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Silas

Als Kian mir diesmal die Hand hinhielt, ergriff ich sie und lies mich von ihm aus dem Bott ziehen. Ich hatte keine Hilfe gebraucht und alle anderen hatten es auch alleine ausgeschafft, aber ich nutze die Gelegenheit, seine Hand zu halten, gerne.

Er lächelte mich an, während sein Daumen über meine Fingerknöchel streichelte und ich erwiderte es.

Ich konnte es nicht erwarten, dieses Treffen hinter uns gebracht zu haben und mit Kian allein zu sein.

Ihn zu küssen war toll. Ich vergaß alles andere, wenn unsere Lippen sich berührten. Genau das war das Problem. Ich konnte darauf verzichten, mehr von Benedicts Gedanken zu hören, wenn ich Kian küsste. Klar konnte ich mich auch einfach zusammenreißen und mich konzentrieren. Aber das war nicht dasselbe. Ich wollte alles loslassen.

„Ihr werdet euch wohl zusammenreißen können, bis wir zurück im Palast sind", knurrte Benedict uns zu. Er stellte sich zwischen Kian und mich und schubste ihn an der Brust zurück.

Kian stolperte ein paar Schritte, fing sich aber schnell.

„Geht's noch?" Ich schaute Benedict fassungslos an, als ich an ihm vorbeieilte und zu Kian.

Es war ihm nichts passiert, aber es war auch nicht nichts passiert. Wenn Benedict Kian gegenüber ernsthaft handgreiflich werden sollte, konnte ich für nichts garantiert. Dabei war es mir egal, wie schlecht meine Chancen schon im eins gegen eins gegen Benedict standen. Noch dazu musste ich an Oliver und Charlie vorbei. Vielleicht sogar an Kian selbst.

Ich legte meine Hand auf Kians Brust, so als könnte ich den groben Stoß seines Vaters wegwischen. Ich wusste, er hatte ihm schon schlimmere Verletzungen zugefügt als das. Trotzdem tat es weh.

Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Benedict einen Schritt zu uns machte. Kian nahm mich an den Schultern und schob mich von sich weg. Er sagte: „Schon gut", aber ich wusste nicht, ob er sich damit an seinen Vater oder an mich richtete.

Ich tat es ungern aber ich hob beschwichtigend die Hände und lief von Kian weg. Am liebsten hätte ich dabei vor Benedict auf den Boden gespukt. Keine Ahnung, was mich davon abgehalten hatte. Dieser Mann brachte meine schlimmsten Seiten hervor.

„Es ist niemand außer uns hier", hörte ich Kian zu Benedict sagen.

Sein Vater schnaubte. „Das macht es nicht besser."

Ich ballte meine Hände zu Fäusten und versuchte, mich durch schnelle Schritte weiter von ihrer Konversation zu entfernen. Je weniger ich davon mitbekam, desto besser.

Charlie und Oliver führten Ben und Tom durch den Wald. Etwa einen Kilometer südöstlich von unserem Standort sollte die Hütte liegen, in der wir uns immer mit der ADGD trafen. Ben und Tom waren wieder bei Bewusstsein, wenn auch noch ein wenig benommen. Auf mich hatte der Schutzwall keine Wirkung mehr.

Charlie schaute immer wieder zurück zu Benedict und Kian.

„Ich habe Benedict noch nie so erlebt", schob Oliver Charlie möglichst leise zu. Ich lief ein Stückchen hinter ihnen. Sie mussten davon ausgehen, ich konnte sie nicht hören. Sonst würden sie niemals so offen über ihren König reden.

„Ich weiß nicht, was mit ihm los ist zurzeit", gab Charlie zurück.

Oliver hatte alarmiert geklungen, Charlie dagegen besorgt.

Ich steckte mir die Hände in die Hosentaschen und versuchte, auch da nicht hinzuhören. Mir war klar, dass Benedict schlimme Jahre hinter sich hatte. Seine Frau war langsam vor sich hingestorben und keiner hatte gewusst, was mit ihr los war. Austin hatte für fast 10 Jahre versucht, sie zu heilen, aber den Prozess dadurch nur verlangsamt. Wir hatten rausgefunden, dass Victoria vergiftet worden war, hatten aber keine Ahnung womit oder von wem. Der Rat, der Benedict unterstützten solle, schoss bei jeder Gelegenheit gegen ihn und seine Entscheidungen, uns Menschen zu helfen. Benedict versuchte uns vor den Aufständischen zu beschützen. Er hatte so lange für den Frieden gekämpft, während die Menschen in der Stadt geglaubt hatten, er und seine Leute seien der Feind. Nun hatte er die Kontrolle verloren. Alvars Leute waren in der Stadt und taten, was sie wollten und Kian entwickelte Gefühle, die Benedict nicht nachvollziehen konnte und wollte.

Dieser Mann hatte einen Haufen Scheiße mit sich herumzutragen. Aber ich würde ihn deshalb nicht wie eine explosive Ladung zu behandeln, die bei der kleinsten Erschütterung in die Luft gehen würde.

Ich war bereit, Kian nicht vor seinen Augen die Zunge in den Hals zu schieben. Ich war bereit, in der Öffentlichkeit so zu tun, als wären Kian und ich bloß Freunde. So als würde ich hinter seiner Verlobung zu Maddy stehen und hinter allem, was das Königshaus tat. Aber ich war nicht bereit, bei jede meiner Taten danach abzuwägen, ob sie Benedict belasten würden. Das tat er für mich auch nicht. Das tat er nicht einmal für seinen Sohn.

Verdammt, es wäre so viel leichter, Benedict  hassen zu können. In seiner Gegenwart fühlte ich mich schmutzig und abstoßend. Er schaute auf mich herab und er machte mir bei jeder Gelegenheit deutlich, dass meine Meinung oder mein Leben für ihn keinen Wert hatten. Nicht einmal, dass ich seinen Sohn zum Lächeln bringen konnte, reichte ihm als Grund, mich annähernd mit dem Respekt zu behandeln, den er für sich selbst verlangte.

Es fiel mir unglaublich schwer, mich davon abzuhalten, ihm den Spiegel vorzuhalten. Er  gar nicht zu verstehen, was er eigentlich tat. Zumindest konnte ich mir nicht vorstellen, dass jemand sich für einen guten König halten konnte, wenn ihm klar war, dass er seinen eigenen Sohn emotional und körperlich misshandelte. Egal, welche "Gründe" er auch hatte.

Kurz bevor wir die Hütte erreichten, kamen Tom und Ben wieder ganz zu sich. Ben war ein bisschen übel, daher blieb ich draußen mit ihm an der frischen Luft, während die anderen reingingen.

Als Kian an mir vorbeilief, versuchte ich in seinem Blick zu erkennen, was in ihm vor sich ging, aber er hatte für einen eigenen Schutzwall gesorgt, durch den ich ohne große Interaktion nicht hindurchsehen konnte.

„Irgendwie ist es schön hier", meinte Ben nach einer Weile. Er legte einen Arm um meine Schultern und lehnte sich an mich.

„Mhm", machte ich.

An dem Tag, als wir vom Frieden erfahren hatten, hatte ich begonnen, mich aus der Stadt zu schleichen, um im Wald alleine zu sein. Anfangs hatte ich sichergehen wollen, dass die Kämpfe wirklich vorbei waren. Ich hatte ein lächerliches Taschenmesser dabeigehabt und mich langsam von Baum zu Baum geschlichen, ständig in der Erwartung, jeden Moment zerfetzt zu werden. Ein Teil von mir hatte gehofft, das würde passieren.

Als ich begriffen hatte, dass der Krieg wirklich vorbei war, hatte sich die seltsame Vorstellung in meinem Kopf breitgemacht, dass noch ein paar „Vampire" herumrennen und mich finden würden, wenn ich nur oft genug in den Wald ging und tun würden, wozu ich selbst nicht im Stande war.

Nach ein paar Besuchen im Wald hatte ich begonnen, etwas Schönes darin zu finden. Ich hatte mich über jedes Tier gefreut, das ich gesehen oder gehört hatte. Mir war klar gewesen, dass wir in der Stadt eine eigene kleine Welt erschaffen hatten, die mit der Natur nicht mehr viel zu tun hatte. Es hatte mir gefallen, an einem Ort zu sein, der nicht geplant und berechnet gewesen war. Einem Ort, an dem es keine Gedanken gab.

Ich hatte mich immer weiter in den Wald gewagt. Immer weiter voran. Hatte mehr und mehr neue Pflanzen entdeckt und Bereiche, die schon seit Jahren keiner mehr betreten haben musste. Welche, die sogar von den Kämpfen unberührt geblieben sein mussten.

Auf einem meiner Streifzüge weiter in den Norden, als ich jemals zuvor gegangen war, hatte ich Kian kennengelernt. Auf meinem Weg zurück in die Stadt hatte ich meine Umgebung so aufmerksam beobachtet wie lange nicht mehr. Gehofft, er würde mich verfolgen und wir könnten nochmal reden.

Danach hatte ich immer wieder versucht, den Platz zu finden, an dem wir uns getroffen hatten, aber ich hatte Kian dort nie wiedergesehen.

Ein Jahr später in der Schule hatte ich ihn jedoch sofort erkannt. Ich hatte ihn einfach nicht vergessen können. Für mich war er der personifizierte Beweis dafür gewesen, dass, was wir über den Krieg gelernt hatten, Lügen und Propaganda waren. Und das, obwohl ich die Bestien, gegen die uns die Mauern schützen sollten, mit eigenen Augen gesehen hatte.

Ich hatte gewusst, dass Kian nicht so war wie die. Dass er niemals so sein könnte. Und jetzt, nochmal beinahe ein Jahr später wusste ich sogar, dass nicht mal diese Bestien Bestien waren. Wenn Erwachte verletzt wurden und mit ihrem Blut die Kontrolle über ihren Körper verloren, dann konnten sie nichts dafür, was sie in diesem Zustand taten. Nicolo hatte gesagt, die meisten der Untoten entstanden dadurch, dass Menschen Erwachte im Krieg falsch umbrachten. Sie hatten nicht das Wissen dazu.

Sie wussten ja nicht einmal, dass es Erwachte waren. In der Stadt nannte man sie noch immer Vampire. Man sah mystische Wesen in ihnen, die uns aussaugen wollten. Die wenigsten Menschen schrieben den Erwachten ein Bewusstsein zu, schon gar kein Gewissen.

Spätestens, als ich Kian im Wald getroffen hatte und er mir klargemacht hatte, dass sie sich Erwachte nannten, war mir klargeworden, dass wir nicht einmal wussten, gegen wen wir diesen Krieg geführt hatten. Wir hatten Väter, Mütter, Brüder, Familie und Freunde verloren, weil wir zu ängstlich gewesen waren, die Waffen wegzulegen und mit den Erwachten zu reden.

Erst, als uns klargeworden war, dass es nicht ewig so weitergehen konnte, hatten unsere Politiker beschlossen, dass es an der Zeit war, nach anderen Möglichkeiten zu suchen. Sie hatten verstanden, dass wir den Krieg nicht gewinnen konnten und, dass so weiterzumachen wie bisher, unseren sicheren Tod bedeuten würde. Den Untergang der Menschheit.

Die Stadt glaubte bis heute, die Erwachten hätten dem nur wegen den Blutspenden zugestimmt. Uns war vermittelt worden, dass wir Blut abgeben mussten, damit die „Vampire" keinen Grund hatten, in der Stadt einzufallen und sich das Blut selbst zu holen. Sie brauchten uns für uns Blut und wir brauchten ihr Erbarmen.

Das Ganze hätte auch anders enden können. So wie die Aufständischen sich die Welt vorstellen. Erwachte an der Spitze und die Menschen als lebende Drinks, an denen sie sich jederzeit bedienen könnten.

Kian hatte mir nicht viel über die Aufständischen und ihren Anführer erzählt. Als mich über meine Familie aufgeklärt hatte, hatte Kian Alvar und seine Agenda nur in einem Nebensatz erwähnt. Zu dem Zeitpunkt war es für mich nicht wichtig gewesen, mehr über sie zu erfahren und Kian hatte vermutlich gehofft, mich durch mein Unwissen so weit wie möglich schützen zu können.

Sowie mit meinem Tod. Er hatte mir keine Angst machen wollen. Aber nichts von der Gefahr zu wissen, ließ sie nicht verschwinden.

Ich hatte vor, Informationen aus allen möglichen Quellen zu beziehen und so auf meine Weise zu begreifen, womit wir es zu tun hatten. Dazu brauchte ich nicht nur Kians und Charlies wissen, und alles, was ich in den verstaubten Büchern der Bibliothek im Palast finden konnte, sondern auch die Sicht der ADGD. All dem musste eine Geschichte zugrunde liegen. Eine Wahrheit, die mal wieder keiner aussprechen wollte.

Wir hörten ihre Autos und Motorräder bevor wir sie sehen konnten. Ben richtete sich auf und nahm den Arm von mir, als die schwarzen Fahrzeuge um die Hütte herum hielten. Fast so als wollten sie sie umzingeln.

Charlie öffnete die Tür und ließ Benedict und Kian heraustreten.

Die ADGD lief mit etwa 20 Personen auf. Arian stach mit seiner Größe und den hellen Haaren sofort raus. Hinter waren Cédric, Nicolo und Ezra, die ihm wie Entenbabys folgten. Nicolo nickte mir zu, als er mich erkannte und Ezra begann zu grinsen und versuchte, subtil zu winken.

Ben lächelte, als er seine Kollegen sah. Es lag etwas sehr Trauriges darin.

Ich nahm seine Hand und drückte einmal fest zu. Er sollte wissen, dass er bei mir Unterstützung finden konnte, wenn er sie wollte. Er musste nicht an diesem Treffen teilnehmen und darüber nachdenken, wie und warum seine Eltern getötet worden waren. Ich konnte mit ihm hier draußen bleiben und in den Wald schauen, während sich 25 andere den Kopf darüber zerbrachen.

Ben erwiderte den Druck und warf mir ein leichtes Lächeln zu. Fast so als wolle er sagen: Ich schaffe das.

Ich wusste, dass er das konnte. Aber er sollte wissen, dass er es nicht musste.

Statt sich in der Hütte zu versammeln, blieben die Soldaten in Reihen vor dem Eingang steht. Ich versuchte zu erkennen, worauf sie warteten, und bemerkte eine Person, die sich durch die Menge bewegte. Sie war kleiner als die meisten Männer um sie herum, aber größer als die meisten Frauen. Ihre schwarzen Haare waren zu einem strengen Zopf gebunden und ihre Lippen von einem dunklen rot geziert. Auch ohne es zu gehört zu haben, wusste ich, dass das meine Tante war. Angelina Paladino.

Es war seltsam, die kleine Schwester meiner Mutter so zu sehen. Ich kannte sie von Kinderbildern und aus Erzählungen von meinem Vater. In meinem Kopf war sie noch ein kleines Mädchen gewesen, das ihre große Schwester viel zu früh verloren hatte. Aber sie war erwachsen. Sogar älter als meine Mutter es geworden war.

Es wurde sofort deutlich, dass sie den höchsten Rang der Anwesenden hier haben musste. Keiner rührte sich, während sie auf Benedict zuging und sich ihm vorstellte.

Benedict überging seine eigenen Regeln, indem er nicht darauf beharrte, sich durch Dritte vorstellen zu lassen, sondern direkt darauf einging.

Isabella gab jedem der Vertreter des Königshauses die Hand. Erst Benedict, dann Charlie und dann Kian. Dann ließ sie sie stehen und kam zu Ben und mir.

Meine Handflächen begannen zu schwitzen. Ich hatte sie erkannt, aber ich wusste nicht, ob wie mich erkennen würde. Ich hatte keine Ahnung, wie ich sie begrüßen sollte, ihr die Hand geben, sie umarmen oder erstmal nur nett lächeln. Nicolo hatte zu wenig von seiner Mutter erzählt, um mir klarzumachen, wie sie drauf war.

Dass sie mich zunächst komplett ignorieren würde, hatte ich nicht erwartet. Sie ging wortlos zu Ben und umarmte ihn. Er beugte sich etwas herunter, um die Umarmung zu erwidern und ließ sich von ihr über den Hinterkopf streicheln.

„Es ist alles geregelt", flüstert sie ihm zu. Keiner außer Ben und mir konnte es hören. „Der Disziplinarausschuss wird dich später befragen. Du sagst, du warst auf meinen Befehl hin bei deinen Eltern und mehr darfst du nicht sagen."

Ben nickte und sie lösten sich voneinander. Sie lächelte ihn an und drehte sich dann zu mir.

„Und du bist Silas, mh?"

Ich nickte.

„Du siehst Isabella sehr ähnlich." Sie hob die Hand und wickelte eine meiner Locken um ihren Finger. „Vor allem die Haare."

Ich schaute unsicher zu Ben. Er grinste bloß, ohne mir einen Hinweis darauf zu geben, was ich tun oder sagen sollte. Verräter.

„Ben meinte, die werden abrasiert, wenn ich euch beitrete", meinte ich, ohne zu wissen, worauf ich damit hinauswollte.

Angelina zog die Augenbrauen zusammen. Sie schaute zu Ben, ihre Augen weiteten sich und sie begann zu lachen.

„Ach, das haben wir bloß behauptet, weil er so eitel war."

„Was?!", kreischte Ben völlig entsetzt.

Angelina grinste mich an und zeigte mit den Daumen auf Ben. „Siehst du?"

Ich versuchte, mein Lachen zu unterdrücken, während ich nickte.

Das klang nach einer Familie, in der ich mich sehr wohlfühlen würde.

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