33

Silas

Amelie und ich machten es uns auf den Liegen in Ruths Räumlichkeiten gemütlich. Ich durfte mich nicht bewegen, bis die Paste an meiner Seite fest geworden war und meine Betäubung nachgelassen hatte und Ruth wollte Amelie noch zu Beobachtung in der Nähe behalten.

Immer, wenn ich meine alte Freundin anschaute, dann lächelte sie mich an. Das war seit Jahren nicht mehr passiert. Ich hatte geglaubt, Amelie würde mich bis an mein Lebensende verabscheuen. Und doch lagen wir jetzt hier.

Zu wissen, dass sie mich nicht hasste, sorgte dafür, dass ich mich selbst ein bisschen besser leiden konnte. Meine Fehler waren die eines unsicheren Jugendlichen gewesen. Wenn Amelie das einsehen und mir vergeben konnte, dann konnte ich das auch.

„Amelie?"

„Mh?" Sie legte den Kopf zur Seite, um mich fragend anzusehen.

„Es tut mir leid, dass deine Eltern ermordet wurden."

Ich konnte ihr Lächeln dabei beobachten, wie es in sich zusammenfiel. Sie schluckte und drehte den Kopf wieder so, dass sie an die Decke sehen konnte, von der unzählig viele Pflanzen herunterhingen.

„Ich fühle irgendwie gar nichts", sagte sie. „Ich habe gesehen, wie Kyle meiner Mutter die Kehle aufgerissen hat, aber ich fühle gar nichts."

„Ich weiß" Ich richtete meinen Blick ebenfalls zurück an die Decke. „Das kommt noch."

Es war still zwischen uns. Ich wollte es nur ausgesprochen haben. Nicht, um ihr tatsächlich klarzumachen, dass es mir leidtat. Das war selbstverständlich. Ich hatte aussprechen müssen, was passiert war, damit Amelie anfangen konnte, es zu begreifen.

Im Alltag hörte man so oft Entschuldigungen, wenn man jemanden anrempelte oder auf die Füße trat oder irgendwie sonst verletzte. Die meisten Beileidsbekundungen klangen dem zum Verwechseln ähnlich. Aber Beileid brachte niemandem etwas, der jemanden verloren hatte. In der ersten Zeit begriff man ja nicht mal, dass man diesen jemanden überhaupt verloren hatte. Dass er nie wieder zurückkommen würde. Man hoffte, all das sei ein Irrtum. Ein Traum. Man glaubte, die Situation weglächeln und durchstehen zu können, bis es aufhörte. Aber es hörte nicht auf.

Ich hatte zweieinhalb Jahre lang, jedes Mal, wenn ich die Tür geöffnet hatte, geglaubt, ich würde meinen Vater davorstehen sehen. Wahrscheinlich tat sich das heute noch. Amelies Eltern waren noch nicht mal einen Tag tot.

Je schneller sie begriff, dass sie weg waren, desto schneller konnte sie anfangen, es zu verarbeiten.

„Sie werden niemals ihre Enkel kennenlernen", sagte Amelie irgendwann.

Ich schaute zu ihr. „Ich dachte immer, du willst keine Kinder. Nicht in dieser Welt."

Das waren ihre Worte gewesen.

Amelie lachte leicht und strich sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Wollte ich eigentlich nicht."

„Aber Tom lässt dich an eine bessere Zukunft glauben?", riet ich.

Wieder lachte sie, doch diesmal schüttelte sie dabei den Kopf. „Dieser Idiot meinte, er kann keine Kinder zeugen. Und jetzt haben wir den Salat."

Ich blieb still, versuchte herauszufinden, was genau sie mir sagen wollte.

Sie drehte den Kopf und sah mich an. „Ich bin schwanger, Silas." Sie zeigte auf ihren Bauch. „Da wächst ein Zellhaufen in mir."

„Bist du dumm?", brachte ich hervor. „Sex ohne Verhütung?!"

Sie prustete los und ich konnte nicht anders als fassungslos mitzulachen.

„Wie gesagt, er dachte, er ist unfruchtbar."

„Oh Mann." Ich hörte den Unglauben aus meiner eigenen Stimme heraus. „Und jetzt haben wir den Salat", wiederholte ich ihre Worte. „An dir ist eine Poetin verloren gegangen."

„Naja, noch kann ich alles werden."

„Vor allem Mutter."

Sie grinste. „Weißt du, was mich richtig glücklich macht?"

Ich zog bloß fragend die Augenbrauen hoch. Keine Ahnung, wie es mir mit einem unerwarteten Zellhaufen in mir gehen würde. Glücklich wäre ich definitiv nicht.

„Dass der kleine Zellhaufen einen Onkel haben wird. Auch, wenn ich mir ziemlich sicher bin, das Ben der schrecklichste Einfluss auf ein Kind ist, den es geben kann."

„Hat euch niemand beigebracht, dass Lästern mit 10 Hinternklopfern bestraft wird?"

Amelie und ich sahen zur Tür, die Ben gerade hinter sich schloss. Er winkte uns und wandte sich dann an Ruth. „Mir wurde gesagt, hier werden schwerverletzte Helden behandelt?"

Ruth sah auf, musterte Ben und seufzte. Sie wirkte so als könnte sie einen Urlaub gebrauchen, sobald wir hier fertig waren.

„Dein Bruder?", fragte sie Amelie, nachdem sie Ben dazu aufgefordert hatte, ihr zu folgen und ihn mit einem Handzeichen bat, auf der dritten Liege in der Reihe Platz zu nehmen.

„Nein, den habe ich noch nie in meinem Leben gesehen", behauptete Amelie gespielt ahnungslos.

Ich grinste. „Ich auch nicht. Der muss sich verlaufen haben. Er wirkt verwirrt."

„Ich gebe es dir gleich verwirrt von hinten."

„Bitte nicht vor meinem Kind."

Ben blickte Amelie verwirrt an. „Das kann doch noch gar nichts sehen?"

„Aber es könnte es hören und dann für immer drinbleiben wollen. Dabei fühle ich mich jetzt schon so rund."

„Man sieht noch gar nichts", meinte Ben, mit überprüfendem Blick auf Amelies Bauch. Er schenkte Ruth, die seinen Ärmel aufschnitt, keine Beachtung. „Außerdem würde Silas mich eh nicht mehr ranlassen. Er hat jetzt Ansprüche, die nur ein Prinz erfüllen kann."

„Ich hasse dich", machte ich Ben klar.

Er strahlte mich mit einem extra breiten Lächeln an.

„Ehm, hast du dir Kian mal angeschaut? Schon klar, dass du gegen den keine Chance hast", wandte Amelie ein.

„Ich dachte halt, es geht auch ein bisschen um Charakter."

Ich konnte bloß meine Augen verdrehen. „Wenn das danach ginge, hätte ich nie was mir dir angefangen."

„Okay, aua" Ben tat so als würde er sich eine Träne aus dem Augenwinkel streichen. Man sah ihm an, dass er nachdachte. „Aber das heißt das, mein Aussehen hat dir gereicht? Ich bin also sexy? Du findest mich heiß? Du magst meinen-"

„Früher, Ben. Aus purer Verzweiflung."

Amelies Lachen schallte an die Decke. „Oh man", seufzte wie, als sie sich wieder beruhigt hatte. „Ich habe euch zwei ganz schön vermisst."

Sie lächelte erst mich an, dann Ben.

„Ich dich auch, Schwesterherz. Ich kann es kaum erwarten zu versuchen, dir Tom auszuspannen."

Ich hielt den Atem an.

Amelie und ich hatten uns zwar versöhnt, aber ich war mir ziemlich sicher, dass sie und Ben und kein klärendes Gespräch gehabt hatten. Dass er nicht tot war, konnte ihm unmöglich eine Freikarte für alles geben. Ich bereitete mich auf einen nuklearen Streit zwischen ihnen vor und überlegte, wie ich vermitteln konnte, ohne mich auf irgendeine Seite zu stellen. Aber Amelie nahm es überraschend gelassen.

„Kannst du ja gerne versuchen, wenn du mit der Abweisung zurechtkommst."

Auch Ben schien erleichtert. „Ich werde es nur tun, um zu testen, ob er treu ist. Versprochen."

Das klang so gnädig aus seinem Mund.

„Du glaubst auch, du kriegst jeden rum." Amelie sah zu mir und zeigte mit dem Daumen auf ihren Bruder. „Kannst du das fassen?"

„Also ganz ehrlich?" Ich schüttelte den Kopf. „Ich bin überrascht, dass wir ihn überhaupt noch sehen können, so abgehoben wie er ist."

„Aua!" Ben zuckte von Ruth weg und riss ihr damit die Nadel, deren Schnur in seiner Haut hängte aus der Hand.

„Oh, ich muss wohl vergessen haben, das zu betäuben. Entschuldige."

Ruth ging zur Seite, um die Betäubung vorzubereiten und Ben schaute ihr perplex hinterher. Das war einer der wenigen Momente, in denen ich ihn sprachlos erlebte. Aber vielleicht lag das auch nur daran, dass er keine Zeit hatte, sich einen dummen Spruch einfallen zu lassen.

Die Tür öffnete sich ein weiteres Mal. Diesmal kam Ethan hindurch und hinter ihm Tom.

„Amy", murmelte er, ehe er an Ethan vorbeirannte und direkt zu der Liege, auf der seine Freundin lag.

Sie setzte sich auf und ließ sich von ihm in die Arme schließen. Ben verzog sein Gesicht, als Tom seiner Schwester einen langen Kuss auf den Scheitel drückte und ihr irgendwas Liebevolles zuflüsterte.

„Hey hey hey, Abstand!", rief Ben, als uns beiden klarwurde, dass Tom nicht zu beabsichtigen schien, Amelie jemals wieder loszulassen.

„Silas, kick ihn weg!"

„Sehe ich aus wie dein Prügelknabe?"

Ben verdrehte die Augen. „Ich bin schwer verletzt."

„Das hättest du uns auch vorher sagen können", machte Tom ihm klar, als er einen Schritt zurückging. Er beließ seinen Blick dabei auf Amelie und strich ihr die Haare zurecht, die er durch seine Streicheleinheit zerzaust hatte.

Selbst danach hatte er nur Augen für sie.

„Und uns allen klarmachen, dass unser Leben von weichgespülten Waschlappen wie euch abhängt? Klar." Er schnaubte. „Ohne mich wärt ihr jetzt Hackfleisch."

Erst in diesem Moment fiel mir auf, dass ich nicht wusste, was in der Stunde zwischen meiner Ankunft zuhause und Bens Dazustoßen, bei Ben abgelaufen war.

„Woher wusstest du überhaupt, was los ist?"

Er presste die Zähne zusammen, als Ruth ihm die Betäubungsspritze reinjagte. Danach antwortete er mir. „Ich habe nochmal zuhause vorbeischauen wollen, bevor ich gehe. Da habe ich gemerkt, dass was nicht stimmt. Nicolo hat Amelies Handy geortet und mir gesagt, dass sie bei dir ist. Er hat Verstärkung gerufen, während ich zu euch gekommen bin."

„Bekommst du jetzt keinen Ärger? Du hast selbst gesagt, du durftest keinen Kontakt mehr zu deiner Familie haben."

„Naja, ich hatte ja keinen Kontakt zu ihnen, bis es unbedingt nötig wurde. Vielleicht komme ich noch halbwegs glimpflich davon."

„Ich könnte behaupten, dass ich dich angerufen und um Hilfe gebeten habe", schlug ich Ben vor. Dass er enorme Probleme bekommen würde, nur, weil er noch an seiner Familie hängte, fühlte sich nicht richtig an.

„Wenn wir lügen, wird es nur schlimmer. Nicolos Mum boxt mich da schon irgendwie raus."

„Meine Tante?" Ich legte den Kopf schief. „Was hat sie damit zu tun?"

Ben verzog sein Gesicht, als Ruth den Raden aus seiner Haut zog und erneut zum Stich ansetzte.

„Alle Mitglieder sind zwar Teil der Allianz, aber unterliegen dem Kommando ihrer Familie. Außenstehende werden zwar auch von der Allianz angeworben, aber die Familien teilen sie dann untereinander auf. Ich wurde den Paladinos zugeteilt. Sie sind für meine Ausbildung zuständig und irgendwie für mich verantwortlich. Angelina hat da das Sagen."

„Angelina Paladino", murmelte ich, um mir den Klang des Namens anzuhören. Er passte zu dem Namen meiner Mutter. „Isabella Paladino."

„Du wirst sie bald kennenlernen." Ben lächelte mich an. „Ich denke, sie und Ezras Vater zanken sich grade noch, zu wem du gehören sollst."

„Zu wem hat mein Vater gehört?"

Ben lachte leicht. „Der hat es irgendwie geschafft, bei den Chevaliers unterzukommen. Die Geschichte kann dir Cédric besser erzählen."

„Der kann mich aber nicht leiden."

Ben winkte ab. „Cédric kann niemanden leiden. Nicht mal sich selbst."

Er atmete erleichtert auf, als Ruth damit fertig war, an ihm herumzustochern.

„Die medizinische Abteilung deiner Allianz wird wissen, was weiter zu tun ist", meinte sie zu ihm, ehe sie sich wieder an ihren Schreibtisch setzte.

„Ich glaube, ich habe sie was Wichtigem gestört", flüsterte Ben uns zu, mit einer Hand als Abschirmung zwischen seinem Mund und Ruth. Er sprang von der Liege und setzte sich neben seine Schwester.

„Wir haben so viel zu besprechen", grinste er, während er einen Arm um sie legte und ihren Kopf auf seine Schulter drückte. Dass er Tom dabei finster anschaute, konnte sie nicht sehen.

Während die beiden anfingen, sich zu unterhalten, stellte sich Tom zu mir.

„Ich mochte Ben lieber, als wir dachten, er sei tot."

Ich schmunzelte. „Das kann ich dir nicht verübeln. Aber schau mal." Ich deute mit einem Nicken zu den Geschwistern. „Ich habe Amelie seit Ewigkeiten nicht mehr so viel lächeln sehen."

Tom lehnte sich an meine Liege und nickte. „Jetzt kann es ja nur noch bergauf gehen."

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