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Silas
Früher im Fußballtraining hatten wir uns regelmäßig an unseren Kameraden festklammern, unsere Beine in den Boden stemmen und sie mit aller Kraft vom Vorankommen abhalten müssen. Die Aufgabe war es gewesen, so schnell wie möglich die Ziellinie zu überqueren. Wenn der Boden matschig gewesen war und wir danach ausgesehen hatten wie hyperaktive Schweine, die sich zum Vergnügen im Dreck gewälzt hatten, hatte ich besonders Spaß gehabt.
Auch jetzt hatte ich das Gefühl, irgendjemand, jemand verdammt Starkes, hielt mich fest und versuchte, mich zurück zu zerren. Doch diesmal fand ich keinen Gefallen daran.
Seit der Rückkehr von seiner Reise hatten sich Kians Aufgaben und Termine ungefähr vervierfacht. Selbst, wenn er wissen wollte, was ich ihm geschrieben hatte, er würde nicht die Zeit finden, meine Briefe zu lesen. Und obwohl es mich wütend machte, dass ich all diese Worte an ihn gerichtet hatte und sie ihn niemals erreichen würden, glaubte ich, das würde mir helfen, mit ihm abzuschließen.
Ich hatte mein Bestes getan. Ich hatte wie versprochen, Zeit mit seiner Mutter verbracht, alles notiert, was ich ihm erzählen wollte und ständig an ihn gedacht. Ich hatte beinahe jede Nacht in seinem Gemach verbracht, nur um mich ihm ein Stückchen näher zu fühlen und jeden Tag, um immer auf dem Laufenden zu sein.
Er war derjenige, der mir aus dem Weg ging, sich weigerte, mich anzusehen, mit mir zu reden und auch nur im Geringsten auf mich zuzukommen.
Mein Versagen, eine Lösung für unser Berührungsproblem zu finden, war kaum noch wichtig. So wie er sich verhielt, würde er mich nicht mal küssen, wenn er dadurch einen weiteren Krieg verhindern konnte. Und mittlerweile ging es mir genauso.
Ich weigerte mich, in Erinnerungen zu schwelgen und mich meiner Hoffnung, all das würde sich aufklären und plötzlich Sinn ergeben, noch mehr Raum zu geben. Ich musste nur einen Schritt nach dem anderen gehen. Nicht stehen bleiben und nicht zurücksehen.
In der Theorie klang das einfach. Praktisch schien es kaum zu bewältigen.
Nachdem ich Kians Gemach verlassen hatte, war mir nur die letzte Eckes des Gewächshauses als Rückzugsort geblieben. Viel weiter durfte ich nach den Bestimmungen des Königs nicht gehen.
Natürlich konnte ich weglaufen, zurück nachhause, mich um meinen Abschluss kümmern und jeden Gedanken an Kian verdrängen. Jedes Gefühl für ihn. Aber ich wollte mich nicht davon unterkriegen lassen. Ich sah es nicht ein.
Schon vor einer halben Ewigkeit hatte ich mich dafür gewappnet, von ihm verletzt zu werden. Ich hatte gewusst, dass es so kommen konnte, dass es höchstwahrscheinlich so kommen würde, und ich war das Risiko eingegangen. Ich bereute es nicht. Aber verdammt, ich sehnte mich nach mehr. Eine Stunde wollte ich wieder mit ihm verbringen sowie früher. Mit verliebten Blicken, fürsorglichen Gesten und tiefgründigen Gesprächen. Von mir aus auch nur eine Minute. Und diese wollte ich nutzen, um etwas zu tun, das ich bereuen konnte. Denn so hatte ich nichts als schöne Erinnerungen und irrationale Sehnsüchte.
„Nicht erschrecken."
Ich zuckte zusammen, als ich eine Stimme hörte. Sofort erkannte ich Maddys schüchternes Lächeln und atmete mehrmals tief durch, um mich zu beruhigen. Obwohl ich nur herumgestanden und in die Blumen gestarrt hatte, fühlte ich mich von ihr ertappt.
„Ich habe doch gesagt, nicht erschrecken", kicherte sie und näherte sich mir langsam an. „Du warst total in Gedanken versunken. Machst du dir Sorgen?"
Natürlich musste ausgerechnet sie mich hier finden. Natürlich musste sie sich um mein Wohlbefinden sorgen. Natürlich wirkte sie so als würde ihr etwas an mir liegen. Sonst wäre es viel ja zu leicht für mich, sie für alles verantwortlich zu machen und alles Negative auf sie abzuwälzen.
„Ist es Kian?" Maddy kam auf mich zu. Auf ihrem Weg strich sie mit den Fingerspitzen sanft an den gelben Blüten einer Rose entlang. „Er wirkt total verändert, seit er wieder da ist."
Je näher sie kam, desto schwerer fiel es ihr, meinem Blick zu begegnen. Sie sah immer länger auf die Blumen neben uns, so, als würde sie mit ihnen reden statt mit mir.
„Er war schon immer ein wenig seltsam. Trotz all unserer Gespräche und der ganzen Zeit zusammen bin ich nie ganz schlau aus ihm geworden. Aber zurzeit... Da kommt er mir vor wie ein Fremder." Sie wurde leiser. Ihren letzten Satz verstand ich nur mit großer Mühe, obwohl sie direkt neben mir stand. „Er macht mir irgendwie Angst."
Die Stille, die von mir ausging, war besser dazu im Stande auszudrücken, was in mir vor sich ging, als Worte es jemals konnten. Maddy schien sie zu verstehen.
„Ich glaube, er war noch nicht bereit für das alles. Die Gremien, die Verantwortung. Die Verlobung. Diese Reise..."
Ich spürte, dass sich ihr Blick nun doch an mein Gesicht haftete. Trotzdem sah ich weiterhin in das Beet vor uns.
„Du bist wahrscheinlich der einzige, den er grade noch an sich ranlassen würde."
Unwillkürlich schnaubte ich.
„Er geht vielleicht nicht freiwillig auf dich zu, aber-"
„Ich werde ihm nicht hinterherrennen, Maddy."
Mein Vorhaben, ihn zu konfrontieren unterschied sich in allem von dem, was Maddy sich erhoffte. Ich würde nicht mehr sanft und verständnisvoll zu ihm sein. Diese Zeiten waren vorbei. Er hatte sie beendet.
Er verletzte mich. Meine Reaktion darauf war nichts anders als Notwehr. Selbst, wenn ich mir Zeit nahm, diese Reaktion gründlich zu durchdenken.
„Das meinte ich gar nicht. Ich dachte nur... Nein ich weiß, dass er sich vor dir nicht verschließen kann. Jeder, der euch kennt, weiß das."
Ich wollte ahnungslos spielen. Einfach so tun, als wäre da nichts zwischen Kian und mir. Doch, was da war, war so stark, dass ich es nicht konnte. Nicht mal für einen Moment.
„Ich weiß nicht, was du von mir willst", formulierte ich.
Sie konnte unmöglich von mir verlangen, zu Kian zu gehen und an seine Gefühle für mich zu appellieren. Ich würde mich ihm ausliefern und brutal zurückgewiesen werden.
Sie seufzte. „Ich fürchte, das weiß ich selbst nicht ganz."
Das anhaltende Lächeln, mit dem ich sie vor mehr als einem halben Jahr kennengelernt hatte, war verschwunden und mit ihm das nervtötende Strahlen, das sie immer begleitet hatte. Dieser vollkommen irrationale Optimismus, von dem Kian mir erzählt hatte.
Er hatte Maddys Einstellung bewundert. Sie darum beneidet, immer etwas zu finden, das ihr einen Grund zu lächeln gab. Damals, es kam mir vor, wie eine Ewigkeit, hatte er gesagt, dafür hätte er mich gefunden. Ich sei sein Grund.
Ich drehte mich zu ihr und flüsterte: „Ich kann nicht."
Der Klang meiner Stimme brach einen Schauer kalten Regens über uns vom Zaun. Er versuchte uns zu ertränken, in Verzweiflung und Mutlosigkeit. Er spülte jedes Bisschen Hoffnung weg und hinterließ nur die Wahrheit. Eine Wahrheit, die wehtat und ein Schmerz, der verband.
„Schon gut", meinte sie leise. „Ich halte es selbst kaum aus, im selben Raum zu sein wie er."
Zum ersten Mal, seit sie hierhergekommen war, trafen sich unsere Blicke. Sie lächelte mich leicht an, keineswegs glücklich. Aber erleichtert. Erleichtert darüber, mit dieser Situation nicht alleine zu sein. Und mir ging es genauso.
„Liebst du ihn?", hörte ich mich fragen.
Ihr Lächeln brach und ihr Blick fiel zurück zu den Blumen. Selbst ihre bunten Blüten wirkten nun grau und trostlos. Die Dunkelheit war einfach zu mächtig.
„Tut mir leid", murmelte ich kurz danach. „Es geht mich nichts an. Ich war nur neugierig, schätze ich..."
Ich war nicht nur neugierig. Ich musste es wissen. Doch obwohl sich meine Frage so leicht mit ja oder nein beantworten ließe, sagte sie nichts davon.
„Hat dir Kian je erzählt, wie wir uns kennengelernt haben?"
Ich pulte in der feuchten Erde herum. „Victoria hat euch einander vorgestellt."
Maddy nickte. Sie pflückte eine Blume, die kurz vor dem verwelken war und strich sanft über ihre Blüten, so als glänze sie noch in voller Pracht.
„Ich habe geholfen, die Gärten in Stand zu halten. Jeden Tag sah ich Kian auf seiner Fensterbank sitzen und raus in den Horizont sehen. Das erste Mal hatte ich solch eine Angst, dass er runterspringt, dass ich meine Augen nicht von ihm nehmen konnte. Beim zweiten Mal fragte ich mich, woran er wohl denkt und schon beim dritten Mal erwischte mich Victoria dabei, wie ich stundenlang zu ihm hochsah, statt zu arbeiten. Sie fand es entzückend und sie meinte, Kian säße dort, weil er jemand braucht, den er so ansehen kann wie ich ihn ansehe..."
Eine Träne rannte ihre Wange hinab. Dennoch lächelte sie. „Ich schätze, ich fand einfach die Vorstellung schön, dass es so leicht sein könnte. Er gefällt mir, seine Mutter stellt uns vor, ich gefalle ihm und alles nimmt seinen Lauf. Und ich dachte lange, dass es echt so ist. Dass er seine Gefühle nur nicht so zeigen kann. Aber das tut er. Auf seine Weise."
„Wie-"
„Ich will wirklich nicht gemein klingen, aber ich bin erleichtert, dass er sich dafür entschieden hat, sein Erbe über dich zu stellen. Das beweist, dass er sich doch nicht komplett verändert hat, weißt du? Egal, was auf dieser Reise passiert ist, egal, was ihn bedrückt und egal, was er tut, um damit umzugehen. Unser Kian ist noch da. Wir können ihn nicht aufgeben, Silas. Wir..." Sie schluckte und schüttelte leicht den Kopf. „Wir müssen es wenigstens versuchen."
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