3
Silas
Der Moment, in dem jeder merkt, wie sehr er sich selbst hasst, ist der, in dem ihm bewusstwird, wie hilflos er seinen Gefühlen ausgeliefert ist.
Ich hatte Monate der Tortur hinter mir. Des Vermissens, des mich Sehnens, der Sorge, der Angst. Selbst, als Kian zurück gewesen war, hatte das kein Ende genommen.
Nach unserer ersten Begegnung hatte ich mich noch damit abgefunden, dass er mich nicht begrüßt hatte. Seine Mutter war in diesem Moment wichtiger gewesen als ich. Die Nacht darauf hatte ich wachgelegen und ihn gedanklich dafür entschuldigt.
Zwei Tage später sah das anders aus. Ich war zutiefst verletzt und daher so wütend, dass ich Pläne schmiedete, Kian selbiges anzutun. Ich würde ihn ignorieren, ihm aus dem Weg gehen und ihm das Gefühl vermitteln, mich würde seine Existenz nicht im Geringsten interessieren. Ich wollte meine Gefühle für ihn abstellen, ihm eiskalt in die Augen sehen und etwas sagen, das meine Unabhängigkeit von ihm bewies. Sowas wie: „Oh, du bist schon zurück?" Oder: „Was? Denkst du ich habe auf dich gewartet?"
Insgeheim reichte die Erwähnung seines Namens, der bloße Gedanke daran, dass er sich im selben Gebäude aufhielt wie ich und mein Herz schlug in einer bestimmen Frequenz, die nur ihm gehörte. Mir wurde warm und alles begann zu flimmern und verdammt, ich ging daran zu Grunde, dass er mich nicht ebenso gern im Arm halten wollte wie ich ihn.
Als ich ein weiteres Mal während meiner Prüfungsvorbereitungen in meine Sehnsucht abgedriftete, beschloss ich, dass das Warten ein Ende hatte. Ich würde auf Kian zugehen, es würde mir egal sein, wie emotionslos er mich ansehen würde und ich würde ihm klarmachen, dass ich so nicht mit mir umgehen ließ.
Wenn er schon behauptete, ihm würde etwas an mir liegen, dann sollte er sich gefälligst ein wenig Mühe machen, das zu zeigen. Und wenn nicht, dann sollte er mir deutlich sagen, dass es nicht so war. So, dass selbst mein von Dummheit betriebenes Herz es begriff. So, dass selbst das letzte Bisschen Hoffnung erlosch.
Ich war wild entschlossen, Kian zu konfrontieren. Aber ich brauchte Beratung. Mich lächerlich machen, würde nämlich nicht dazu beitragen, mich besser zu fühlen.
Mein Blick fiel auf Boris. Er saß neben mir an Kians Schreibtisch. Während ich versuchte, ihm den Unterrichtsstoff, den er verpasst hatte, einzutrichtern, lenkte er sich am Handy ab und ließ meine Stimme begleitend nebenherlaufen. Hin und wieder hatte er mich sogar unterbrochen, um mir süße Tiervideos zu zeigen.
Mir war nicht danach zu Mute gewesen. Oder nach sonst irgendetwas, das auch nur ansatzweise positiv war.
Jeder Scherz, jedes Grinsen, jedes Wort von Boris war eine Farce. Nachdem ich mir seinen Alptraum mitangesehen hatte, wusste ich, wie es wirklich in ihm aussah. Er konnte mich nicht länger durch Gedanken an Pinguindokumentationen oder laszive Auftritte von Sängerinnen täuschen.
Nein, ich hatte mich täuschen lassen. Ich war so naiv gewesen zu glauben, Boris sei der einzige Mensch in meinem Umfeld, der keine belastenden Gedanken hatte. Dabei hatte ich nur sehen können, was er mir hatte zeigen wollen.
Was für eine Konzentration ihn das gekostet haben musste. Was für eine Beherrschung. Was für eine Kraft. Er hatte sich jeden Tag um mich gekümmert, während er nachts von diesen Bildern heimgesucht worden war und er hatte nie ein Wort gesagt.
Obwohl ich mir eingestehen musste, dass ich ihn nicht halb so gut kannte, wie ich bisher geglaubt hatte, war ich mir sicher, er hatte keine Ahnung wie stark er war.
„Boris?" Ich klappte mein Mathebuch zu und schob es entschlossen von mir. Genug gelernt.
„Mh?"
„Ich brauche deine Hilfe"
Er sah auf. Mein Gesichtsausdruck musste die Ernsthaftigkeit meiner Stimme widerspiegeln, denn er legte sein Handy zur Seite und musterte mich eingehend. „Was ist los?"
Ich wusste genau, was ich ihm sagen wollte. Ich wusste nur nicht wie. Also sah ich ihn wortlos an und versuchte die passenden Worte zu finden, während sein Blick immer fordernder wurde.
Ich bekam Panik.
Er hatte mir immer beigestanden, doch so direkt hatte ich ihn noch nie darum gebeten.
Was sollte ich tun? Wie sollte ich ihm klarmachen, wie verzweifelt ich war? Und wie konnte ich das, ohne meinen Stolz zu verlieren? Oder hatte ich das vielleicht sogar schon längst?
„Wegen Kian", murmelte ich, bevor ich meine Stimme verlor. Mein Hals wurde eng. So als stünde jemand direkt hinter mir und drückte meine Kehle zusammen.
Nebel zog sich über mein Blickfeld, ich schnappte nach Luft, und das Gesicht meines Cousins verschwamm vor meinen Augen.
„Oh nein. Hey, schon gut." Die Sanftheit, die seine Stimme begleitete, schützte mich für einen Moment vor dem Gefühl zu ersticken. Als er mich in den Arm nahm, war ich ein schluchzendes und jammerndes Wrack.
„Scheiße, keine Ahnung, warum ich jetzt heule."
„Schon gut." Boris rutschte noch näher zu mir. Seine Umarmung wurde fester. „Schon gut", wiederholte er. „Der Typ ist ein Pisser."
Obwohl meine so hart zurückgedrängten Gefühle mich so plötzlich überwältigt hatten, brachte Boris' Ausdrucksweise mich ein wenig zum Lachen.
Ich verrenkte mich, um mir die Tränen von den Wangen streichen zu können, obwohl andauernd neue nachkamen. Vergessen war mein Ego und mit ihm der Zwang, aller Welt einen unverwundbaren Eisklotz vorzuspielen.
Kian hatte mich verwundet. Schwer. Und ich raffte langsam an dieser Verletzung dahin.
„Wobei brauchst du Hilfe?", wollte Boris wissen. „Sollen wir ihn killen? Lebendig vergraben? Foltern? Blamieren? Beschneiden? Alles davon?"
„Nein! Ich will nur mit ihm reden."
„Oh." Dieser Laut klang deutlich weniger erfreut als seine Vorschläge, Kian Leid anzutun.
Ich hatte keine Zeit zu begreifen, wie gut die Nähe zu meinem Cousin tat. Die Gewissheit, auf seine Unterstützung bauen zu können.
Wir hatten keine Zeit, wirklich über irgendetwas zu reden. Eine Lösung zu finden.
Mein Handy klingelte. Ich tastete danach und nahm ab, ohne zu registrieren, dass es sich um eine unbekannte Nummer handelte.
Bens Stimme zu hören, so klar und fröhlich, löste eine ungemeine Wut in mir aus. Die Sache mit Kian war nicht das einzige, was mich belastete. Um genau zu sein, gab es momentan nichts, das auch nur ansatzweise erträglich war. Und Ben hatte einen gewaltigen Anteil daran. Er konnte mich nicht anrufen und erwarten, mich in bester Stimmung zu erleben, nachdem er uns allen seinen Tod vorgegaukelt hatte.
Mein Leben war in den letzten Monaten komplett zusammengebrochen. Ich wollte nicht freundlich und verständnisvoll sein. Es war einfach nicht fair.
„Was willst du, Ben?"
„Störe ich?"
„Ja. Was willst du?", wiederholte ich matt.
„Uhm, nichts Bestimmtes eigentlich. Ich habe heute erfahren, dass ich in ein paar Tagen zu euch komme. Wir sind auf einen Ball eingeladen. Und ich... ich musste an dich denken."
„Und?"
Boris sah mich verblüfft an. Er hatte genauso wenig mit dem Desinteresse in meiner Stimme gerechnet wie Ben und auch ich selbst.
„Naja, ich dachte, wir könnten den Abend zusammen verbringen."
Ich schüttelte den Kopf, wohl wissend, dass er es nicht sehen konnte. „Gib mir erstmal Zeit, mich daran zu gewöhnen, dass du wieder.... noch am Leben bist."
„Das klingt sinnvoll."
Die Freude war ihm komplett vergangen. Ich konnte bildlich vor Augen sehen, wie seine Schultern nach unten sackten und er den Kopf hängen ließ.
Ich seufzte, in dem Wissen, dass vieles von dem, was ich ihm an den Kopf werfen wollte, nicht ihm galt, sondern Kian.
Ich war nicht bereit, das auch so zuzugeben. Ben konnte ruhig wissen, dass mein Leben ohne ihn weitergegangen war.
„Ich will dich nicht nerven, aber es klingt so, als geht es dir grade nicht gut. Magst du darüber reden?"
Ich kam nicht einmal dazu, mir zu überlegen, ob ich das wollte. Boris hatte mich lange regungslos angestarrt und griff so plötzlich nach meinem Handy, dass ich nicht dazu im Stande war, ihn abzuwehren.
„Hey, Benny. Hab schon gehört, dass du dir doch nicht die Kugel gegeben hast. Hat mich gewundert, echt..."
Boris klang total entspannt, während er Ben klarmachte, dass er sich von mir fernhalten sollte und meine Versuche, mein Handy zurück zu erobern, abwehrte.
„Ich kann für mich selbst sprechen!", empörte ich mich. Obwohl Boris kleiner war als ich, schaffte er es, mich mit einem Arm auf Abstand zu halten.
„Nein, Ben. Hast du nicht. Spar dir deine lächerlichen Anrufe und leeren Worte. Wir haben mit dir abgeschlossen."
„WIR?!" Ich war entsetzt. „Mann, Boris!"
Es ging mir weniger darum, nicht zuzulassen, dass Boris mich bis auf die Knochen blamierte, sondern eher darum, dass er Ben so den Eindruck vermittelte, ich hätte noch sowas wie Interesse an ihm. Was definitiv nicht der Fall war. Meine Gefühle für ihn hatte ich mit seiner nicht vorahndenden Leiche begraben. Jetzt war da nur noch Kian. Und, egal, wie es gerade zwischen uns aussah, niemand sollte einen Grund haben, anderes anzunehmen. Schon gar nicht Ben.
Boris begann aus dem Nichts zu lachen. „Ja klar! Kannst dich ja mit dem Prinzen der Erwachten um Silas duellieren. Ich gieße dann dein Grab mit meiner Spucke, nachdem ich sichergegangen bin, dass du diesmal wirklich drin liegst."
„Geht's noch?!"
Dass Boris sauer auf Ben war, konnte ich ihm nicht vorwerfen. Mir ging es genauso. Dieses Tod-Vortäuschen, uns um ihn trauern lassen und dann wieder in mein Leben treten wollen als sei die Erde ohne ihn stillgestanden, war Grund genug, ihm tausend Arschtritte zu geben. Aber aus Boris sprach der pure Hass. Und ich mochte die Worte nicht, die dieser formte. Ben hatte immerhin auch nur getan, was er für richtig gehalten hatte. Und wer wusste, ob ihm das nicht tatsächlich das Leben gerettet hatte.
Ein Klopfen an der Zimmertür zog Boris' Aufmerksamkeit auf sich. Ich nutzte die Chance, ihm mein Handy zu entreißen und flüchtete ans andere Endes des Zimmers.
„Tut mir leid, du kennst doch Boris", keuchte ich gehetzt in den Hörer. „Er meint es nicht so."
„Schon okay." Ich hörte Ben lächeln. „Er will dich nur beschützen."
„Ich muss nicht beschützt werden", brummte ich.
„Das lasse ich jetzt mal so stehen. Schreib mir, falls du doch noch Lust hast, dich zu treffen. Oder falls du reden willst. Ich würde mich freuen."
Ich wollte mich von Ben verabschieden. Ein paar unverfängliche Worte zu sagen und auflegen. Aber meine Lippen erstarrten zu Beton, bevor ich auch nur daran denken konnte, einen Abschluss zu finden.
Kian erwiderte meinen Blick fest.
„Ich muss mit Boris reden", teilte er mit.
Unvermittelt seine kalte Stimme zu hören war beinahe schlimmer, als sein emotionsloses Starren. Kurz glaubte ich, ich hätte mir alles, was zwischen uns gewesen war, nur eingebildet. Aber es reichte ein Schritt auf ihn zu, obwohl wir noch unendlich weit voneinander entfernt waren, und ich sah seine Maske bröckeln.
„Ohne mich?"
Er nickte.
In einem unverhofften Anflug von Mut ging ich auf dem Weg zur Tür am Schreibtisch vorbei und nahm die Box, die schon seit Kians Abreise draufgestanden hatte, runter, um sie ihm unnötig grob gegen den Bauch zu drücken.
„Dann lies das wenigstens, wenn du schon nicht mit mir reden willst."
Ich hatte beabsichtigt stark zu klingen. So als tangierte mich sein Verhalten tangierte kein Stück. So als sei ich selbstsicher genug, alles, was er tat, spurlos an mir vorbei gehen zu lassen. Tatsächlich brachte ich nur ein schmerzerfülltes Hauchen zu Stande.
Er hielt es nicht für nötig, darauf zu reagieren. Nicht mit Taten, und auch nicht mit Worten. Er stand einfach da und sah mich an.
Selbst, als ich einen letzten Blick zurück zu ihm warf, kurz bevor ich das Zimmer verließ, hatte er sich noch nicht gerührt. Also ging ich, wie gewünscht.
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