40

Kian

Als ich mein Zimmer vor ein paar Stunden verlassen hatte, saß Silas auf meiner Bettkante. Ich hatte es verdammt eilig, aber konnte es nicht lassen, ihm einen letzten Blick zuzuwerfen. Er machte: „Husch husch" und deutete durch eine Handbewegung, dass ich gehen sollte. Er hatte gelächelt. Und ich hatte gelächelt. Die ganze Welt hatte gelächelt.

Nun war mein Zimmer leer. Es war dunkel geworden. Ich

schaltete das Licht an und lehnte mich in der gleichen Bewegung mit den Händen an die Wand. Meine Stirn sank gegen den kalten Putz. Ich atmete tief durch und wiederholte Silas' Worte für mich selbst: „Es ist alles gut."

Es war nicht alles gut. Aber was gut war, war genug.

Silas war am Leben. Er war hier, in Sicherheit. Er hatte einiges zu verarbeiten und er brauchte Zeit für sich, aber er war okay. Seine Verletzung würde heilen.

Es brauchte einen weiteren tiefen Atemzug, bevor ich die Kraft fand, mich aufzurichten.

Ich erkannte das Handtuch, das ich vorhin von mir gerissen hatte neben meinem Fuß und begann zu grinsen.

Wir hatten uns geküsst. Wir hatten uns berührt. Wir hatten uns ausgezogen. Ich war auf ihm gelegen. Ich hatte seine Härte gespürt. Die Bewegungen seiner Hüften, als er sich an mich gedrückt hat. Seiner Finger, als er sie in meine Haut gekrallt hatte. Ich hatte sein Stöhnen gehört. Lust in seinen Augen gesehen. Sein gesamter Körper hatte vor Erregung geschrien.

Ich hob das Handtuch auf und warf es in den Wäschesack im Bad. Im Waschbecken lag noch immer das Handtuch, mit dem ich Silas gewaschen hatte. Damit putzte ich die Blutflecke auf der Armatur weg.

In den letzten Tagen war so viel passiert, aber das einzige, was ich davon wirklich beschäftigte, war, dass Silas von seinem Tod wusste. Er wusste, dass er sterben würde und er wusste, wie er sterben würde. Maddy hatte ihm gesagt, dass ich ebenfalls wusste und dass ich versuchte, es zu verhindern.

Ich hätte damit rechnen müssen, dass sie früher oder später ehrlich zu ihm sein würde. Maddy war nicht gut darin zu lügen. Nicht einmal, was unsere Verlobung anging. Auf die meisten musste es zu wirken, als mache die ganze Aufmerksamkeit sie nervös. Aber alle, die sie kannten, wussten, dass sie eine grauenvolle Lügnerin war.

Ich beschloss, sie darüber aufzuklären, dass Silas mich konfrontiert hatte. Nicht, um ihr Vorwürfe zu machen. Nur, damit sie es wusste. Womöglich war ich ihr ein wenig dankbar dafür, dass sie getan hatte, wozu ich nicht die Kraft gefunden hatte.

Ich hatte mich und alle anderen davon überzeugt, dass es für Silas das beste war, nichts von der Vision zu erfahren. Es so dargestellt, als würde er mit diesem Wissen nicht umgehen können und als würde das dafür sorgen, dass er nur noch in Angst leben musste. Dabei hatte ich das für mich getan. Weil ich nicht damit umgehen konnte und weil ich nur noch in Angst lebte.

Vermutlich hatte ich geahnt, dass Silas in seinem Tod keine Tragödie sehen würde. Wahrscheinlich spornte genau das mich dazu an, umso mehr um sein Leben zu kämpfen.

Ich zog mich um. Legte die enge Jeans ab und schlüpfte in eine lockere Hose und einen weiten Pullover. Es war schon spät, im Palast waren hauptsächlich die Nachtwachen unterwegs und die kannten den Anblick ihres verschlafenen Prinzen im Nachtmantel, der durch die Flure huschte, um in die Bibliothek zu gehen oder sich etwas zu essen zu holen.

Morgenvormittag würden wir uns mit der ADGD treffen. Mein Vater machte wahrscheinlich gerade letzte Pläne mit Charlie und legte sich dann schlafen.

Für mich war der Tag noch nicht vorbei. Meine Gedanken rasten, versuchten, sich zu ordnen und zu verstehen, was in den letzten Stunden passiert war und wohin das führen würde. Ich konnte seit Monaten nicht schlafen und ich wusste, dass es heute nicht anders sein würde.

Erst, als Maddy mir die Tür öffnete und sich die Hand vor den Mund hielt, um ihr Gähnen abzuschirmen, bemerkte ich, dass es nicht jedem so ging wie mir.

„Kian?" Sie schaffte es kaum, ihre Augen offen zu halten.

„Entschuldige. Ich wusste nicht, dass du schon schläfst."

Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. „Schon gut. Was brauchst du denn?"

„Ist nicht so wichtig", versicherte ich ihr mit einem aufgesetzten Lächeln.

Sie brummte. „Glaube ich dir nicht."

„Ich will deinen Schlaf nicht stören."

„Jetzt bin ich schon wach", argumentierte sie. „Und wenn ich mir sorgen mache, kann ich ohnehin nicht mehr einschlafen." Sie machte einen Schritt zurück und meinte: „Komm rein."

Vor etwa einem Monat hatte ich mit Silas in diesem Raum gestanden und er hatte mir klargemacht, dass er mich nicht loslassen würde, wenn ich ihm nicht in die Augen sah und ihn davon überzeugte, dass ich ihn nicht wollte. Ich hatte es versucht. Ich hatte ihn angesehen und mich innerlich angeschrien, dass das hier vielleicht die Chance war, sein Leben zu retten, indem ich ihn endgültig von mir stieß. Aber ich hatte es nicht geschafft. Nicht einmal in Gedanken hatte ich andere Worte formulieren können als „Verdammt, ich vermisse dich", „Ich will bei dir sein", „Ich kann nicht ohne dich". Ich hatte ihm gesagt, dass er den Mund halten sollte, weil ich gewusst hatte, dass er es schaffen würde, meine Mauern einzureißen. Ich hatte mir selbst nicht zugetraut, ihm weiter zuzuhören und etwas Anderes tun zu können als mich in seine Arme zu werfen.

Jetzt stand ich mit Maddy dort, meiner Verlobten, und ich wusste, dass ich ihr niemals so nah sein würde wie Silas in den fernsten Momenten. Ich würde niemals so für sie empfinden wie für ihn.

Das hatte sie nicht verdient. Er musste sich schrecklich für sie anfühlen, mit jemandem verlobt zu sein, der eine andere Person verehrte.

„Was ist denn los mit dir?" Sie streichelte über meinen Arm.

Ich schüttelte den Kopf, konnte mich plötzlich nicht mehr erinnern, was ich überhaupt hier tat. Zu wissen, dass meine Gefühle für Silas selbst in meiner Ehe mit Maddy immer präsent sein würden, war etwas anderes als mitten in der Nacht vor ihrem Gemach zu stehen und mit ihr über ihn zu reden.

„Ich wusste nicht, dass du schon schläfst", wiederholte ich.

Sie zog leicht die Augenbrauen zusammen. „Wie gesagt: schon gut."

Ich schüttete den Kopf. „Nein, Ich-" Ich raufte mir die Haare, versuchte, meine Gedanken aus meinem Kopf zu ziehen. Alles, was ich sagen konnte, war: „Es tut mir leid. Es tut mir so leid."

„Ich verstehe nicht, was du meinst." Sie fasste nach meinem Handgelenk und zog meine Finger dadurch aus meinen Haaren, umschloss meine Hand mit ihrer und drückte fest zu. „Geht es um die Probleme in der Stadt? Um Silas?"

Sie sollte nicht so besorgt klingen, wenn sie mich nach ihm fragte. Es war nicht fair.

„Wieso hasst du uns nicht? Mich und Silas?", fragte ich, völlig verständnislos. Dabei hielt ich ihre Hand fest, wollte nicht zulassen, dass sie sich einen Zentimeter von mir entfernte.

Sie riss die Augen auf. „Euch hassen? Wie kommst du auf sowas?"

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte mich nie schuldig dafür gefühlt, etwas für Silas zu empfinden. Nicht, als ich Charlie etwas vorgemacht hatte, um mit Silas in die Stadt zu gehen, nicht als die Presse uns durch den Schmutz gezogen hatte, nicht, als mein Vater darüber geurteilt hatte, nicht einmal beim Gedanken daran, dass eine Zukunft mit ihm meinem Reich den Fortbestand der königlichen Blutlinie verwehren würde. Nur jetzt, als ich mir einbildete zu verstehen, was in Maddy vorgehen musste, glaubte ich, zu begreifen, dass meine Beziehung zu Silas anderen, vor allem Maddy, schadete. Und es tat mir leid. Vor allem deswegen, weil das kein Grund für mich war, irgendetwas zu verändern.

„Kian." Sie begann zu lächeln und legte ihre Hand auf meine Wange, um über die Stoppeln zu streichen. „Du und Silas seid mir unglaublich wichtig. Ich konnte euch nicht hassen. Nicht dafür, dass ihr euch liebt."

„Es tut mir leid", wiederholte ich. Ich klang wie eine kaputte Schallplatte. „Es tut mir so leid."

„Ach Kian", seufzte Maddy mit einem Kopfschütteln. „Es gibt nichts, wofür du dich bei mir entschuldigen müsstest. Schon gar nicht deine Gefühle."

„Ich hätte mehr tun müssen, um diese Verlobung zu verhindern. Ich habe einfach zugelassen, dass mein Vater dich dazu zwingt. Ich-"

„Er hat mich nicht gezwungen."

Sie lächelte leicht. „Das musste er nicht. Ich wusste, dass er jemand anderen finden wird, wenn ich nicht zustimme. So kann ich mir wenigstens sicher sein, dass deine Frau dir das Leben nicht schwerer macht es als eh schon ist."

Eine Träume rannte meine Wange hinab. „Womit habe ich das verdient?"

Sie löste ihre Hand aus meiner, um mich zu umarmen. Ich schlang meine Arme um sie, drückte ihren zierlichen Körper fest an mich.

„Du siehst immer nur das schlechte", murmelte sie an meine Brust. „Aber nicht alle sind gegen dich. Manche stehen auf deiner Seite und wollen dir helfen. Du musst sie nur lassen."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top