34

Kian

Ich musste diesen Druck in mir irgendwie loswerden. Es fühlte sich so an als würde ich um mein Leben rennen. Mein Herz schlug schnell und meine Atmung ging schwer. Meine Beine waren ständig in Bewegung. Die Wasseroberfläche stand nie still.

Mich davon abzuhalten nach Silas zu suchen, machte mich beinahe verrückt. Einfach in meinem Bassin zu liegen und nichts zu tun. Dabei wusste ich doch, dass er jetzt sicher war. Ethan hatte ihn zu Ruth gebracht und mir danach eine Nachricht geschrieben, dass seine Verletzung nichts Ernstes sei.

Aber da war dieses Bild in meinem Kopf, wie Silas versuchte durch die kämpfende Menge zu rennen und dabei von den Krallen erwischt wurde. Ich hatte auf der Aufnahme gesehen, dass er geschrien hatte und zusammengeklappt war. Er hatte seine Waffe fallen lassen, beide Hände auf die Seite gedrückt, sich aufgerafft und sich weiter voran geschleppt. Er hatte um jeden Meter gekämpft, das wusste ich genau.

Meine Hilflosigkeit hatte mich härter getroffen als jeder Schlag. Die Stiche in meinem Herzen waren schärfer als jede Klinge.

Meine Hoffnung, das Bad würde mir guttun und mich etwas beruhigen, wurde bitter enttäuscht. Ich bekam umso mehr Gelegenheit, mich in meinen Gedanken selbst zu zerfetzen.

Ich war gerade ein weiteres Mal dabei, mir selbst einzureden, dass ich nichts hätte tun können, als sich die Tür öffnete. Ich erwartete Carlas Stimme zu hören. Manchmal, wenn sie gestresst war, vergaß sie anzuklopfen und ich hatte ihr versichert, dass das in Ordnung sei. Vielleicht wollte sie mir etwas zu Essen bringen oder mir bescheid geben, dass mein Vater mich sehen wollte. Aber das passierte nicht.

Verwirrt drehte ich den Kopf über die Schulter.

Silas hatte mich nicht bemerkt. Er ging zum Waschbecken, nahm sich ein Handtuch aus dem Schrank und ließ Wasser darüber laufen, ehe er begann, sich das Blut vom Bauch zu wischen.

Er zitterte.

Ich machte mir keine Gedanken darüber, auf mich aufmerksam zu machen. Ich stand auf und bemerkte dabei, dass die gesamte Anspannung aus meinen Beinen verschwunden war. Stattdessen fühlten sie sich an wie Pudding.

Silas bemerkte mich, als ich zu dem Handtuch griff, das ich vorbereitet hatte. Er sprang zurück und hielt sich die Hand auf die Brust, während er mich durch den Spiegel ansah. Ich war mir sicher, dass er mir vorhalten wollte, ihn erschreckt zu haben. Innerlich tat er das bestimmt.

Ich stieg aus der Wanne und band mir das Handtuch um die Hüften, ehe ich auf ihn zulief.

Seine Augen hafteten auf meinem feuchten Oberkörper. Er scannte mich ab, jeden Zentimeter, den er erfassten konnte und, als er unten bei meinem Handtuch angekommen war, schlucke er und arbeitete sich wieder zurück nach oben. Es schien, als wollte er keine Zelle übersehen.

Ich genoss seine Blicke. Ich genoss das Gefühl, das sie in mir auslösten. Ich genoss es, dass er endlich bei mir war.

Wortlos fasste ich nach seinem Handtuch. Ich hielt es unter fließendes Wasser, drückte es etwas aus und tat dann, wozu seine zitternden Hände nicht im Stande gewesen waren.

Er begriff, dass ich ihm helfen wollte und drehte sich mir zu. Da ich etwas Kraft aufwenden musste, um das getrocknete Blut von seinem Bauch zu entfernen, schob ich Silas an seiner Hüfte an das Waschbecken.

Dass seine Unterhose aus dem Bund seiner Jeans lugte, versuchte ich zu ignorieren.

Ich wusste noch genau, wie er mich vor fast einem halben Jahr an derselben Stelle in ein Handtuch gewickelt, festhalten und getröstet hatte. Ich hatte mit meinem Vater gekämpft, er hatte mich verletzt und ich hatte von der Krankheit meiner Mutter erfahren. Silas hatte mir versprochen, für meine Mutter zu sorgen, solange ich weg war, mir das Blut weggewischt und die ganze Nacht mit mir gekuschelt.

Als ich müde geworden hatte, hatte er mir versprochen, wach zu bleiben, um sicher zu gehen, dass wir einander nicht berührten.

Selbst nach Stunden war mein Kopf noch so laut gewesen, dass ich es nicht geschafft hatte, einzuschlafen. Ich hatte Silas das nicht gesagt, weil ich nicht wusste, wie ich ihm erklären sollte, dass seine Nähe mir enorm guttat, aber sie nicht gegen das Dröhnen meiner Gedanken ankam. Ich hatte so tun wollen, als würde ich schlafen. Geglaubt, es würde ihn enttäuschen, wenn er merkte, dass ich nicht runterkam. Dann hatte er angefangen, leise vor sich hinzusummen und die Melodie hatte alles andere als ihn und mich und diesen Moment vertrieben.

Ich ging gründlicher vor als nötig. Selbst, als ich jedes bisschen Blut beseitigt hatte, wischte ich weiter an seinem Bauch herum, darauf bedacht, die Paste nicht zu lösen.

Ich wollte Silas sagen, dass ich mir sorgen um ihn gemacht hatte. Nein, dass ich Angst gehabt hatte. Dass Charlie mich hatte festhalten müssen, um mich davon abzuhalten, zu ihm zu rennen. Aber mir entkam kein Wort.

Silas war es, der das Schweigen brach. Er hielt das Handtuch fest, sodass ich in der Bewegung innehalten musste und schaute mich so intensiv an, dass ich keine andere Wahl hatte, als seinen Blick zu erwidern. Gleichzeitig spürte ich, dass er seine Finger an dem Handtuch entlang näher zu meinen schob.

„Mir geht es gut."

Ich schüttelte den Kopf. „Du bist verletzt." Ich konnte nicht verstehen, warum er lächelte.

„Mir geht es gut." Mit dem Handtuch zwischen uns legte er seine Hand um meine und sagte nochmal: „Mir geht es gut. Es ist alles gut."

„Es ist gar nichts gut." Ich klang deutlich weniger nachdrücklich als beabsichtigt. Dabei war ich rasend vor Wut. „Wieso hast du Ben in dieses Auto geschubst? Das war da, um Amelie, Tom und dich rauszuholen. Nicht ihn."

„Er war verletzt", erwiderte Silas ruhig. „Ich konnte ihn nicht dort lassen, wenn er sich nicht verteidigen kann."

Ich spürte, wie ich mich an seine Hand klammerte. „Es gehört zu seinem Job, mit sowas klarzukommen."

„Tu nicht so als hättest du anders gehandelt." Silas nahm mir das Handtuch weg und drehte sich, um es wieder auszuwaschen. „Die paar Kratzer sind bald verheilt. Das wird mich nicht umbringen."

Das wusste ich. Ich hatte gewusst, dass er nicht sterben würde. Nicht so. Aber es hatte mich beinahe umgebracht.

„Hast du vor, bei der ADGD auch seine Sicherheit über deine zu stellen? Wirst du jetzt sein persönlicher Aufpasser?"

Silas drückte das Wasser aus dem Handtuch, ehe er es wieder in den Strahl hielt. „Ich bin nicht seinetwegen beitreten, falls du darauf hinauswillst."

Wollte ich das?

„Warum dann? Du bist kein Soldat, Silas. Du hasst es, dir was sagen zu lassen."

Er schnaubte. „Ich wüsste nicht, was dich das angeht."

„Ich verstehe es einfach nicht. Du hasst Krieg und jetzt steckst du mitten drin."

„Wir haben Frieden."

„Fühlt sich das hier für dich nach Frieden an?"

Durch den Spiegel konnte ich erkennen, wie er die Lippen zusammenpresste. Er ließ das Handtuch im Waschbecken liegen, richtete sich auf und strich sich die Haare zurück, sodass er eine feuchte Spur darin hinterließ. Er sah unfassbar gut aus. Selbst, als er mich finster anfunkelte.

„Ich weiß nicht, warum du denkst, du könntest dich in mein Leben einmischen. Du hast mich weggeschickt und gesagt, ich würde mich an dir festklammern."

Das hatte ich tatsächlich. Ich hatte versucht, ihm einzureden, dass das zwischen uns bedeutungslos war. Dass wir keine Zukunft hatten und ich ihn am liebsten nie wieder sehen würde. Ich hatte das getan, um ihn zu schützen. Das konnte ich jetzt nicht wegwerfen, nur um ihm etwas vorzuwerfen, das bereits beschlossene Sache war.

Silas hatte sich für diesen Weg entschieden. Er musste sich dafür nicht rechtfertigen, vor allem nicht vor mir

Ich ging einen Schritt zurück und blickte zur Tür. Schon bevor ich mich dazu bringen konnte, auf sie zuzugehen, hatte Silas die hart erkämpfte Distanz zwischen uns überwunden und mir das Handtuch auf die Brust gepeitscht.

„Du wirst jetzt nicht abhauen. Vergiss es!"

Falls ich wirklich gehen wollte, könnte er mich nicht aufhalten. Selbst, wenn er versuchen würde mich festzuhalten. Er hatte vielleicht die Stärke eines Jägers, aber nicht die eines Erwachten.

Trotzdem brauchte es keine Gewalt, um mich vom Gehen abzuhalten. Meine Füße bewegten sich kein Stück, egal, wie sehr ich auch versuchte wegzurennen.

„Verdammt, Kian, rede mit mir!", schrie Silas und donnerte das Handtuch zurück ins Waschbecken.

„Ich habe dir nichts weiter zu sagen", behauptete ich.

„Wieso kannst du nicht einfach zugeben, dass du dir sorgen um mich gemacht hast?!"

Ich schluckte hart. Selbst nach all den Wochen und all meinen Worten hatte Silas den Glauben daran, dass ich noch immer Gefühle für ihn hatte, nicht verloren. Ich wünschte ich könnte mir irgendetwas so sicher sein.

„Es ist nicht wichtig."

„Doch." Er nickte seltsam aggressiv. „Mir ist es wichtig. Du bist mir wichtig."

Er ging noch einen Schritt auf mich zu. „Ich dachte die letzten drei Tage mindestens vier Mal, dass ich jeden Moment sterben werde. Und alles, was ich in diesen Momenten bereut habe, ist, dass ich dich nie geküsst habe."

Ich schluckte, konnte nicht verstehen, warum er das gesagt hatte.

Er ging noch einen Schritt auf mich zu, seine Hand bewegte sich zu mir.

Ich wich zurück. „Du weißt, dass das nicht geht."

„Was hält dich davon ab?"

Ich schluckte. „Ich will dein Blut trinken, wenn wir uns berühren."

„Na und?"

Ich reagierte nicht.

„Wir wissen beide, dass mich das nicht umbringen wird."

Ich stand vor ihm, zu perplex, um einen Gedanken zu identifizieren.

Silas schaute mich an, seine Augenbrauen hochgezogen, sein Blick erwartungsvoll. Er hatte sich eine andere Reaktion erhofft. Oder überhaupt eine Reaktion.

„Ich habe Teile von Boris' Visionen in seinen Gedanken gesehen", sagte er dann. „Ich wusste nicht, dass er mit jemandem darüber geredet hat, bis Maddy mir erzählt hat, dass du es weißt... Du, Charlie, Austin, Boris und Maddy."

Ich schüttelte den Kopf, wusste aber nicht, was ich sagen sollte.

„Sie hat sich verplappert", erzählte Silas weiter. „Gestern Abend, als sie versucht hat, mich davon zu überzeugen, mit dir zu reden."

„Ich will dich beschützen", war alles, was ich im Stande war zu sagen.

Silas legte den Kopf schief. Seine Stimme wurde weicher. „Du kannst mich nicht vor der Zukunft beschützen. Wir wissen doch nicht mal, ob die wirklich kommen wird."

„Ich weigere mich, dieses Risiko einzugehen."

Er zog eine Augenbraue nach oben. „Das ist mein Risiko, meinst du nicht?"

Ich sagte nichts, wollte ihm nicht vorhalten, dass sein Tod nicht nur ihn betraf. Das würde so klingen, als wüsste er nicht, was Verlust und Trauer bedeuteten. Er kannte diese Gefühle besser als viele andere. Besser als ich. Alles, was ich kannte, war Angst.

„Weißt du was?" Silas zuckte mit den Schultern. „Dann halt dich eben von mir fern. Küss mich nicht, rede nicht mit mir, putz mir nicht das Blut vom Körper. Verbringe keine einzige Sekunde mit mir. Sterben werde ich so oder so. Alle tun das. Das kannst du nicht verhindern."

„Es ist nicht so einfach, wie du es darstellst!", brüllte ich. Er sprach so gelassen von seinem Tod. So als sei er bedeutungslos. So als würde er niemanden zurücklassen, der ihn vermissen würde. Niemanden, der ihn liebte.

„Okay", sagte Silas entschlossen, als er wieder auf mich zuging. „Gehen wir davon aus, diese Vision ist wahr. Ich sterbe vor den Treppen zum Palast, du hältst mich im einen Arm und wirfst mit der anderen den Dolch weg."

Ein Stich jagte durch meinen Körper. Ich versuchte alles, um dieses Bild aus meinem Kopf zu vertreiben. Ich wollte es nicht sehen. Konnte es nicht ertragen.

„Das bedeutet, ich werde nicht sterben, weil du mich beißt."

Er ließ mich nicht zu Wort kommen.

„Und außerdem hatten wir nie eine Chance rauszufinden, ob du mich auch wirklich beißen würdest. Darüber nachzudenken und es tatsächlich zu tun, sind zwei verschiedene Sachen."

Er versuche wieder seine Hand auf meine Brust zu legen. Erneut wich ich zurück.

„Ich will dir nicht wehtun." Es klang flehend.

Silas spielte mit einem Verlangen, das ich nicht kontrollieren konnte. Es fiel mir ja manchmal schon schwer, nicht über ihn herzufallen, wenn er mich nur anschaute.

Die Gedanken, die ich damals auf dem Feld gehabt hatte, verfolgten mich selbst heute noch. Ich war bereit gewesen, alles zu tun, um an sein Blut zu kommen. Er hatte vielleicht gehört, was ich gedacht hatte, aber er hatte keine Ahnung, wie es angefühlt hatte, davon übermannt zu werden.

„Du hast mir wehgetan. Schon so oft."

Ich schluckte und versuchte mir einzureden, dass ich das nur getan hatte, um ihn zu schützen. Aber das machte es nicht besser.

„Du tust mir weh, wenn du mich so anschaust, als würde ich nichts in dir auslösen. Du quälst mich, wenn du fiese Worte sagst, die du nicht so meinst. Du folterst mich, wenn du mich von dir stößt." Er warf die Hände in die Luft. „Verdammt, Kian, ich sehne mich nach dir! Das tut weh. Wenn du mich verletzt, weil wir uns geküsst haben, dann habe ich es mir wenigstens ausgesucht."

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Aber ich war mir sicher, dass ich kein weiteres Mal schaffen würde, mich gegen diese Anziehung zu ihm zu wehren.

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