26
Silas
Das Gebäude hatte sich erstaunlich schnell geleert, nachdem der offizielle Teil der Veranstaltung vorbei gewesen war. Die meisten der Mitglieder hatten mit ihrem Beisein der Zeremonie einen Punkt auf ihrer Terminliste abgehakt und gingen nun zum nächsten über.
Die Nachwuchsteams allerdings hatten die Gelegenheit genutzt, eine Party zu organisieren. Ezra hatte mir erzählt, dass es eine Art Tradition war, vor wichtigen Einsätzen gemeinsam zu feiern.
Morgen würden sie, Cédric, Arian, Nicolo, Ben, ihre Kollegen und ein Teil der Armee der Erwachten erneut die Todeszone betreten, um Antworten auf die Fragen zu finden, die sie sich seit ihrem letzten Aufenthalt dort stellten.
Sie hatten den letzten Einsatz bis ins kleinste Detail analysiert, sich bestens vorbereitet und genaue Ziele formuliert, die sie dieses Mal erreichen wollten.
Genauere Informationen hatte ich darüber nicht bekommen. Dazu war ich nicht befugt. Aber wir wussten alle, dass es kein Spaß werden würde.
Heute sollte gefeiert werden. Nur für den Fall, dass es ein übermorgen für manche nicht geben würde.
Ben führte mich in sein Zimmer, um mir etwas von seinen Klamotten anzubieten. Der Anzug nervte mich und frisch roch er nach meinem Schweißausbruch durch den Blickkontakt mit Kian auch nicht mehr.
Sobald die Tür hinter uns zufiel und ich mir sicher sein konnte, dass wir alleine waren, fragte ich ihn, warum er Kian angeboten hatte, zur Party zu bleiben. Ich bemerkte nur am Rande, dass der Raum genau so aussah, wie der, der mir zur Verfügung gestellt worden war. Allein das Innere des Kleidungsschranks verwies darauf, dass die Bewohner der Zimmer nicht genauso geklont worden waren wie die Räume selbst.
„Warum nicht? Vielleicht wird er ein bisschen lockerer und ich kann ihm ein Küsschen abluchsen?" Er wackelte mit den Augenbrauen.
Ich konnte nur den Kopf schütteln. „So ist Kian nicht."
„Das sehen wir dann schon." Ben machte eine wegwerfende Handbewegung, ehe er seinen Kleiderschrank öffnete und zwei vorbereitete Outfits rausholte, die an jeweils einem Kleiderbügel hingen.
Eines war eine schwarze lockere Jeans mit Nietengürtel und einem schwarzen bauchfreien Top und das andere bestand aus einer weißen Hose mit Löchern und dazu ein rosa Top.
„Welches willst du?"
„Ich soll eins davon anziehen?!"
Früher hatte Ben mir auch das ein oder andere Mal ein Outfit zusammengestellt. Damals hatte er sich meistens an meinem Kleiderschrank bedient. Seine Klamotten passten absolut nicht zu mir.
Er überging meine Frage und schaute sich die Tops an. „Ich habe heute, glaube ich, Lust auf was Süßes. Du bekommst das hier." Er drückte mir den Haken mit den schwarzen Kleidern in die Hand und begann, sich seinen Anzug auszuziehen.
„Ben, ich weiß echt nicht, ob ich mich mit diesem Top wohlfühlen werde."
„Wieso?"
„Das ist doch viel zu kurz und eng."
„Pah!", stieß er aus, während er sich auf das Bett setzte, um sich seine viel zu enge Hose von den Beinen zu pellen. „Habe ich dir nicht beigebracht, dass es nicht auf die Größe ankommt?"
Ich verdrehte die Augen und warf das Outfit auf sein Bett, um mich in seinem Kleiderschrank nach etwas Passenderem umzusehen. Nach wenigen Minuten musste ich feststellen, dass das Top tatsächlich noch das Teil war, mit dem ich am wenigsten Aufmerksamkeit auf mich ziehen würde.
„Hast du keine normalen T-Shirts?"
„Nö."
Ich sah ihn genervt an.
Schließlich entschied ich mich dafür, wenigstens die Hose und den Gürtel anzuziehen und die Schweißflecke auf meinem Hemd zu akzeptieren.
Ich knöpfte es etwas auf, krempelte die Ärmel hoch und musterte mein Spiegelbild. Die Frisur, die Ezra mir gemacht hatte, hatte perfekt gehalten. Meine Haare waren glatt nach hinten gelegt und nur eine Strähne hing nach vorne hinaus.
An Kian sahen Hemden um einiges besser aus als an mir. Zugegeben, der Vergleich hinkte. Kian setzte die Messlatte auf eine Höhe, die ich nicht einmal im Traum erreichen konnte. Keiner konnte das. Dieser Mann war makellos.
Ben schob mich achtlos zur Seite, um seine Reflexion zu mustern, wuschelte sich durch die Haare und machte verschiedene Posen, die unabsichtlich lässig aussehen sollten. Was sie auch taten. Allerdings wusste ich nun, dass er sie vor dem Spiegel einstudiert hatte und glaubte, somit würden sie ihre Wirkung verlieren.
„Willst du das Top nicht wenigstens mal anprobieren?"
Wieder schüttelte ich den Kopf.
Ein wichtiger Grund, weshalb Ben alles tragen konnte, war seine große Selbstsicherheit. Er wusste, dass er gut aussah und dass er das in einem Kartoffelsack ebenso tun würde wie in einem bauchfreien rosa Top mit kleinen Regenbögen auf den Nippeln. Womöglich machte dieses Selbstbewusstsein sogar einen großen Teil seiner Attraktivität aus.
Ich schaute nicht in den Spiegel und liebte, was ich darin sah. Mein Körper war eine einzige Baustelle. Hier wollte ich weniger Haare, dort mehr Muskeln. Es gab kaum etwas an mir, das ich mochte.
Obwohl ich es geschafft hatte, meine Kraft erfolgreich zu verdrängen, fürchtete ich mich vor dem Urteil zu meinem Erscheinungsbild. Selbst, wenn ich ihre Gedanken nicht hörte.
„Okay, dann halt nicht." Ben hängte das Top zurück in seinen Schrank und schob mich zurück zur Tür. „Siehst auch so sexy aus. Einen von uns wird dein Prinzchen heute schon noch vernaschen."
Ich verschluckte mich an meiner eigenen Spucke und hustete wild in den Flur. Eine Reinigungskraft warf mir einen angeekelten Blick zu, während ich mir die Hand an den Hals legte und nach Luft schnappte.
Wenn Ben wüsste, wie sehr Kian sich davor fürchtete, mich „vernaschen" zu wollen... Naja, er hätte das trotzdem genau so gesagt.
„Er ist nicht mein Prinzchen", machte ich ihm hechelnd klar. Schon wieder.
„Dann kann ich mein Glück ja versuchen." Er schlenderte sorglos an mir vorbei.
Ich sah ihm für einen Moment hinterher. Im nächsten zog ich ihn an der Schulter zurück und schubste ihn an die Wand.
„Lass deine nuttigen Finger von ihm."
Ben hatte nicht mit einem solchen Angriff gerechnet. Die Überraschung in seinem Blick wich der Erkenntnis, dass mir bei diesem Thema nicht nach Späßen zu Mute war. Er scannte mein gesamtes Gesicht ab und nickte dann.
„Okay, verstanden."
Erst, als ich einen Schritt zurückging und mein Hemd richtete, bemerkte ich, wie kraftvoll ich Ben gegen die Wand gepresst hatte.
Hingegen meiner Befürchtung, er würde meine extreme Reaktion kommentieren, widmete er sich dem Auslöser dafür und benannte ihn erstaunlich präzise.
„Aber nur, um das klarzustellen: Du willst ihn nicht, aber ein anderer darf ihn auch nicht haben?"
Ich schnaubte. Sein dummes Grinsen wäre mir doch lieber gewesen als so plötzlich mit der Wahrheit konfrontiert zu werden: das Problem war nicht, dass ich ihn nicht wollte, sondern, dass er mich nicht wollte.
Ich beharrte darauf, dass Kian nicht mir gehörte und ich nicht ihm und gleichzeitig war ich bereit, jeden, der auch nur daran dachte, sich ihm anzunähern, bis auf den Tod zu bekämpfen.
Ben musste mich für absolut durchgeknallt halten.
„Das würdest du nicht verstehen." Ich verstand es ja selbst nicht.
„Versuch doch, es mir zu erklären."
„Es geht dich nichts an."
Ich hörte mich an wie ein strenger Vater, der seinem Kind klarmachte, dass es aufhören sollte, nervige Fragen zu stellen.
Ben reagierte seiner Rolle entsprechend: „Ich will es aber wissen."
„Man bekommt nicht immer, was man will."
„Wenn du es mir nicht sagt, frage ich halt Eure Majestät"
„Mach doch."
Es würde mich auch interessieren, was Kian dazu zu sagen hatte. Welche Lüge ihm spontan einfallen würde, um nicht zuzugeben, dass er Gefühle für mich hatte, für die er nicht einstehen wollte.
Für Ben war Treue ein Fremdwort. Ich konnte ihm nicht erklären, warum ich das Gefühl hatte, Kian zu hintergehen, wenn ich seine Versuche, Nähe zu mir aufzubauen zuließ. Und ich wusste, dass Kian ebenso wenig auf Bens Avancen eingehen würde wie ich. Wir hatten nie darüber gesprochen, ob Kian grundsätzlich Interesse an Männern hatte, aber ich war überzeugt davon, das wäre nicht von Bedeutung.
Ben war keine Konkurrenz für mich. Maddy genauso wenig. Das erkannte ich in Kians Blicken, jedes Mal, wenn er mich ansah. Selbst, wenn er Eiseskälte in seinen Augen trug, dahinter loderte ein Feuer, das er genauso wenig bändigen konnte ich meines.
Er brannte für mich.
Ich brannte für ihn.
Und es gab nichts, das diese Flammen löschen oder eindämmen konnte. Also versuchte ich, mich daran zu wärmen und wartete darauf, dass Kian sich zu mir setzte und erkannte, dass es aufhörte wehzutun, sobald er sich eingestand, wie schön es war.
Auf unserem Weg zurück in den Festsaal, begegneten wir deutlich weniger Leuten als zuvor. Die meisten hatten kein Interesse daran, noch großartig zu feiern und hatten schnell das Weite gesucht. Jetzt waren nur noch Personal und Partygänger anwesend.
Der Saal wirkte, nachdem er sich um mehr als die Hälfte geleert hatte, umso größer. Die Beleuchtung hatte sich von grell und aufdringlich zu gedimmt und angenehm verwandelt. Neuster Pop aus den Soundboxen hatte die klassische Musik der Band abgelöst und von wilden Gesprächen und Diskussionen war nichts mehr zu hören. Nur noch laute Beats und hier und da geschriene Textpassagen.
„Da sind die anderen!", brüllte Ben mir ins Ohr, während er mich an den Hüften zur linken Wand zog, an der Cédric, Ezra und Nicolo lehnten.
Auch sie hatten sich umgezogen und waren bereit zu feiern.
„Ich habe gehört, du hast sie eingeladen, für die Party hierzubleiben?" Cédric wandte sich mit grimmiger Miene an Ben.
Sowie er, folgte ich Cédrics Nicken mit dem Blick zur anderen Seite des Saales, an der Maddy und Kian standen und sich über die Musik hinweg unterhielten.
Wie den gesamten Abend über hatte Maddy ihre Hand an Kians Arm und Kian tätschelte sie hin und wieder, so als hätte er einen inneren Timer installiert, der ihn daran erinnern sollte, für alle paar Minuten kurz so zu tun als sei er gerne so nah bei ihr.
Nicolo stieß mich mit dem Ellenbogen an und hielt mir ein Glas mit brauner Flüssigkeit hin. Ich hatte keine Ahnung, was das für ein Gesöff war, aber ich nahm so viel davon, wie ich in einem Zug trinken konnte und schüttelte mich danach ordentlich durch.
Am Rande bekam ich mit, wie Ben mit Cédric darüber diskutierte, dass Ben heute Abend sehr wohl das recht hatte, jemanden zur Party einzuladen, da sie immerhin auf seine Zeremonie gefolgt war.
Als er meinte, ich würde auch wollen, dass Kian, Maddy und Charlie hier waren und Cédric mir einen kritischen Blick zuwarf, wandte ich den beiden den Rücken zu und nahm noch einen Schluck der ekelerregenden Flüssigkeit.
Ich wusste selbst nicht was ich wollte. Kian zu sehen war nicht schön. Es war grauenvoll, wie gut es anfühlte, wenn sich unsere Blicke trafen. Oder wenn ich seine Stimme hörte. Oder, wenn ich wusste, dass er mich anstarrte. Es war eine Qual, so weit entfernt von ihm zu sein. Zu realisieren, dass er mit seinem Auftritt hier nur seiner Verpflichtung nachging und eigentlich nichts mit mir zu tun haben wollte.
„Mach mal lieber langsam mit dem Zeug. Sobald das anfängt zu wirken..." Den Rest von Ezras Warnung hörte ich nicht mehr.
Jemand rannte mit Vollgas in mich hinein und stieß mich dadurch geradewegs in Cédrics Arme. Der Grießgram machte keine Anstalten, mich aufzufangen, sondern wich zur Seite und ließ mich somit an die Wand hinter ihm knallen.
Mit verzogenem Gesicht und vor Schreck pumpendem Herzen rieb ich mir den pulsierenden Hinterkopf. Meine Umgebung tanzte um mich herum.
Ich versuchte, den Idioten zu erkennen, der mich gerammt hatte. Im selben Moment hob er mich hoch und drückte mich so fest, dass ich kaum atmen konnte.
Ich erkannte den blond gefärbten Haarschopf sofort.
„Boris?!", schrie ich ungläubig und wandte mich aus seiner Umarmung, um ihn zu mustern.
„Wie er leibt und lebt", verkündete mein Cousin grinsend und deutete einen hoheitlichen Knicks an.
„Du hast mich voll erschrocken! Ich dachte, irgendjemand will Stress anfangen!" Ich boxte ihm gegen die Schulter und er erwiderte den Schlag sofort.
„Ich bin immer bereit für Stress mit dir." Spielerisch hob er die Fäuste die deutete drei Schläge an, ehe er sie wieder sinken ließ.
„Jaja, wer's glaubt." Alica schob ihn genervt beiseite und umarmte mich deutlich sanfter.
Ich musste lächeln, schloss die Arme enger um meine Cousine und ließ für einen Moment die Augenlider nach unten fallen. Ihre Umarmung fühlte sich nach zuhause an.
Als wir uns wieder voneinander lösten, fiel mir auch Charlie auf, der in kleinem Abstand dahinter wartete und mir wortlos zunickte.
„Hast du die beiden hergeholt?"
„Er hat angerufen und gemeint, wir sollen uns fertigmachen, gleich holt uns jemand ab, der uns zu dir bringt", antwortete Boris für Charlie, während Letzterer auf uns zulief.
Ich warf den linken Arm über Boris Schultern und den rechten über Alicas, während ich mich bei Charlie bedankte.
Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal so glücklich gewesen war wie in diesem Augenblick. Und ich wusste nicht, ob ich es jemals wieder sein würde.
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