41

Silas

Kälte zog sich über meinen Körper. Ich drückte mich in die gewärmte Stelle der Matratze und zog die Beine an. Es half nichts.

Die erste Nacht in meinem eigenen Gemach war kalt gewesen, die Decke dünn und das Bett zu groß. Trotzdem hatte es mir gutgetan, mit meinen Gedanken allein zu sein. Auch, wenn ich sofort eingeschlafen war und nicht hatte zu großen Erkenntnissen kommen können. Jetzt, am frühen Morgen, hatte mein Hirn wieder Kapazität, um, was passiert war, zu verarbeiten und, was passieren würde, zu realisieren.

Nach einem Blick auf mein Handy beschloss ich, zu Kian zu gehen. Wir mussten unbedingt miteinander reden. Da er, genauso wie ich, mit zu dem Treffen mit der ADGD sollte, würde er spätestens in einer halben Stunde geweckt werden, um noch richtig wachwerden, frühstücken und sich fertig machen zu können.

Selbst, wenn die Zeit nicht reichen würde, alles auszusprechen, was ich zu sagen hatte und alles zu hören, was Kian loswerden wollte, fand ich die Vorstellung schön, ihm zumindest einen guten Morgen gewünscht zu haben, bevor der Tag losging.

Ich klopfte mehrmals an seine Tür und wartete. Als er nicht reagierte, beschloss ich, die Tür einfach zu öffnen und zu schauen, ob er noch im Bett lag. Vielleicht erwischte ich ihn ja wieder beim Baden.

Sein Bett sah noch genauso aus, wie ich es gestern verlassen hatte, stellte ich schnell fest. Im Bad war er auch nicht.

Mein Blick fiel auf das Waschbecken. Den Becher daneben. Es standen zwei Zahnbürsten darin. Eine blaue und eine grüne. Die grüne gehörte Kian, die blaue mir. Wie unsere Handschuhe.

Ich musste lächeln, als ich mich daran erinnerte, wie routiniert wir vor seiner Reise miteinander aufgestanden waren. Jeden Morgen, für etwa eine Woche, waren wir minutenlang vor der geschlossenen Tür gestanden und hatten einander im Arm gehalten, bevor er sich um seine Vorbereitungen gekümmert hatte und ich in die Schule gegangen war.

Meistens hatten wir uns den gesamten Tag über nicht gesehen und er war spät nachts ins Bett geschlüpft. Durch Kissen und Decken hatten wir eine Barriere zwischen uns aufgebaut, sodass wir nebeneinander schlafen könnten, ohne uns zu berühren. Zusätzlich dazu hatte Kian immer eine lange Hose, Socken, einen Pullover mit langen Armen und seine Handschuhe getragen. Ich hatte das schon damals für übertrieben gehalten.

Jetzt, wo wir uns geküsst hatten, ohne dass irgendetwas passiert war, verfluchte ich die verschenken Gelegenheiten, unvergessliche Nächte mit ihm zu verbringen.

Ich wusste nicht, was sich geändert hatte. Warum er mich nun doch berühren konnte, ohne mich beißen zu wollen. Aber, wenn ich ihn davon überzeugen wollte, das zur Gewohnheit werden zu lassen, musste ich definitiv herausfinden, was dahintersteckte.

Dass ich keine Angst davor hatte, von ihm gebissen zu werden, änderte nichts an seiner Angst davor, mich zu beißen. Das waren zwei völlig unterschiedliche Dinge, die anscheinend keinen Einfluss aufeinander hatten.

Nachdem ich mir die Zähne geputzt und das Gesicht gewaschen hatte, bediente ich mich an Kians Kleiderschrank. Boris hatte zwar noch Klamotten von mir, aber ich redete mir ein, ihn und Charlie nicht aufwecken zu wollen. In Wahrheit mochte ich es einfach, in Kians viel zu großen Klamotten zu versinken. Und mit einem passenden Gürtel sahen seine Hosen an mir ganz lässig aus.

Es gab vier Reaktionen, die die Leute am Hof auf Kians Klamotten an mir haben konnten. Erstens:

Sie bemerkten nicht, dass es seine waren.

Zweitens: Es war ihnen egal.

Drittens, und das erhoffte ich mir von Kian: Er würde sich darüber freuen. Es vielleicht süß finden. Meine Botschaft erkennen, dass wir, selbst, wenn wir tausend Dinge zu besprechen hatten, vertraut miteinander sein durften.

Viertens, und das könnte Benedicts Reaktion entsprechen: Missfallen. Ablehnung. Das würde ich vielleicht sogar mehr genießen als Kian ein Signal der Vertrautheit zu senden.

Benedict konnte gerne wissen, dass er den Kampf um seinen Sohn nicht gewonnen hatte. Selbst, wenn Kian alles tun würde, was er verlangte, wäre ich immer ein nervendes Biest, das ihn daran erinnern würde, dass Kian das Recht hatte, eigene Entscheidungen zu treffen. Solange Kian mir nicht glaubhaft machte, dass ich ihm nichts bedeutete und solange er mir etwas bedeutete, würde ich immer da sein, um ihm zu zeigen, dass er mehr was als ein Prinz und, dass er mehr sein dürfte als was sein Vater ihm erlaubte.

Ich machte mich auf den Weg in die Bibliothek. Wenn Kian nicht in seinem Gemach war, dann verlor er sich entweder zwischen den Büchern oder er hatte nicht warten können, bis das Frühstück zu ihm gebracht wurde und mampfte vor Stress die Küche leer.

Es war seltsam, durch die Flure zu gehen und mich auszukennen. Vor einem halben Jahr war ich noch davon überzeugt gewesen, ich könnte mich hier niemals zurechtfinden. Alles hatte für mich gleich ausgesehen. Nun war ich schon so oft und so lange hier gewesen, dass meine Füße von ganz alleine wussten, wohin.

Die Wachen nickten mir zu, als ich ihnen ein unverfängliches Lächeln schenkte. Sie hielten mich für einen normalen Menschen, der aus Gründen, die sie weder hinterfragen durften noch wollten, im Palast herumspazieren durfte.

Eigentlich war ich das ja auch. Es gab keinen Grund, mir gegenüber misstrauisch zu sein, zumindest keinen, von dem ich wüsste. Der Talisman meiner Oma sorgte dafür, dass ich einen unbesonderen Geruch mit mir herumtrug.

Zwei Stimmen, die um die Ecke hallten, brachten mich dazu anzuhalten. Ich konnte beide sofort identifizieren.

„Ich will ihm nicht wehtun müssen", sagte Benedict. Seine Stimme hörte sich kräftiger an als die von meiner Cousine. Ebenso wie seine Schritte.

„Das ist der einzige Grund, weshalb ich versuche zu helfen", machte sie ihm klar. „Und danach gehen wir endlich zurück nachhause."

„Oliver hat mich gebeten, euch solange hier bleiben zu lassen, bis wir garantieren können, dass es in der Stadt für euch sicher ist."

„Auf unserem Grundstück ist es sicher."

„Aber außerhalb davon nicht. Wollt ihr wirklich riskieren, euch belagern zu lassen?"

Meine Cousine schnaubte. „Als würde Sie das interessieren. Wir sind Ihnen nur solange wichtig, wie wir Ihnen nützlich sind."

„Das ist nicht schön zu hören, nachdem ich euch Monatelang in meinem Heim beherbergt und mit allem versorgt habe, was ihr verlangt habt."

Ich fragte mich, was Benedict erwartete. Einen Dank? Ich meine, klar hatte er viel für uns getan. Aber im Gegenzug hatte meine Oma sich um seine Frau gekümmert und so wie es aussah, profitierte er auch von Alica in irgendeiner Art und Weise.

Sie näherten sich mir immer weiter an. Ich konnte nicht verhindern, dass sie um die Ecke biegen und mich sehen würden. Daher lief ich ein paar schnelle Schritte zurück und versuchte so zu tun als würde ich ihn gerade erst entgegenkommen.

Alica war gerade dabei gewesen, zu einer Antwort anzusetzen, stockte aber, als sie mich sah. Sie tauschte einen kurzen Blick mit dem König aus, ehe sie bei mir stehen blieb und mich fragte, was ich schon auf den Beinen machte.

„Ich habe später ein Date mit deinem Begleiter hier." Ich warf Benedict ein falsches Lächeln zu, ehe ich mich wieder meiner Cousine zuwandte. „Was macht ihr?"

„Ich wüsste nicht, was dich das angeht."

Alica und ich sahen einander an. Ich riss mich zusammen, um meine Augen nicht zu verdrehen und beschloss, Benedict einfach zu ignorieren. Immerhin redete ich nicht mit ihm. Dann sollte er auch nicht mit mir reden.

Ich legte den Kopf schief und fragte Alica: „Es gibt angenehmere Gesellschaft für Spaziergänge am Morgen, meinst du nicht?"

Mir war klar, dass sie mir nicht sagen würde, warum sie sich mit Benedict herumtrieb. Er hatte klargemacht, dass das geheim bleiben sollte. Sie wusste, dass ich ihr keine Lüge abkaufen würde und ich konnte nicht anders als Benedict das ebenso klarzumachen.

Es gefiel mir nicht, wie herablassend er sie behandelte, wo er doch offensichtlich etwas von ihr brauchte. Genauso wenig, wie er wollte, dass ich Kian nahe war, wollte ich, dass er Zeit mit meiner Familie verbrachte. Da konnte nichts Gutes bei rauskommen.

„Wir müssen weiter", drängte Benedict. Er legte seine Hand an Alicas Schulter und schob sie an mir vorbei. Sie lächelte mich an, so als würde sie mir versichern wollen, dass alles in Ordnung sei.

Ich zog tief die Luft ein, um mich davon abzuhalten, Benedicts Hand von ihr zu prügeln und setzte meine Suche nach Kian fort. Vielleicht konnte er mir sagen, was sein Vater von meiner Cousine wollte.

Weder in der Bibliothek, noch in der Küche fand ich ihn. Ich beschloss, es nochmal in seinem Gemach zu versuchen, aber er war weiterhin nicht zu finden.

Langsam machte ich mir sorgen. Wir mussten uns in zehn Minuten mit Benedict am Eingang des Palastes treffen. Meine Hoffnung, er sei bereits dort, wurde ebenfalls enttäuscht. Charlie kam kurz nach mir an. Er hatte Ben im Schlepptau.

„Guten Morgen, liebe Sorgen!", rief er mir über den Flur hinweg zu. Seine Stimme schlug in der Eingangshalle Wellen und er blickte sich erstaunt um. „Es ist so cool hier. Glaubst du, Benedict nimmt mich als Mätresse oder soll ich es doch mal bei Victoria versuchen?"

„Die beiden sind Gefährten."

Es überraschte mich, dass Charlie sich die Mühe machte, darauf zu antworten.

„Oh, es kann sprechen", scherzte Ben und grinste zu Charlie hoch.

Er zog bloß seine Augenbrauen nach oben und gab einen herablassenden Blick zurück.

Ben zog eine Grimasse und fragte mich: „Was heißt das mit den Gefährten genau?"

„Das ist sowas wie Seelenverwandtschaft. Charlie kann das besser erklären als ich."

Wir beide blickten zu dem Riesen, der sich umsah, so als würde er nicht hören, dass wir über ihn redeten.

„Ich glaube, er kann mich nicht leiden", vermutete Ben.

„Selbst schuld, wenn du dich immer sofort unbeliebt machst."

„Ich bin einfach nur ich." Ben zog einen Schmollmund.

Ich tätschelte ihm die Schulter, hielt es aber nicht für nötig, weiter auf seine Spielchen einzugehen.

Stattdessen wandte ich mich an Charlie. „Weißt du, wo Kian ist? Ich konnte ihn nirgends finden."

Charlie nickte zur Tür des Foyers, von dem aus man in alle Richtungen des Palastes verschwinden konnte. „Er ist auf dem Weg."

„Woher-"

Bevor ich meinen Satz beenden konnte, sah ich Kian durch die Glasscheibe die Treppen herunterrennen. Als er uns erfasste, wurde er langsamer.

Er zog sein Handy aus der Hosentasche, während er die Tür öffnete, warf einen Blick auf den Blickschirm und fragte uns: „Wo ist mein Vater?", während er auf uns zulief.

„Der ist vorhin mit Alica rumgelaufen", meinte ich. „Ich glaube in Richtung Keller."

Kian zog die Augenbrauen zusammen, sagte dazu aber nichts. Er schaute nochmal auf seinen Bildschirm. Die Uhr darauf zeigte an, dass Kian bereits fünf Minuten zu spät war.

„Kannst du nachschauen, wo er bleibt?", fragte Kian Charlie.

„Geben wir ihm noch ein paar Minuten. Er ist schon gestresst genug."

Kian nickte und steckte sein Handy weg. Dabei schaute er sich in alle Richtungen um, so als würde sein Vater plötzlich in der Luft auftauchen.

Ich musterte Kian gesamte Zeit über. Er sah besser aus als die letzten Tage. So als würde es ihm bessergehen.

Kurze Zeit später stießen Oliver und Tom dazu und entschuldigten sich für die Verspätung. Auch Oliver war überrascht, dass Benedict noch nicht hier war.

Ich begann zu vermuten, dass, was auch immer er mit Alica trieb, nicht nur vor mir geheim sein sollte.

„Ich muss kurz mit dir reden", meinte ich zu Kian.

Zum ersten Mal an diesem Morgen, sah er mir ins Gesicht. Er blickte sich um, nickte dann und schob mich ein paar Meter von den anderen und von den Wachen an der Türe weg.

„Ich will auch mit dir reden", sagte er, ohne die Hand von meinem Arm zu nehmen. „Aber mir wäre es lieber, wenn wir das ruhiger machen könnten und ein bisschen... Privater." Er schaute zu Charlie und ich wusste, dass er unser Gespräch hören konnte, selbst, wenn wir flüsterten.

„Es geht nicht um uns", erklärte ich, schüttelte aber sofort den Kopf. „Doch auch. Aber nicht jetzt."

Kian schien für einen Moment verwirrt, nickte aber nach meinem letzten Wort. „Sobald wir zurück sind, okay?"

Ich nickte ebenfalls. Er begann zu lächeln und wie von allein erwiderte ich es. Es war grausam, in seiner Nähe so wenig Kontrolle über mich selbst zu haben. Ich hatte mit ihm über Benedict reden wollen, keinen Termin für ein Gespräch über unsere Beziehung oder was auch immer es war, ausmachen.

Ich wusste nicht, wie lange wir knapp nebeneinanderstanden und ich versuchte, mich daran zu erinnern, was ich vorgehabt hatte. Kians Augen, die ständig auf meine Lippen fielen, und dabei zu funkeln begannen, brachten mich total aus dem Konzept. Die Wärme seiner Hand auf meinem Arm und, dass ich seinen vertrauten Geruch wahrnehmen konnte. Oder wohl eher die Tatsache, dass er heute anders roch. Blumiger.

Kian riss seinen Blick aus meinem und richtete sich auf. Dadurch wurde mir bewusst, dass er sich im Gespräch zu mir heruntergebeugt hatte.

Benedict warf uns einen emotionslosen Blick zu, als er an uns vorbei zu den anderen lief und meinte: „Lasst uns aufbrechen."

Kian und ich schlossen uns ihnen an. Ben und Tom warteten auf uns und wir liefen in einer Reihe hinter Charlie, Oliver und Benedict her. Fast so als wären wir ihre Hunde und sie hätten uns an der Leine.

Ich schnaubte bei dem Gedanken. Das würde Benedict wohl gefallen.

Wir verließen den Palast und gingen an der äußeren Mauer des Gebäudes entlang. Es führte ein schmaler Pfad aus Kieseln an den Hecken des Palastgartens vorbei und zu einem schmalen Fluss, der in der Nähe zur Stadt immer breiter wurde.

Kurz bevor wir den Steg erreichten, ließ Oliver sich zu uns zurückfallen und fragte Kian, wo er heute Morgen gewesen sei. Er hätte versucht, ihn zu finden.

„Ich habe bei Maddy geschlafen", erklärte er.

Ich schaute nach unten, merkte aber, wie ich meine Augenbrauen zusammenzogen. Wir hatten uns gestern Abend an seiner Tür verabschiedet. Er hatte nicht den Eindruck gemacht, als hätte er vorgehabt, danach noch etwas zu unternehmen. Er hatte sich mit mir ins Bett legen wollen. Ich konnte mir nicht erklären, wie er bei Maddy gelandet war.

„Oh." Auch Oliver schien überrascht. „Ja dann." Er klopfte ihm auf die Schulter und machte auf dem Steg Platz, damit wir uns in das Boot setzen konnten.

Kian ging zuerst rein. Er hielt mir die Hand hin, aber ich tat so als hätte ich es nicht gesehen und setzte mich auf die vorderste Reihe des Bootes. Ben nahm neben mir Platz und beugte sich zu mir.

„Ärger im Paradies?" Seine Worte klangen neckend, seine Stimme aber besorgt.

Ich schüttelte den Kopf, wusste selbst nicht, was in mich gefahren war. Kian hatte die Nacht bei seiner Verlobten verbracht. Das war kein Grund für irgendjemanden, verletzt zu sein.

Vielleicht lag es daran, dass er mich zuvor gefragt hatte, ob ich die Nacht mit ihm verbringen wollte. Vielleicht fühlte ich mich schlecht, weil ich ihn abgewiesen hatte. Oder ich war wütend, weil er sich, was er von mir nicht bekam, jederzeit bei Maddy holen konnte. Vielleicht fand ich es unfair ihr gegenüber. Vielleicht war ich ein verdammter Heuchler, der nur Wert auf die Gefühle von anderen legte, wenn es ihm selbst beschissen ging.

Keine Ahnung. Eigentlich war das nicht wichtig, zumindest nicht jetzt. Wir hatten vor, uns mit der ADGD zu treffen. Wir wollten herausfinden, was es mit den Aufständischen in der Stadt auf sich hatte und wie wir mit diesem Problem verfahren wollten. Danach konnte ich immer noch über Kian nachdenken. So wie ich es ja eigentlich immer tat.



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