31
Silas
„Es war ein ganz normaler Morgen. Amelie hat bei mir geschlafen, wir sind unsere Runde joggen gegangen, waren in der Stadt frühstücken, waren in unseren Abschlussballkomitees. Dann hat ihre Mutter angerufen und gesagt, dass sie sofort nachhause kommen soll. Sie klang aufgebracht und Amy ist davon ausgegangen, dass sie streiten werden, wenn sie ankommt. Deshalb bin ich mitgegangen.
Als wir reinkamen, saßen ihre Eltern auf dem Sofa und Kyle und Kristin standen vor ihnen. Mir war schon im ersten Moment klar, dass sie aufgehört haben so zu tun, als seien sie meine Eltern. Amys Eltern waren total verängstigt und wollten zu uns, aber Kyle hat sie aufgehalten und Kristin hat gesagt, dass sie Amys Familie vor meinen Augen töten wollten, bevor sie mich zu Alvar zerren.
Ich habe versucht, mit ihnen zu diskutieren. Ihnen klarzumachen, dass sie auffliegen, wenn sie hier jemanden umbringen und, dass das das Letzte ist, was Alvar will. Aber sie meinten, das alles sei meine Schuld und ich hätte einfach tun sollen, was von mir verlangt wurde. Sie haben rumgeschrien und sobald ich gesehen habe, dass sie ihre Krallen ausgefahren haben, habe ich Amy gepackt und ins Auto gezerrt, um zu Silas zu fahren.
Wir waren nicht lange dort, bis er kam und wir uns erklären mussten. Ich bin so froh, dass er verständnisvoll war und uns erlaubt hat zu bleiben."
Tom versuchte, mir ein Lächeln zu schenken, aber seine Traurigkeit war zu groß. Seine Stimme hatte an Festigkeit verloren und, als er seine Fäuste gelöst hatte, war deutlich geworden, wie sehr er zitterte.
„Was ist dann passiert?"
Benedict war nicht bereit, darauf Rücksicht zu nehmen. Er hatte uns, sobald wir im Palast angekommen waren, mit in den Raum geschleppt, in dem wir gesessen hatten, als er mir erklärt hatte, dass ich das Recht hatte, sein Reich jederzeit zu betreten, und darauf beharrt, sofort zu erfahren, was genau vorgefallen war.
„Ich habe versucht, jemanden hier zu erreichen, aber mein Handy hatte kein Signal", erläuterte ich, um Tom eine kleine Pause zu verschaffen. „Nach etwa einer Stunde kam Ben dazu. Wir wussten nicht, dass er verletzt war. Er hat es gut überspielt und uns nichts davon erzählt, dass er auf dem Weg vom Auto zu meinem Grundstück, angegriffen wurde.
Wir haben nachgedacht, was wir machen sollen, Waffen aus dem Keller geholt und gewartet. Die ADGD kam gerade noch rechtzeitig, um zu verhindern, dass die Aufständischen unsere Bäume einreißen. Ich hatte keine Ahnung, dass meine Großeltern die als Schutz gepflanzt haben...
Jedenfalls ist ein Auto, wie abgesprochen, auf den Hof gefahren und wir sind darauf zugelaufen. Das war der Moment, in dem mir aufgefallen ist, dass Ben blutet und seinen Arm kaum bewegen kann. Also habe ich ihn ins Auto geschubst, die Tür zugeknallt und dem Fahrer zugeschrien, dass er losfahren soll.
Wir hätten sicher auch zu viert auf den Rücksitz gepasst, aber ich habe einfach nicht nachgedacht in dem Moment."
Ich schüttelte meinen Kopf, als ich mich daran erinnerte, wie Ben von innen gegen die Scheibe schlug, nachdem er daran gescheitert war, die Tür zu öffnen.
Ich hatte dem Auto dabei zugesehen, wie es ungehindert davongerast war, und hatte selbst kaum glauben können, dass ich freiwillig zurückgeblieben war.
„Cédric und Ezra waren an der anderen Straßenseite in einen Kampf verwickelt. Alle, die mit ihnen gekommen sind, ebenso. Es waren mehr Aufständische dort als sie stemmen konnten. Jemand brüllte Ezra zu, dass sie mich rausholen und in Sicherheit bringen soll, während Cédric Verstärkung holen sollte.
Mir war klar, dass Ezra mit dem Auto nicht zu mir durchkommen wird. Dazu hätte sie die Hälfte ihrer Leute überfahren müssen. Also habe ich einen Dolch von drinnen geholt und bin zu ihr gerannt."
„Und dabei wurdest du verletzt?" Benedict nickte zur rechten Seite meiner Taille. Das Shirt, das Nicolo mir am Morgen geliehen hatte, war dort aufgerissen und mit Blut gefärbt.
„Einer von ihnen hat mit den Klauen nach mir gegriffen, aber ich konnte ausweichen."
Ich machte zwar auf stark und tapfer, aber in Wahrheit kostete es mich meine ganze Kraft, mich nicht vor Schmerz zusammenzukrümmen.
Benedict war die letzte Person auf diesem Planeten, vor der ich bereit war, Schwäche zu zeigen.
„Ich habe die anderen am Treffpunkt im Wald wiedergesehen. Da hat Oliver das Kommando übernommen und uns hergebracht."
Wie so oft zeigte Benedict keine Regung. Er nickte bloß, schien zufrieden mit dem, was wir erzählt hatten und ließ nicht erkennen, wie er zu dem, was passiert war, stand. Er machte nicht einmal den Eindruck als sei er erleichtert davon, dass es uns soweit gut ging.
„Amelie wird gerade medizinisch versorgt. Ethan wird dich zu ihr bringen. Dann kannst du dich untersuchen lassen. Mit Tom würde ich gerne noch für einen Moment sprechen."
Ethan trat hinter Benedict hervor und lächelte mir zu. Ich tauschte einen Blick mit Tom. Er versicherte mir durch ein leichtes Nicken, dass ich ihn mit dem König alleine lassen konnte.
Als ich aufstand, presste ich die Lippen so fest zusammen, dass sie beinahe taub wurden. Ich würde nicht zulassen, dass mir auch nur ein schmerzerfüllter Ton entkam. Nicht vor Benedict.
Sobald ich auf dem Flur angekommen war, gab ich meinen aufrechten Gang auf und klappte noch während des Laufens zusammen..
„Woah!" Ethan hielt mich fest und lehnte mich an die nächstbeste Mauer.
Ich presste mir die Hand auf meine Verletzung und konnte spüren, wie das Fleisch aus meinen drei Schnitten quoll.
„Kannst du laufen? Soll ich dich tragen?"
„Gib mir nur einen Moment." Ich atmete durch, so als könne sich die Wunde durch mehr Sauerstoff in meinem Blut von alleine schließen, musste aber feststellen, dass es bestenfalls schlimmer wurde.
Den Weg zum Krankenzimmer bestritt ich eher schleppend als gehend. Ich hatte dabei eine Hand auf meiner Seite und die andere an der Wand, um mich daran entlang Stück für Stück nach vorne zu schieben.
Ethan bot mehrmals an, mir zu helfen, aber ich lehnte jedes Mal ab.
Wir gingen in den Ostflügel, vorbei an all den Wachen, die den Bereich sicherten.
Die Ärztin unterhielt sich gerade mit Amelie, als Ethan mir die Tür aufmachte.
„Ich habe einen weiteren Patienten für dich."
„Ist es dringend?"
Ich wollte verneinen, mich irgendwo hinsetzen und warten, bis ich an der Reihe war. Immerhin war ein Gespräch mit Benedict auch wichtiger gewesen als meine Wunde zu versorgen. Dann würden ein paar weitere Minuten auch nicht schaden.
Ethan antwortete mit einem klaren „Ja" und schob mich solange voran, bis ich mich an eine Liege neben Amelies lehnen konnte.
„Du blutest!" Sie sprang auf und wollte sich meine Verletzung ansehen, aber Ethan hielt sie an den Schultern zurück.
„Pfoten weg!", zischte sie, während sie zu ihm hochfunkelte.
Er hob beschwichtigend die Hände und machte einen Schritt zurück. Amelie schnaubte über sein Grinsen und ließ sich zurück auf ihre Liege sinken, von wo aus sie mich akribisch musterte.
„Leg dich bitte hin." Im Gegensatz zu meiner Kindheitsfreundin war die Ärztin ruhig.
Sie bat ihren Assistenten um verschiedene Utensilien und zerschnitt mein Shirt, sobald sie eine Schere erhalten hatte.
„Ich hätte es auch ausziehen können."
Es war ohnehin kaputt gewesen, ob sie es nun zerschnitten hätte oder nicht. Dennoch beharrte ich weiterhin darauf so zu tun als würde mir meine Verletzung nichts ausmachen. Irgendwann brachte mich mein Stolz noch um.
„Aber es hätte wehgetan. Und Schmerzen sind ein Warnzeichen des Körpers."
Sie spülte meine Wunde aus und holte einen Stofffetzen daraus hervor.
Amelie verzog angewidert das Gesicht.
„Darf ich du sagen?", fragte die Ärztin mich.
Ich nickte und drehte mein Gesicht von ihr weg, um schmerzerfüllte Grimassen zu schneiden.
„Okay. Ich bin Ruth. Stammen diese Wunden von den Krallen eines Erwachten?"
„Ja-ahaaa." Ich zuckte von ihr weg, als sie daran herumtastete.
Als sie nach einem lokalen Betäubungsmittel verlangte, seufzte ich innerlich auf. Die Spritze tat brannte und kribbelte, aber alles danach war nur noch ein stumpfes Pieken.
Ruth erklärte mir, dass es zu spät sei, die Wunden jetzt noch zu nähen und eine andere Methode deutlich schmerzfreier wäre. Sie hatte vor, eine Paste herzustellen, die sie großflächig auf den verletzten Bereich auftragen wollte. Diese Paste würde fest werden und nach etwa einer Woche von selben nach und nach abbröseln. Danach, behauptete sie, seien meine Wunden geschlossen, einer Entzündung wäre entgegengewirkt und ich sollte kaum Narben haben.
Während sie die besagte Paste zubereitete und Ethan fragte, ob er ihr helfen könne, näherte Amelie sich mir wieder langsam an.
Nach sechs Schritten stand sie neben mir und legte ihre Hand in meine. Das Blut, das daran haftete, schien sie nicht zu stören.
Ich lächelte sie an, während ich mit dem Daumen über ihre Fingerknöchel strich und erkannte, wie sich in ihren Augen Tränen bildeten.
„Ich komme mir so lächerlich vor", schniefte sie.
„Wieso?" Ich drückte ihre Hand und schüttelte den Kopf, um ihr zu verdeutlichen, dass es dafür keinen Grund gab.
Sie war anderer Meinung.
„Ich habe fast zwei Jahre lang meinen ganzen Frust und Hass auf dich abgewälzt. Und am Ende warst du trotzdem für mich da, als ich dich gebraucht habe und hast dein Leben riskiert, um Ben zu helfen." Eine Träne rannte ihre Wange hinab.
„Amelie, du hast alles recht, mich zu hassen. Ich habe dir unverzeihliche Dinge angetan."
„Was denn?", lachte sie ohne Belustigung. „Mir ein schönes erstes Mal geschenkt? Meinem Bruder einen Grund gegeben, richtig zu leben, bevor er in den sicheren Tod geschickt wird?" Sie schüttelte den Kopf. „Es war so kindisch von mir, so zu tun als seist du für alles verantwortlich, was scheiße lief."
„Wir waren Kinder." Ich schnaufte. „Vielleicht sind wir es immer noch."
„Trotzdem tut es mir unfassbar leid. Ich war so verletzt und wütend, weil du meine Gefühle nicht erwidern konntest und eifersüchtig, weil du mit Ben so glücklich warst. Meine Welt ist zusammengebrochen. Ich war so kurzsichtig, ich dachte, ich werde für immer in dich verliebt sein und allein und verbittert und niemals glücklich werden können."
„Wir haben alle unseren Teil zu dem großen Haufen Scheiße, den wir produziert haben, beigetragen. Aber ich hatte einfach keine Kraft, um unsere Freundschaft zu kämpfen. Meistens hatte ich nicht mal die Kraft, meinen Arsch aus dem Bett kriegen."
„Ich weiß." Sie nickte. „Aber jetzt würdest du nicht mehr alleine kämpfen."
Ruth schob Amelie ohne große Rücksicht auf unser Gespräch zur Seite und begann damit, eine grüne Paste auf meine Seite zu schmieren. Durch die Betäubung nahm ich kaum etwas davon wahr und konnte Amelie beruhigend zulächeln.
Vielleicht lag in der Tragödie des heutigen Tages die Chance, etwas Neues aufzubauen.
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