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Kian

Ich beobachtete Silas dabei, wie er mit seiner Tante redete. Nach ein paar gewechselten Sätzen stellte sich Benjamin dazu. Die drei richteten ihre Blicke zu uns. Silas trat Ben leicht ans Bein, während er irgendetwas zu ihm sagte und in unsere Richtung deutete. Angelina lachte darüber, ehe sie die Hand hob, um sich durch die Geste nochmal von uns zu verabschieden, und dann in ein Auto stieg.

Silas griff nach Benjamins Hand und zog ihn hinter sich her. Nach wenigen Metern riss Benjamin sich los und folgte Silas freiwillig.

„Ben will wissen, ob er nochmal mit in den Palast darf, damit er ein bisschen mehr Zeit mit Amelie hat. Nur bis morgen."

Silas klang genervt, während er Benjamins Bitte vortrug als würde er uns von seinen Verfehlungen erzählen.

„Wenn er sich benimmt, spricht nichts dagegen", sagte mein Vater tonlos, ehe er ihnen den Rücken zuwandte und sich auf den Weg zum Fluss machte.

„Ach, ich liebe diesen Mann", seufzte Ben und schaute meinem Vater verträumt hinterher.

„Ich glaube, er ist homophob", äußerte Silas. „Also wäre ich an deiner Stelle vorsichtig mit Liebeserklärungen ihm gegenüber."

Ben lachte. „Wenn dann hat er nur Angst, dass es ihm gefallen könnte."

„Okay Jungs, solche Späße solltet ihr machen, wenn ihr unter euch seid." Oliver hob beschwichtigend die Hände. Durch einen kurzen Blick zu Charlie wies er uns darauf hin, dass mein Vater von dieser Konversation erfahren würde.

Ich wusste nicht, ob ich mich vor seiner Reaktion zu solchen Anschuldigungen fürchtete oder ob ich erleichtert darüber war, dass ich nicht derjenige sein musste, der sie aussprach. Vermutlich traf beides zu.

Obwohl es sich manchmal so anfühlte, glaubte ich nicht, dass mein Vater gleichgeschlechtlichen Beziehungen gegenüber grundsätzlich feindlich eingestellt war. Ich versuchte mir einzureden, sein Verhalten meiner Beziehung zu Silas gegenüber hatte mehr damit zu tun, dass er eine Schwachstelle in meinen Gefühlen sah. Und Schwachstellen mussten beseitigt werden.

Auf Olivers Anweisung hin machten wir uns auf den Weg zurück zum Fluss. Ben begann mit Tom darüber zu reden, dass er seine Schwester heute Abend für sich haben wollte. Oliver lief neben mir her und Charlie neben Silas.

Ich blendete alle anderen Geräusche aus, konzentrierte mich nur auf die Schallwellen, die zwischen Charlie und Silas hin und her gingen.

Charlie versuchte Silas klarzumachen, dass es Boris nicht helfen würde, ihm seine Kraft oder auch nur Teile davon zu nehmen und Silas erklärte Charlie, dass sein Cousin unfassbar unter seiner Kraft litt.

„Das ändert nichts daran, dass das ein Teil von ihm ist", sagte Charlie ernst. „Er muss lernen, damit umzugehen und das dürfte deutlich einfacher sein, wenn du ihn darin unterstützt, statt ihn auf solche Ideen zu bringen, wie dass er sie loswerden kann."

„Nur, um das klarzustellen: Dass er die Kraft loswerden will, kommt von ihm. Ich will ihm bloß helfen."

„So hilfst du ihm aber nicht!" Charlie wurde lauter und ich verlangsamte meine Schritte, um ihm und Silas näher zu kommen. Oliver bemerkte es nicht oder er ging absichtlich ohne mich weiter, während ich mich nach hinten fallen ließ.

„Ihm seine Kraft zu nehmen, ist wie ihm ein Organ rauszureißen."

„Es gibt genügend Organe, die wir nicht zum Leben brauchen. Boris' Kraft gehört für ihn dazu", erwiderte Silas. „Mir ist schon klar, warum er sich von dir nichts sagen lässt. Du willst helfen, das verstehe ich, aber alles, was du machst, ist ihm deinen Willen aufzuzwingen. Hör ihm doch endlich mal anständig zu, statt zu versuchen, ihn oder mich zu überzeugen."

Charlie sagte nichts mehr. Er lief an mir vorbei. Der Blick, den er mir dabei zuwarf, bewies, dass er wusste, dass ich gelauscht hatte.

Ich schaute mich nach Silas um und blieb stehen, bis er bei mir war. Dann gingen wir zusammen weiter. Die anderen waren bereits am Steg und stiegen nacheinander in das Boot.

Silas seufzte, ohne zu etwas zu sagen.

Ich schenkte ihm ein leichtes Lächeln, das ihm vermitteln sollte, dass ich zur Kenntnis genommen hatte, wie angestrengt er war. Er erwiderte es mit einem dankbaren Ausdruck in den Augen.

Im Boot setzte ich mich neben ihn. Nachdem wir wenige Minuten auf dem Fluss getrieben waren, legte er seinen Kopf auf meine Schulter und ließ sich an meine Seite sinken.

Ich sah zu ihm, aber alles, was ich erkennen konnte, waren schwarze Wellen, die sein Gesicht bedeckten.

Tom und Ben starrten abwesend vor sich hin, während Oliver, Charlie und mein Vater die Köpfe zusammengesteckt hatten, um zu tuscheln.

„Kommst du nach dem Abendessen in mein Gemach?", flüsterte ich Silas leise zu.

Er nickte an meine Schulter und schob seine Hand unter meinem Arm durch, so als würde er sich bei mir einhakten wollen. Dadurch umklammerte er meinen Arm, während er eine Hand auf meinen Bizeps legte.

„Ich schlummere jetzt ein bisschen." Seine Stimme klang bereits verschlafen.

Ich bewegte mich die gesamte Bootsfahrt über kein Bisschen. Silas sank immer mehr gegen mich und ich gab mein Bestes, eine gemütliche Lehne zu sein, selbst, als mein Rücken von dem einseitigen Gewicht zu schmerzen begann.

Kurz nachdem wir den Schutzwall durchquert hatten, wurde Silas wach. Er löste sich von mir, um sich zu strecken. Danach rutschte er von mir und lächelte mich aus der Distanz an. Obwohl uns nur ein halber Meter voneinander trennte, fühlte es sich so an als läge eine gesamte Welt zwischen uns.

Wir legten an und gingen den gleichen Weg, den wir zum Fluss gekommen waren, zurück in den Palast. Ethan empfing uns in der Halle und meinte, die Tafel sei deckt worden, für meine Eltern, mich und unsere Gäste.

Ich konnte mich nicht an das letzte Mal erinnern, als ich mit meinen Eltern zusammen gegessen hatte. Ich musste noch ein Kind gewesen sein.

Auch damals hatte ich meine Mahlzeiten meistens mit Charlie eingenommen. Meine Eltern hatten aus ihrem Bluttausch ein sehr intimes Ritual gemacht, dem ich gar nicht freiwillig beiwohnen wollte.

Ich hatte nicht von meinem Vater verlangen können, sich mit mir an einen Tisch zu setzen, solange ich saß. Bei seinen Gesprächsthemen wäre mir ohnehin der Appetit vergangen.

Im Tafelsaal trafen wir auf Edith, Boris, Alica, Amelie, Maddy und meine Mutter. Sie saßen am gedeckten Tisch und unterhielten sich.

Als die Tore aufgingen und wir hereinkamen, schrie Boris durch die Halle: „Na endlich! Ich bin am Verhungern! Setzt euch, damit wir endlich anfangen können! Na los!"

„Du kannst froh sein, dass du einen Vertrag für ihn hast", schob mein Vater Charlie zu. „Sonst könnte ich für nichts garantieren."

„Vertrag hin oder hier, du würdest ihm nicht wehtun", erwiderte Charlie. „Sonst müsste ich dir wehtun."

Ich erkannte, dass mein Vater schmunzelte, als er seine Schritte beschleunigte, um neben meiner Mutter Platz zu nehmen. Er sah aus, wie ein anderer Mann, wenn er anschaute. So als könnte er wirklich liebevoll und vielleicht sogar zärtlich sein.

Ich folgte Silas zu seiner Familie, wohl wissend, dass der Platz neben meinem Vater für mich gedacht war.

Bevor er sich hinsetzen konnte, hielt ich ihn durch eine leichte Berührung an der Seite auf.

Er schaute fragend zu mir hoch.

„Ich würde es verstehen, wenn du den Abend lieber mit deiner Familie verbringen willst."

Silas schüttelte sofort den Kopf. „Ich bin froh, dass ich mich von ihnen verabschieden kann, aber mit ihnen habe ich keine tausend Sachen zu besprechen."

In seinem Blick versicherte er mir, dass er unserem Plan, später in meinem Gemach miteinander zu reden, folgen wollte. Und ich war erleichtert, denn ich hatte einen eigenen Plan.

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