30
Kian
Mein Vater sah seinen Kriegern dabei zu, wie sie sich auf ihr Vordingen in die Todeszone vorbereiteten. Sie bewaffneten sich mit allen Mitteln, beluden die Pferde mit den letzten Taschen und machten sich bereit für ihre Schritte ins Unbekannte.
Ich hatte nichts, womit ich meinen Vater davon überzeugen konnte, diese Aktion abzublasen und musste tatenlos dabei zusehen, wie wir hunderte Männer und Frauen in den Tod schickten.
Unter anderen Umständen hätte die Nachricht, dass sich Aufständische in der Stadt herumtrieben und bereits zwei Menschen getötet hatten, erschüttert.
Nun sah ich darin eine Chance.
Mein Vater stoppte die Vorbereitungen und erteilte den Befehl, auf weitere Anweisungen zu warten, bevor er sich seinem Telefonat widmete.
Ich schaute ihm perplex hinterher und ließ mich von Charlie aufklären. Zunächst dachte ich über Möglichkeiten nach, diese Situation zu meinem Gunsten zu nutzen. Was auch immer genau passiert war, es gab mir Zeit, etwas zu finden, das die Aufklärungsmission vielleicht doch verhindern könnte.
Dann, als Charlie mir berichtete, dass Silas unsere Verbündeten der ADGD sich auf den Weg zu Silas' Haus machten und sie vermuteten, dass es in Gefahr schwebte, jeden Moment von Aufständischen überrannt zu werden, gefror das Blut in meinen Adern zu Eis.
„Ist er dort?", fragte ich Charlie, während ich ihm in den Westflügel folgte.
„Sein Handy zumindest. Amelies, Toms und Bens ebenfalls."
Ohne darauf einzugehen, sprintete ich zu meinem Vater vor und redete gedankenlos in sein Telefonat hinein. „Ich führe den Aufklärungstrupp in die Stadt, wir müssen-"
„Du wirst gar nichts tun!", fauchte er dazwischen, schob mich zur Seite und redete weiter mit der Person am Handy.
„Benedict leitet gerade alles in die Wege", erklärte Charlie mir, als er zu mir aufschloss. „Die ADGD haben in ein paar Minuten Leute vor Ort. Sie haben beschlossen, dass sie das diskret regeln wollen. Wenn jemand davon erfährt, dass Erwachte innerhalb der Stadtmauern Menschen getötet haben, ist heute das Ende des Friedens erreicht."
Ich schüttelte verständnislos den Kopf. „Wie sind sie da überhaupt reingekommen?" Ich konnte nicht fassen, was gerade vor sich ging und wie wenig ich im Stande war, etwas dagegen zu tun.
„Weißt du, ob es Verletzte gibt?", wollte ich von Charlie wissen.
„Zwei Tote. Herr und Frau Mielich."
„Und Silas?"
Er deutete mir durch einen Finger an seinen Lippen, still zu sein, sodass er das Gespräch meines Vaters besser belauschen konnte.
Wenige Momente später fand ich mich auf dem Podest der Technikzentrale wieder. Mein Vater beendete seinen Anruf und verlangte nach allem, was irgendwie mit Silas und seinem Haus zu tun hatte.
Die einen öffneten Satellitenaufnahmen, die anderen Bilder von sozialen Netzwerken in der Gegend.
Mein Vater lief unruhig im Kreis und schaute sich die Ergebnisse an.
„Ich habe etwas!", rief eine junge Frau. „Ich projiziere es auf die Leinwand."
Im nächsten Moment hatten wir eine Aufnahme von Silas' Einfahrt vor Augen.
„Woher ist das?", wollte mein Vater wissen.
„Die Sicherheitskamera eines Nachbarn. Ich habe mich reingehakt und sie auf das Grundstück der Jachans gerichtet."
Auf der Übertragung passierte nichts. Regen prasselte auf den grauen Stein und verfärbte ihn dadurch etwas dunkler als er eigentlich war, die Sträucher und Blätter wehten im Wind und das Gartentor schlug immer wieder gegen das Schloss. Es waren keine Angreifer, Eindringlinge oder Gefahren zu sehen.
„Können wir irgendwie erfahren, was im Inneren des Hauses vor sich geht?", fragte ich.
Mein Vater drehte sich um und erkannte, dass er mich durch seine Abweisung nicht davon abgehalten hatte, ihm weiterhin zu folgen. Er bedachte mich mit einem finsteren Blick.
„Ich habe Zugriff auf das Mikrofon von Amelies Handy", rief da jemand einer Ecke.
„Alles, was wir tun müssen, ist, von den Fenstern wegzubleiben und nicht in Panik auszubrechen." Diese Stimme identifizierte ich als Benjamins.
„Ich verstehe nicht, wieso wir uns hier verschanzen. Du hast allein gestern locker vier duzend Fehltötungen umgebracht. Mit ein paar weiteren kommst du doch klar", wandte Silas ein.
Man hörte ein Rascheln, Benjamins Stimme und Silas' Erwiderung. Was genau sie sagten, verstanden wir nicht.
„Und was bringt es, hier zu warten, bis sie Verstärkung bekommen?"
„Wir bekommen in der Zeit auch Verstärkung", erklärte Benjamin.
„Was ist, wenn sie einfach reinkommen, mh? Was machen wir dann?" Silas musste für ungeübte Ohren einfach nur provozierend klingen. Ich hörte, dass er Angst hatte.
„Sie können das Grundstück nicht betreten", sagte Tom ruhig.
„Das macht keinen Sinn! Kian war auch hier drin! Er ist locker durch die Tür marschiert, hat mit mir und meiner Oma Kuchen gebacken und dann in meinem Zimmer auf dem Sofa gechillt. Wenn unser Grundstück wirklich gegen Erwachte geschützt ist, hätte das nicht passieren können!"
Ich schluckte hart, als mein Vater mich erneut ansah. Diesmal blickte mir purer Zorn entgegen.
Als Charlie seine Hand auf meine Schulter legte, zuckte ich zusammen. Diese sanfte Berührung schmerzte unter der Härte des Blickes meines Vaters.
„Kian ist ein Gefährtenkind, das ist was anderes", wandte Tom ein. „Ich bin doch nur wegen des Schutzes mit Amelie hierhergekommen. Falls der nicht funktionieren würde, wären wir schon lange tot."
Charlie drückte meine Schulter. Mein Kopf stand kurz vor einer Explosion. Ich hatte vergessen zu Atmen.
Obwohl ich in Sicherheit war, fürchtete ich um mein Leben. Ich rechnete damit, mich jeden Moment gegen bestialische Angreifer verteidigen zu müssen und verfluchte meine verdammte Hilflosigkeit. Ich wagte es kaum Luft zu holen oder mich auch nur das kleinste Stückchen zu bewegen.
„Ich will eine Waffe", beschloss Silas in der nächsten Sekunde.
„Wo willst du denn jetzt eine Waffe hernehmen?", fragte Ben. „Alles, was ich im Auto hatte, liegt vor uns."
„Wir haben einen geheimen Raum im Keller mit altem Jägerzeugs. Einer der Schränke ist eine einzige Waffenkammer. Alica hat ihn zugesperrt und den Schlüssel versteckt, aber, wenn wir ihn aufbrechen-"
„Du brauchst keine Waffe, du bist hier sicher."
„So fühlt es sich aber verdammt nochmal nicht an!" Silas so verzweifelt Schreien zu hören, brachte meine Zellen zum Toben.
„Ich hätte auch lieber was, um uns zu verteidigen. Deine Messer sind ja ganz süß, aber wir sind zu viert und du alleine kannst uns im Notfall nicht alle beschützen."
Ich hörte Ben seufzen. „Na schön, dann holt euch eure Waffen. Aber nur Sachen, mit denen ihr umgehen könnt. Und wenn wir Pfeile und Bogen findet, bringt sie für Amelie mit."
„Ich glaube nicht, dass sie grade im Stande ist, irgendetwas zu tun", flüsterte Silas.
Erst da fiel mir auf, dass wir von Amelie noch kein Wort gehört hatten.
„Sie wird funktionieren, wenn sie muss."
„Woher willst du das wissen?"
„Weil sie meine Schwester ist", sagte Ben voller Überzeugung. „Und meine Schwester lässt sich nicht kampflos unterkriegen."
„Ich kann euch hören, ihr Vollpfosten", brummte sie schließlich mit schwacher Stimme. „Und wenn ihr mal für eine Sekunde eure Klappen gehalten hättet, hättet ihr hören können, dass gerade ein Auto vorgefahren ist."
Während sie das sagte, sahen wir auf der Kamera eine Bewegung im linken Winkel. Einer der vier schob den Vorhang zurück um sich anzusehen, wer gekommen war.
„Das ist kein Auto", hauchte Ben. „Das ist eine verdammte Abrissbirne. Die wollen die Bäume einfach wegschlagen."
Ich machte einen Schritt zurück. In meinem Kopf hatte ich mich bereits umgedreht und war durch den Palast, den Wald und direkt zu Silas' Haus gerannt. Tatsächlich verweilte ich an Ort und Stelle. Charlie Hand rutschte zu meinem Oberarm herunter und er hielt mich fest.
„Bleib hier. Du kannst nichts tun, um zu helfen."
Ich schüttelte den Kopf.
„Du würdest sie ohnehin nicht rechtzeitig erreichen. Die Hilfe der ADGD ist nur noch zwei Minuten entfernt und unsere etwa fünf."
Was Charlie sagte, ergab Sinn. Nur durch Teleportation könnte ich so schnell dort sein, wie ich mir das vorstellte. Ich konnte nichts ausrichten, weder, wenn ich jetzt losrannte, noch, wenn ich hier stehen blieb.
Es war auch nicht so als ließ Charlie mir eine Wahl. Er ließ nicht locker und, als ich versuchte, seinen Arm von mir zu schieben, sah er mich bittend, aber streng an.
Ein Klirren von der Aufnahme erlangte meine Aufmerksamkeit.
„Kein Pfeil und Bogen. Dafür ein paar Dolche und Messer."
„Und was willst du mit dem Morgenstern?" Ben klang zweifelnd.
„Keine Ahnung. Sah nützlich aus."
„Ist er nicht. Du brauchst Stichwaffen oder Kugeln mit dem Siegel. Die müssen direkt ins Herz. Alles andere macht sie nur aggressiv." Ein Piepen ertönte. „Nicolo hat mir gerade geschrieben", teilte Benjamin mit. „Sie fahren jeden Moment vor. Sobald die Autos auf der Einfahrt stehen, steigt ihr ein."
„Und was ist mit dir?", fragte Amelie.
„Ich bleibe und kämpfe."
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