36

Kian

Silas' Lippen hatten ein Gefühl auf meinen hinterlassen, das mich zum Grinsen zwang. Selbst, als ich durch den Palast lief und die Bediensteten freundlich grüßte, spürte ich ihn noch bei mir. Meine Lippen prickelten und mein Körper war hin und her gerissen zwischen vollkommender Ruhe und absoluter Spannung.

Ich hatte Silas geküsst. Und er hatte mich geküsst. Ich hatte seine Haut unter meinen Fingern gespürt. Seinen Körper an meinem.

Auf ihm zu liegen hatte sich angefühlt wie fliegen. Ich wollte immer weiter abheben.

Es dauerte mit Sicherheit mehr als 10 Minuten, bis ich den Tafelsaal erreichte. Die Zeit war dennoch nicht genug, um zu verstehen, was zwischen Silas und mir passiert war.

Ich schaffte es nicht, aus diesen traumhaften Glückszustand herauszukommen und mich irgendwie auf das Treffen vorzubereiten.

Das Gespräch verstummte, als ich in den Raum trat. Die Tür fiel hinter mir ins Schloss, drei Augenpaare waren auf mich gerichtet.

Ich war zu spät. Ich musste mich entschuldigen, mich hinsetzen und zuhören. Aber ich bekam den Mund nicht auf.

Charlie schob den Stuhl neben sich zurück und meinte: „Hier ist noch Platz."

Meine Starre löste sich langsam. Mein Körper hatte sich innerhalb zu Blei verwandelt.

Ich setzte mich neben Charlie und suchte Ermunterung im Blick meiner Mutter. Sie schüttelte den Kopf, ohne einen Ausdruck in ihrem Gesicht, und schaute zu meinem Vater.

„Hast du dich erholt?", wollte er wissen. Ich konnte nicht deuten, ob es ein Angriff oder ehrliches Interesse war.

„Geht so."

Ich fühlte mich ganz und gar nicht erholt. Mir war elend.

„Naja, um dich auf den Stand der Dinge zu bringen", schloss mein Vater nahtlos an, „wir haben zwei Probleme."

Er tauschte einen Blick mit Charlie, der dann das Reden übernahm.

„Wir haben die Kontrolllinien um die Aufständischen überprüft. Wir stehen noch genauso fest wie vor einem Jahr. Alvars Leute bewegen sich in dem Bereich, den wir ihnen zugestehen und können keinen Kontakt zur Außenwelt haben."

„Okay, aber das ist ja nichts Neues", meinte ich verunsichert. „Tom ist vor vier Jahren an die Schule gekommen. Es muss also schon damals Alvars Plan gewesen sein, seine Leute in der Stadt zu verteilen."

„Darauf sind wir auch schon gekommen", brummte mein Vater.

Meine Mutter verdrehte die Augen. „Was er eigentlich sagen will, ist, dass wir uns fragen, wer unter den Aufständischen in der Stadt das Kommando gegeben hat. Alvar ist nicht die Art von Person, die einer anderen Macht zugesteht. Es sieht ihm nicht ähnlich, jemandem das Sagen gegeben zu haben."

Obwohl ich auch dazu Vorschläge und Gedanken hatte, hielt ich diesmal den Mund.

„Wäre es nur bei der Sache mit Amelies Familie geblieben, könnten wir davon ausgehen, dem liegt die Planlosigkeit von Radikalen ohne Anführer zugrunde. Aber zwei Dinge sprechen dagegen. Erstens: Tom ist sich sicher, dass die Personen, die sich als seine Eltern ausgegeben haben, irgendwie Kontakt zu jemanden weiter oben in die Hierarchie der Aufständischen hatten. Zweitens und das ist es, was uns sehr besorgt, sind, während des Kampfes in Silas' Straße, die Lagerhäuser der Nahrungsmittel der Stadt abgebrannt worden."

Ich spürte, wie meine Augen groß wurden. „Alle?"

Meine Mutter nickte. „Das bedeutet, alles, wovon die Menschen die nächsten Monate leben können, befindet sich gerade in ihren Supermärkten oder bei ihnen zuhause."

„Das reicht niemals, um so viele Leute bis zur nächsten Ernte zu versorgen", hauchte ich. Ich war mir nicht einmal sicher, ob die nächste Ernte dazu im Stande war, die Grundbedürfnisse der Masse an Menschen in der Stadt zu stillen.

„Das ist also unser erstes Problem." Mein Vater klang beinahe so als würde er eine simple Aufzählung liefern. „Zweitens, suchen die Menschen nach Verantwortlichen und wie so oft zeigen sie dafür auf uns."

Ich wollte den Kopf schütteln. Meinem Vater sagen, dass das nicht wahr sein konnte. Dass er sich irrte. Dass die Menschen sich irrten.

Seit ich denken konnte, kämpfte mein Vater für den Frieden. Die Menschen müssten blind sein, um das nicht zu sehen.

„Auf die Menschen wirken wir plötzlich wie Belagerer, die nur darauf waren, ihren Feind zu schwächen, um in ihren Mauern einzufallen oder sie aus den Mauern rauszutreiben."

„Wer hat gesagt, dass es Brandstiftung gewesen sein muss?", wollte ich wissen. „Vielleicht war es ein sehr dummer Zufall, dass das ausgerechnet während dem Kampf passiert ist."

„Nein", sagte mein Vater schneidend. „Der Angriff auf Amelies Familie auf ein Ablenkungsmanöver. Die Aufständischen haben den letztmöglichen Zeitpunkt abgewartet, Amelie anzugreifen. Sie wussten, dass Tom versucht einen Ausweg zu finden und, dass wir daran beteiligt sein werden."

„Und was haben die Aufständischen davon, die Menschen verhungern zu lassen? Sie sind doch nicht mal an ihrem Blut interessiert. Sie wollen Druidenblut."

„Momentan würden sie nehmen, was sie kriegen können", erklärte Charlie. „Wir geben ihnen gerade so viel, dass sie am Leben bleiben. Nicht genug, um wirklich handeln zu können und schon gar keine Möglichkeit, es irgendwie zu lagern. Zumindest die, die wir einkesselt haben. Wir haben keine Ahnung, wie viele noch in der Stadt leben und wie die zu ihrem Blut kommen."

„Okay, dann schauen wir nach Krankenhäusern, Blutsammelstellen, Lieferanten... Alle, die mit Blut in Kontakt kommen."

„Das habe ich bereits veranlasst. Aber, ich glaube kaum, dass wir damit Erfolg haben werden. Diese Leute konnten sich in die Stadt integrieren, ohne, dass jemand an ihrer Menschlichkeit gezweifelt hat. Die haben dafür gesorgt, dass sie nicht identifiziert werden können."

„Also haben die Aufständischen die Vorräte der Menschen abgefackelt und die Menschen machen uns dafür verantwortlich?", fasste ich zusammen.

Mein Vater nickte.

„Glaubst du, das war ihre Absicht? Dass die Menschen an uns zweifeln?"

„Es wäre ein kluger Zug."

Ich atmete durch. „Und was machen wir jetzt? Geben wir den Menschen was von unseren Vorräten?"

Es wirkte so als sei mein Vater bis gerade eben gar nicht wirklich angewesen gewesen. Er hatte zwar geredet, aber sein Blick hatte durch uns alle hindurchgesehen. Nun zeigte er seltsam viel Emotion. Seine Augen waren weiter geöffnet als sonst, wacher. Er, überrascht.

Ich musterte ihn und dann meine Mutter. Sie erwiderte meinen Blick, schaute dann zu meinem Vater.

„Wir könnten definitiv Inventur machen und schauen, wie viel wir wovon haben." Charlie sah fragend zu meinen Eltern.

Mein Vater schüttelte den Kopf. „Nein. Wenn wir uns jetzt als Retter aufspielen, unterstellen sie uns, dass wir sie von uns abhängig machen."

„Das ist kein Grund, sie verhungern zu lassen!", sagte ich einen Ticken zu laut.

Der eiskalte Blick meines Vaters traf mich unvorbereitet. „Das habe ich ja nicht beabsichtigt." Seine Stimme klang so scharf wie seine Krallen es waren. „Wir haben keinen Grund dafür, Landwirtschaft zu betreiben. Zumindest keinen, von dem die Menschen wissen sollen."

„Wir könnten einfach zugeben, dass ich Essen kann. Wir sollten endlich anfangen, richtig aufzuklären."

Mein Vater schnaubte. „Möchtest du dir gleich selbst die Pulsadern aufschneiden oder wartest du, bis die Menschen es machen?"

Ich schreckte auf.

„Wenn wir heute unvorsichtig sind, könnten wir morgen schon wieder Krieg haben", machte mein Vater mir klar. „Und ich bin nicht bereit, die Menschen mit Informationen zu füttern, die uns schaden könnten."

„Aber was können wir dann tun?"

„Abwarten", sagte er. „Wir verabreden uns mit der ADGD und hoffen, die wissen mehr als wir."

Ein einvernehmliches Nicken ging durch die Runde. Mein Vater schien zufrieden. Er schob den Stuhl zurück und hielt meiner Mutter die Hand hin. Sie legte ihre Finger ihn seine und erhob sich ebenfalls.

„Wann ist deine letzte Sitzung mit Austin?", wollte er von ihr Wissen.

„In einer Stunde", gab sie nach einem Blick auf die Uhr auf ihrem Handgelenk zurück. Sie drehte sich zu mir und meinte: „Vielleicht möchtest du nochmal mit Austin reden. Er will so früh wie möglich aufbrechen, ohne auf unsere Unterstützung für seine Reise zu warten. Ich will ihn nur ungern alleine durch die Todeszone gehen lassen."

„Das will ich auch nicht."

Meine Mutter lächelte und folgte dann der stillen Aufforderung meines Vaters, den Raum mit ihm zu verlassen.

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