht", schmunzelte sie.

„Um ehrlich zu sein, mochte dich anfangs wirklich nicht besonders. Ich fand dich... zu glücklich. Naja, wahrscheinlich war ich insgeheim nur eifersüchtig."

„Ich war auch ein bisschen eifersüchtig auf dich."

Im selben Moment klopfte der Grund für ihre Eifersucht kräftig an die Tür. Wir beide zuckten zusammen und vergaßen, worüber wir gesprochen hatten.

„Bist du so weit?", rief Kian von draußen.

Maddy erhob sich hektisch. Sie tauschte einen panischen Blick mit mir und schüttelte schnell den Kopf, bevor sie sich den Tüll schnappte, der von ihr herunterhing und ins Bad stürmte. „Gib mir noch einen Moment!"

Ich atmete durch und warf der Tür einen missbilligenden Blick zu, als sie hinter ihr zuflog. Ob wir bei ihrem schauspielerischen Talent mit unserem Plan weit kommen würden, war fraglich.

Ich ließ Kian in den Raum. Er ging schnurstracks an mir vorbei und blickte sich in Maddys Gemach um.

„Wo ist sie?"

Ich deutete zum Bad. Er nickte, ohne eine Regung zu zeigen.

Ich verstand, was Maddy damit gemeint hatte, dass sie Angst bekam, wenn er in ihrer Nähe war. Dass ihr kalt wurde und sie am liebsten um Hilfe schreien wollte, obwohl er eigentlich gar nichts tat. Er hatte denselben Blick drauf wie die Serienkiller der Dokumentation, die ich mir vor Jahren mit Alica angesehen hatte. Den selben abwesenden, berechnenden Blick.

Früher, als er mich angestarrt hatte, hatte ich etwas Liebevolles in seinen Augen erkannt. Unschuld und Reinheit.

Davon schien nichts mehr übrig zu sein. Ich hatte keine Ahnung wieso. Ich wusste nur, dass ich alles tun würde, um es ihm zurückzugeben. Alles.

Während Maddy für die nächsten Stunden nett lächeln musste, war es meine Aufgabe, mich Ben zu widmen. Maddy sollte dafür sorgen, dass Kian sah, wie ich mich mit ihm amüsierte, und dann möglichst schnell aus der Schussbahn verschwinden.

Wir rechneten mit allem. Wir wollten, dass es eskalierte.

Auszurasten war die ideale Reaktion, die wir uns von Kian erhofften. Somit hätten wir den ultimativen Beweis dafür, dass nicht alles verloren war und eine Chance, an seine Gefühle zu appellieren, nachdem wir sie vorgeholt hatten.

Ben dafür auszunutzen, war sicherlich nicht die feine Art, aber Rücksicht auf seine Befindlichkeiten zu nehmen, war meine geringste Sorge. Das hatte er bei mir auch nie gemacht.

Maddys Gemach war etwa halb so groß wie Kians, meiner Meinung nach aber nicht weniger luxuriös. Trotzdem konnten wir geradesogut im Auge eines Tornados stehen und nichts wäre anders.

Kian regte sich nicht. Selbst, als sein Blick sich an mir festkrallte. Er starrte mich an, lange und intensiv. Genauso wie früher, nur, dass er diesmal nicht verlegen zu lächeln begann, als er aus seiner Trance erwachte.

Stattdessen räusperte er sich und sah in die Richtung von Maddys Badezimmer.

„Beeil dich, Maddy. Mein Vater hasst es zu warten!"

„Ich weiß!" Irgendetwas klirrte im Hintergrund.

„Alles okay?", hakte Kian nach. Sogar dabei wirkte er desinteressiert.

„Bestens!"

Wo war er? Wo war sein sorgenvolles Gemüt? Sein Mitgefühl? Wie hatte er es geschafft, das so tief in sich zu vergraben, dass nicht einmal Blick in seine Augen erahnen ließ, dass es jemals da gewesen war?

Ich wollte einen letzten Versuch wagen, diesen Teil von ihm zu erreichen, bevor wir die schweren Geschütze auffuhren. Nicht allzu offensichtlich, versteht sich. Meine Gefühle konnten noch so groß sein, niemals könnte ich mich dazu überwinden, ihm mein Herz auf dem Silbertablett zu servieren, wenn er bereits ein Messer in der Hand hielt.

Doch er sollte wissen, dass ich dazu bereit war, ihm zumindest die Hand hinzuhalten. Ihn aufzufangen. Ihn zu mir zu ziehen. Er musste sie nur ergreifen.

„Schon süß das mit euren passenden Outfits", meinte ich, während ich seinen Anzug musterte. Er war in dem ebengleichen dunklen Grün gehalten wie Maddys Kleid. Eine schöne Art, sich zu jemandem zu bekennen.

„Mein Anzug ist dunkelblau. Steht mir so gar nicht. Aber dein Vater wollte es so und ich habe dir versprochen, ihm keine Probleme zu machen, also." Ich zuckte mit den Schultern, so als könne diese Geste meinen Satz vollenden.

Worauf ich genau hinauswollte, wusste ich nicht. Ich schätze, ich versuchte, einen Weg zu finden, eine unverbindliche Konversation mit ihm zu führen und trotzdem irgendwie zu ihm durchzudringen.

Kian war angespannt. Die Muskeln seiner Oberarme tanzten unter dem Stoff, als er die Fäuste hinter seinem Rücken abwechselnd zusammenballte.

„Weißt du, damals hätten wir noch darüber geredet, was uns beschäftigt", hörte ich mich sagen und ging einen kleinen Schritt zu ihm. „Ich hätte dir erzählt, dass ich es hasse, mich so von deinem Vater demütigen zu lassen. Nicht wegen des Anzugs... Ja, okay auch... Aber, ich meine, er besteht darauf, dass ich zu deiner Verlobungsfeier komme. Obwohl er ganz genau weiß, dass ich von dieser Hochzeit nichts halte."

Ich atmete durch und ging zwei weitere Schritte auf ihn zu. Mich ihm zu öffnen, obwohl er allem Anschein nach weiterhin so tun wollte als würde ihm an mir nichts liegen, war definitiv ein Fehler.

Er würde mich abweisen.

Er würde mir wehtun.

Und ich wusste nicht, ob ich stark genug sein würde, darüber hinweg zu kommen.

Aber ich konnte nicht länger so tun, als fiele es mir leicht zu begreifen, dass der Kian, den ich vor fast 4 Monaten verabschiedet hatte, nicht zurückgekommen war.

Ich wollte, dass er wusste, wie es mir ging. Ich wollte, dass er wusste, dass ich ihn vermisste. Und ich wollte, dass er wusste, dass ich nicht kampflos ausgeben würde.

Er musste den Kopf zur Seite drehen, um zu verhindern, dass ich ihm in die Augen sehen konnte. Oder er mir.

Ich war ihm so nah wie seit Monaten nicht mehr. Gleichzeitig war es nichts zu der Nähe, nach der ich mich sehnte.

„Ich verstehe, warum er das tut." Ich erkannte, dass meine Hände zitterten, als ich sie auf seine Brust legte. Mein Daumen strich behutsam über den festen Stoff seiner Korsage und meine Finger vernahmen das kraftvolle Beben seines Herzens.

„Er hasst mich. Er hasst mich, weil er weiß, dass ich dir eine Wahl gebe. Er hat Angst davor, dass du dich für mich entscheidest. Und wahrscheinlich hasst er mich noch mehr, weil er genauso weiß, dass ich an deiner Seite sein werde, egal, welche Wahl du triffst." Ich versuchte, meine Verzweiflung herunter zu schlucken. „Ich lasse dich nicht los, Kian. Wenn du mir nicht in die Augen siehst und sagst, dass du mich nicht willst, dann lasse ich dich nicht los."

Er versuchte es. Er versuchte mich anzusehen, meinen Blick standzuhalten und etwas zu sagen. Sein Mund klappte auf, aber sofort schloss er ihn wieder.

Ich musste lächeln.

Seine Atmung war unregelmäßig geworden. Er hielt immer länger den Atem an. Sein gesamter Körper war schien unter Strom zu stehen.

Ich wusste, dass er weg wollte. Weg von mir und diesem Chaos, dass ich durch meinen Angriff in ihm auslöste. Aber ich war noch nicht bereit, ihn gehen zu lassen.

„Es wird alles gut", sagte ich entschlossen.

Ein Versuch zu erkennen, ob meine Überzeugung bei ihm ankam, scheiterte. Er schloss die Augen. Kappte die Verbindung.

Dennoch wiederholte ich: „Es wird alles gut."

Ich wusste nicht, was meine Lippen als nächstes für Worte formen wollten. Ich konnte es nie erfahren.

Er ergriff meinen Unterarm, so fest, dass ich alles, was auf meinem Herzen wog, unter dem Schmerz vergaß. Er sah mich an, so intensiv, dass ich kurz nicht mehr musste, wie man atmete.

„Halt. Den. Mund", presste er hervor.

„Kian-"

Ich wollte ihn bitten, mich loszulassen. Ich wollte ihm sagen, dass er mir wehtat. Aber ich kam nicht dazu.

Sein Blick wurde zu dem Abbild eines finsteren Nachthimmels – dunkel und kalt.

Ich tat, was er mir befohlen hatte. Nicht unbedingt, weil ich Angst hatte oder weil ich wollte, dass der Schmerz aufhörte, sondern, weil mir nichts besseres einfiel.

Mein Hirn hatte seine Arbeit eingestellt und mein Körper war nicht mehr zu Reaktionen fähig.

Alles, was ich wusste, war, dass unser Plan funktionieren würde.

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