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Kian
Wir standen um den Tisch in der Mitte des Holzhauses herum. Die ADGD hatte eine Karte darauf ausgebreitet und von meinem Vater verlangt zu zeigen, wo er die Aufständischen untergebracht hatte. Der Bereich, den mein Vater eingekreist hatte, war viel größer als der, in dem sie sich tatsächlich befanden. Aber das mussten sie nicht wissen. Es war ohne schon ein Risiko, ihnen zu verraten, wo sie ungefähr waren. Ihnen musste klar sein, dass unser Reich nicht weit davon entfernt war. Um genau zu sein, schloss es genau daran an.
Die Bergkette im Norden unseres Reiches begrenzte den Bereich der Aufständischen auf einer Achse, während ein Fluss, der sich etwa 20 Kilometer südlich davon teilte die östliche und westliche Seite beschränkten.
Mein Vater hatte Posten in den Bergen, auch, wenn er davon ausging, dass die Aufständischen diesen Weg nicht gegen konnten, weil sie mit dem Blut, das er ihnen zu Verfügung stellte, zu schwach waren. Gleichzeitig belagerten unsere Truppen die Aufständischen an den Flüssen und boten ihnen somit keinen Ausweg, von dem wir keine Kenntnis neben konnten.
Im Nordwesten unseres Reiches schloss der östliche Fluss der Grenze zu den Aufständischen an unseren Schutzwall an. Die Aufständischen, die Alvar den Rücken zukehren wollten, konnten durch den Schutzwall und wurden da von einer weiteren Linie unserer Garde empfangen. Es waren über die Jahre, die ich davon wusste, nicht viele zu uns übergesiedelt. Die, die es waren, wurden möglichst gut in unser Netz eingebunden. Sie hatten regelmäßig Audienzen bei meinen Eltern oder Charlie, bei denen sie beweisen mussten, dass sie sich hier eingliederten und wirklich dazugehören wollten.
Diese Personen standen seit dem Angriff auf die Stadt unter besonderer Beobachtung. Rein rational hielt ich das für richtig. Auf der anderen Seite hatten diese Leute sich bisher schon so oft beweisen müssen, dass es einer strukturellen Diskriminierung gleichkam, sie sofort unter Generalverdacht zu stellen, wenn etwas passierte, womit wir nicht gerechnet hatten.
Ich hielt es für wahrscheinlicher, uns in unseren eigenen Reihen nach Verrätern umschauen zu müssen. Gerade die, die so für den Aufbruch der Aufklärungsmission am Tag des Angriffs auf die Stadt plädiert hatten.
Während wir mit der ADGD diskutierten, sagte ich darüber nichts. Ich war mir sicher, dass mein Vater nicht wollen würde, dass wir ihnen eine Schwachstelle auf unserer Seite eingestehen mussten.
Stattdessen überlegten wir hin und her, wie Alvar Kontakt zur Außenwelt halten konnte.
„Ihr habt Alvar unter Kontrolle?", fragte Angelina meinen Vater mit ernstem Blick.
Nach seinem Nicken tippte sie auf die Kreuzung des Flusses und sagte: „Ich will ein Treffen mit ihm. Hier."
Mein Vater schaute auf die Stelle, auf die sie gezeigt hatte, ohne eine Reaktion.
Angelina zog die Augenbrauen hoch und blickte zu Charlie, zu Oliver und dann zu mir.
Einige Minuten vergingen still, bis mein Vater endlich antwortete: „Das gefällt mir nicht."
„Habt Ihr einen besseren Vorschlag?"
Ich mochte sie. Sie war direkt, genauso wie Silas. Nur, dass sie den Rang besaß, sich das erlauben zu können.
„Ich werde mit Alvar reden", bestimmte mein Vater. „Wir verbinden uns technisch und ich spreche für Sie, während Sie seine Antworten hören."
Angelina begann zu schmunzeln. „Ich weiß es zu schätzen, dass Ihr mich schützen wollt, aber das wird nicht nötig sein."
Mein Vater schüttelte den Kopf. „Alvar wird nicht dazu im Stande, überhaupt ein Gespräch zu führen, wenn er Sie und ihre Begleiter riecht."
„Das könnten wir zu unserem Vorteil nutzen", argumentierte Angelina. „Ich spreche mit Alvar, Ezra macht ihn durch ihren Duft verrückt und Ihr passt auf, dass nichts passiert."
Mein Vater schaute noch immer auf die Karte herab. Er wiederholte: „Das gefällt mir nicht."
Wieder war es still. Angelina starrte meinen Vater abwartend an. Ihr Blick verlangte nach einem besseren Grund für seine Ablehnung und er tat so als würde er davon nichts mitbekommen.
Silas' Räuspern durchschnitt die Stille. Alle Blicke richteten sich zu ihm. Er hatte sich, zusammen mit Ben in einer der hintersten Reihen versteckt, nachdem alle, bis auf die Wachposten außerhalb der Hütte, ihren Platz darin gefunden hatten. Nun trat er einen zaghaften Schritt nach vorne und redete, ohne aufgefordert geworden zu sein.
„Wir könnten Talismane herstellen und die mit einem bestimmen Geruch belegen. Das dürfte Alvar ziemlich aus dem Konzept bringen, ohne ihm einen lebenden Blutbeutel direkt vor die Nase zu setzen."
Ich spürte, wie meine Mundwinkel nach oben stiegen. Selbst, wenn ich noch nicht wusste, wie die Reaktionen auf seine Idee ausfallen würden, fand ich gut, dass er sie beigetragen hatte. Ich war mir nicht sicher, ob ich in dieser Situation überhaupt den Mund aufbekommen würde ohne an meinem Stottern zu ersticken.
„Dafür brauchen wir einen Druiden mit Ausbildung", sagte Angelina.
Silas ging noch einen Schritt auf sie und den Mittelpunkt des Raumes zu. „Meine Oma kann das." Er tippte an seinen Ohrring. „Den hat sie mir zum Winterfest geschenkt. Alica und Boris haben auch einen. Er überdeckt unseren Jägergeruch für Erwachte."
Oliver tippte meinen Vater an und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Mein Vater hörte aufmerksam zu und nickte. Danach schob Oliver sich durch die Reihe an Soldaten vor der Tür und verließ die Hütte.
„Oliver setzt sich mit Edith in Verbindung", erklärte mein Vater. „Solange sollten wir uns überlegen, wie wir mit der Situation in der Stadt umgehen."
Angelina schaute auf die Tür, die sich hinter Oliver schloss und stimmte dem Themawechsel zu.
„Was hat Euer Informant dazu zu sagen?"
Sie schaute Tom an.
Er war die ganze Zeit über still hinter mir gestanden. Ich trat zur Seite, um ihm nicht im Weg zu stehen, aber er bewegte sich kein Stück.
Angelina begann zu schmunzeln. „Sei nicht schüchtern. Wir sind doch alle auf derselben Seite."
Toms Blick richtete sich von Angelina zum Boden und von dort zu mir. Ich deutete mit einem Nicken zum Tisch, um ihm klarzumachen, dass das seine Chance war zu scheinen.
Er schluckte, blieb dort stehen, wo er schon zu Beginn des Gespräches Position bezogen hatte und begann leise zu sprechen.
„Kyle, Kristin und ich waren vier Jahre dort. Wir hatten Ausweise, Akten, Bescheinigungen, alles, was man braucht. Ich denke, um die zu kriegen, muss Alvar Leute in den Ämtern haben. Für Geburtsbescheinigungen, in Krankenhäusern und jemanden, der ihnen Blut zukommen lässt. Sie haben es immer abgeholt, aber wo weiß ich nicht."
„Was war eure Geschichte?", wollte Angelina wissen.
„Wir haben behauptet, meine Eltern kommen aus den Ghettos und haben durch Glücksspiel eine Menge Geld gewonnen. Damit ich auf eine gute Schule kann, sind wir in die Innenstadt gezogen." Tom zuckte mit den Schultern. „Das hat nie jemand angezweifelt."
„Und wie kamst du in Kontakt mit den Alvar und seinen Leuten?"
Tom schaute zu mir, ohne den Kopf zu bewegen. Ich wusste nicht, warum er versuchte, bei mir Sicherheit zu finden. Ich hatte ihn ziemlich mies behandelt und ich war selbst misstrauisch ihm und seinen Intentionen gegenüber.
„Ich weiß nicht, wo ich herkomme", sagte er schließlich richtete den Blick zurück zu Angelina. „Ich leide unter einer Amnesie. Alles, woran ich mich erinnern kann, ist, dass Alvar mich in die Stadt geschickt hat und meinte, ich soll eine bestimmte Familie im Auge behalten und alles, was passiert, Kyle und Kristin berichten."
Angelina nickte verstehend. „Kyle und Kristin haben also zwischen Alvar und dir vermittelt? Sie haben den Kontakt hergestellt?"
„Ich weiß es nicht. Ich habe nur getan, was mir gesagt wurde."
„Und wir sollen dir glauben, dass du nie neugierig genug warst, herauszufinden, was mit den Informationen passiert, die du lieferst?"
Tom schaute auf den Boden und murmelte: „Das ist alles, was ich weiß."
Angelina kniff ihre Augen zusammen, aber bevor sie noch etwas sagen konnte, quietschte die Tür zur Hütte und Oliver kam herein.
Obwohl alle wissen wollten, was er zu sagen hatte, ging er gezielt zu meinem Vater und flüsterte ihm die Ergebnisse seines Gesprächs mit Edith ins Ohr.
Oliver wirkte nicht so, als sei er schon fertig, als mein Vater die Hand hob und ihn von sich schob.
„Es stellt sich heraus, dass es deutlich einfacher ist, einen Geruch zu überdecken als einen herzustellen", teilte er Angelina und somit auch allen anderen mit. „Was die Aufständischen an eurem Geruch reizt ist zudem nicht der Geruch an sich, sondern das Versprechen der Energie, die dahintersteckt. Diese Art von Energie kann nicht künstlich erzeugt werden."
Aber sie kann übertragen werden.
Ich hielt gespannt den Atem an. Ich konnte doch nicht der einzige sein, der sich daran erinnerte, wie die meisten der hier Anwesenden überhaupt entstanden waren. Jemand musste diese Verbindung herstellen und den Mut haben, sie auszusprechen.
Je länger der Raum in seiner Stille ertrank, desto stärker wurde der Druck in meiner Brust. Ich konnte mich nicht dazu bringen, den Mund aufzumachen, musste mich aber gleichzeitig davon abhalten, meine Gedanken hinaus zu prusten.
„Boris will seine Kraft loswerden", sagte Silas plötzlich. Erneut richteten sich alle Augen auf ihn. Er machte nochmal einen Schritt nach vorne, diesmal so, dass er knapp neben seiner Tante stand.
„Kraft ist Energie und Energie beeinflusst den Geruch, oder?" Er wartete keine Antwort ab. „Also, wenn wir die Energie von Boris' Kraft nehmen und daraus einen Talisman machen-"
„Das werden wir nicht tun", durschnitt Charlie Silas' Vorschlag.
„Boris will das", gab Silas zurück. „Und das weißt du ganz genau."
Charlie schüttelte den Kopf. „Er hat keine Ahnung, wovon er redet. Und du genauso wenig. Stell dich zurück an deinen Platz und halt den Mund."
Silas regte sich nicht. Charlie knurrte leise.
Mein Vater zog Charlie am Handgelenk zurück. Bis dahin hatte ich nicht registriert, wie er sich dem Tisch und somit Silas auf der anderen Seite davon, langsam angenähert hatte.
Gleichzeitig drehte sich Angelina zu Silas, nahm ihn an den Schultern und schob ihn daran einige Meter zurück, während sie ihm leise erklärte, dass es sich in dieser Art von Treffen für jemandem mit seinem Rang nicht gehörte, überhaupt hörbar zu atmen.
Silas wollte etwas dazu sagen, aber seine Tante schüttelte den Kopf und sagte leise, dass das Regeln seien, die er lernen würde.
Ich glaubte nicht, dass das möglich war. Silas Regeln bewusst zu machen war die eine Sache. Ihn dazu zu kriegen, sie zu befolgen, eine ganz andere.
Mit einem etwas zu fröhlichen Seufzen drehte sich Angelina zurück zu meinem Vater und nahm wieder ihren Platz am Tisch ein.
„Nun würde ich behaupten, ich habe lange genug auf Euren Vorschlag gewartet, die Artefakte aus der alten Kapelle zu nutzen, König Benedict."
Die Miene meines Vaters verfinsterte sich. Für jeden anderen dürfte das nicht auffällig gewesen sein, für mich jedoch, der kürzlich begonnen hatte, seine Masken zu durchschauen, spiegelte sich deutlichen Missfallen in seinem Ausdruck wieder.
„Die Artefakte gehören Euch, daran besteht selbstverständlich kein Zweifel", machte Angelina weiter. „Ihr könnt damit verfahren, wie es Euch beliebt. Ich frage mich nur, ob Ihr sie schon so lange verwahrt, dass Ihr nicht mehr daran denkt, welchen Wert sie haben könnten. Gerade für Alvar."
Mein Vater begann, den Kopf zu schütteln. „Ich weiß sehr gut, welchen Wert diese Artefakte für Alvar haben. Das ist der Grund, weshalb sie bleiben werden, wo sie sind."
„Nun", Angelina lächelte sorglos. „Das führt uns in eine Sackgasse, nicht wahr?"
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