25
Kian
Maddy und meine Mutter hatten den gesamten Nachmittag damit verbracht, Maddy einzukleiden, zu frisieren und zu schminken. Ich warf kurz vor knapp die Hose, das Hemd und die Korsettweste über, die mir rausgelegt worden waren. Charlie schnürte sie mir zu und musterte mich zufrieden, bevor wir Maddy abholten.
Ein Auto der ADGD empfing uns an einem vereinbarten Treffpunkt an der Stadtgrenze und fuhr uns zur Location des Abends.
Es war still. Keiner hatte etwas zu sagen. Charlie schaute aus den verdunkelten Fenstern, Maddy spielte an ihrem Kleid herum und ich drehte meinen Ring. Silas' Ring.
Mein Vater hatte mir mitgeteilt, was ich zu Silas sagen sollte: Ich gratuliere dir im Namen des Königshauses und wünsche dir viel Erfolg auf deinem weiteren Weg.
Ich hatte nicht vor, das auch tatsächlich so auszusprechen. Diese Worte klangen unaufrichtig.
Wie ich ihm stattdessen gratulieren würde, wusste ich nicht. Ich wusste ja nicht einmal, ob ich überhaupt dazu kommen würde. Womöglich war er zu beschäftigt, um sich meine erzwungenen Glückwünsche anzuhören.
Hoffentlich.
Die Fahrt war zuende, bevor ich mir einen Plan hatte zurechtlegen können. Wahrscheinlich hätte sie bis zum Ende der Welt gehen können und ich wäre noch nicht darauf vorbereitet gewesen, Silas zu sehen. Silas und Benjamin.
Falls ich dazu kommen würde, mit Silas zu sprechen, musste ich mit einer Provokation seiner Seite rechnen.
Daran, dass ich auf hochrangige Verbündete der Allianz treffen würde, verschwendete ich keinen einzigen Gedanken. Im Vergleich zu Silas waren sie nicht wichtig.
Die Wagentür wurde von außen geöffnet. Charlie stieg zuerst aus und ich folgte ihm. Ich hielt Maddy die Hand hin und sie hakte sich bei mir unter, sowie wir es geübt hatten.
Die Limousine fuhr davon und ich blickte mich um. Wir standen auf einem edlen Anwesen. Die Auffahrt schien bis in den Horizont zu reichen, das Haus war von Garagen und Wiesen umgeben und ragte beinahe so hoch wie das Hauptgebäude des Palastes. Nur um einiges moderner. Es sah aus wie ein riesiger Glaskasten
Um uns herum hielten immer wieder Autos, Leute stiegen aus, und fuhren wieder davon. Sowie die Unbekannten gingen wir auf den Eingang des Gebäudes zu.
Von außen erkannte man bereits, wie belebt der Eingangsbereich war. Wir gingen gerade durch die Tür, da kam bereits eine junge Dame mit einem Tablett auf uns zu und bot uns etwas zu trinken an. Hinter ihr stand eine Kollegin mit Häppchen.
Es verstrich eine Sekunde nach unserer Ablehnung, bevor sich ihre Augen öffnete und sie begriff, wen sie vor sich hatte. Sie bat hastig um Verzeihung und wollte dann, dass wir ihr folgten.
Sie brachte uns an den Tresen mitten im Foyer, besprach etwas Unhörbares mit ihrer Kollegin und wandte sich wieder lächelnd an uns.
„Arian Segomo, der Verantwortliche des A-Teams, wird Ihnen für den Abend als Ansprechpartner zur Verfügung stehen."
„Verzeihung, dass ich das jetzt so plump frage, aber müssen wir wissen, was das A-Team ist?" Maddy lächelte der Dame unsicher zu.
„Oh, nein, das können Sie doch gar nicht", erwiderte sie. „Möchten Sie eine kurze Erklärung?"
„Bitte."
Ich lausche Maddys Gespräch mit einem Ohr, während ich mich in alle Richtungen umsah. Es lagen viele verstohlene Blicke auf uns.
Ich kam mir so vor als stünde ich wieder auf dem Pausenhof, dabei waren wir nun von Erwachsenen umzingelt statt von Kindern und Jugendlichen. Sie verheilten sich genau gleich. Bildeten Grüppchen, flüsterten sich Dinge zu, schauten uns an und wichen dann unseren Blicken aus, wenn wir es erwiderten.
Von Silas war weit und breit keine Spur.
„Wir teilen unsere Einsatzteams auf. So arbeitet immer eine bestimmte Gruppe zusammen, man kennt die Stärken und Schwächen seiner Kollegen und es ist möglich, eine beinahe optimale Zusammenstellung zu erreichen. Das A-Team ist die Gruppe der Erben, in denen die Allianz das größte Potenzial sieht. Wir nennen sie auch Angels. In einer der alten Sprachen bedeutet das-"
„Engel", flüsterte ich.
Ich hatte nicht vorgehabt, die Erklärung zu unterbrechen. Sie schien es mir aber nicht übel zu nehmen und nickte lächelnd. „Genau."
„Engel sind Wesen aus den alten Religionen, oder?", hakte Maddy vorsichtig nach.
Da sie mich dabei fragend anschaute, nickte ich. „Es gibt verschiedene Vorstellungen und Einteilungen von ihnen. Manche sahen sie als Beschützer, andere als Berater und wieder andere als Krieger. Wir können das mal zusammen durchgehen, wenn du Interesse daran hast."
Sie begann sofort eifrig zu nicken. „Das interessiert mich sehr. Lass uns morgen schauen, wann wir Zeit dafür finden."
Seltsam. Noch vor einem Jahr hätten wir uns dafür spontan im Garten getroffen. Nun mussten wir einen Termin vereinbaren. Und das, obwohl ich sie bald heiraten sollte.
Würde unsere Ehe auch so ablaufen?
Noch während ich nickte, hörte ich von unserer namenlosen Begleiterin: „Oh, da kommt er."
Sie schaute die Treppen hoch und ich folgte ihrem Blick.
Ein junger Mann schritt die Stufen herab. Alle, die ihn sahen, machten ihm Platz, grüßten ihn und manche blickten ihm noch kurz hinterher.
Er war groß. Sogar durch den Anzug, den er trug, sah man ihm an, dass er viel trainierte. Er hatte hellblonde Haare, fast weiß und stechend blaue Augen, selbst aus der Ferne.
Sein Gang war aufrecht und selbstbewusst. Seine Mimik verschlossen. Als er uns erreichte, sich vorstellte und uns versicherte, dass wir uns mit Anliegen oder Fragen an ihn wenden sollten, wurde sein Gesichtsausdruck nicht viel zugänglicher.
Maddy und er führten Smalltalk, Charlie ließ seinen wachsamen Blick über die Menge gleiten und ich schaute mich nach Silas um. Es war nicht so als wolle ich ihn unbedingt sehen. Ich wollte nur nicht in einem Raum mit ihm sein ohne es zu wissen.
Ich nahm nicht wahr, wie viel Zeit verging, bis Arian uns bat, ihm zu folgen und wir, sowie alle anderen aus dem Foyer die Flure entlang in einen weiten Saal strömten.
Für meine Begleiter und mich waren drei Plätze in der ersten Reihe reserviert worden. Ich saß etwa sechs Meter vor der Bühne und sah aus nächster Nähe dabei zu, wie Silas und Benjamin sich unterhielten.
Sie beide lagen auf einem Stuhl dahinter, hatten einen freien Oberkörper und wurden an der Schulter tätowiert.
Links neben mir nahm Arian Platz. Er erkannte meinen verwirrten Blick und begann zu erklären, was es damit auf sich hatte: „Wir machen im Laufe der Ausbildung verschiedene Zeremonien mit. Bei jeder wird das Tattoo um ein Element erweitert." Er deutete auf Benjamin. „Seins ist jetzt fast fertig und Silas bekommt erstmal den äußeren Ring."
„Wie sieht es aus, wenn es fertig ist?", wollte Maddy wissen. Sie beugte sich etwas vor, um zu Arian sehen zu können.
Er deutete auf das Emblem, das über der Bühne von der Decke hing und Maddy musterte es aus großen Augen.
Ich schaffte es nicht mehr, meinen Blick von Silas zu lösen. Die gesamte Zeremonie über. Selbst, als er mich und mein Starren bemerkte und er begann, es zu erwidern.
Die Veranstaltung, stellte sich heraus, widmete sich nicht nur Silas und seiner Aufnahme in die ADGD, sondern auch Benjamins bestandener Prüfung, nach der er zum vollwertigen Mitglied des A-Teams erklärt worden war.
Charlie, Maddy und ich reihten uns in die Schlange der Gratulierenden ein. Es dauerte etwa fünf Minuten, bis ich Silas gegenüberstand und Wort für Wort das sagte, was mein Vater mir aufgetragen hatte.
Silas verzog das Gesicht und erwiderte einen Dank, den er genauso wenig ernstmeinte wie ich meine Glückwünsche.
Danach ließ er sich von Maddy umarmen und versprach ihr, mit ihr zu reden, sobald er die Schlange abgefertigt hatte.
Wir folgten Arian in den Saal, in dem die förmliche Feier stattfinden sollte und suchten uns eine ruhige Ecke mit Blick auf die Band, die einen Auftritt klassischer Musik bot.
Arian stand wortlos bei uns. Ich kam nicht um den Gedanken herum, dass er mehr dazu da war, uns im Auge zu behalten als für unser Wohlbefinden zu sorgen. Wirklich kontaktfreudig war er nämlich nicht.
Es dauerte etwa eine Stunde, bis Silas endlich den Raum betrat. Er hatte eine junge Frau an seiner Seite, die mit jedem Schritt mehr und mehr Blicke auf sich zog. Die wenigsten davon waren respektvoll.
„Wow, sie ist wunderschön", hauchte Maddy neben mir.
Ich sah ebenfalls in ihre Richtung und erkannte so sofort, dass sie zu uns deutete und Silas an der Hand hinter sich herzog. Zu uns. Silas zeigte deutlich weniger Enthusiasmus als sie, aber er bemühte sich um eine freundliche Miene.
Als sie schließlich vor uns Halt machten, stellte Arian uns die Unbekannte vor. Ezra Silver.
„Dein Kleid ist echt der Wahnsinn", äußerte Maddy voller Erstaunen.
„Oh, vielen Dank. Eures finde ich aber auch sehr hübsch. Es ist zumindest eleganter als meins."
Maddy lachte leicht. „Das stimmt. Aber bitte sag doch du zu mir."
Und zack – sie waren mitten im Gespräch. Sowas könnte ich nicht. Gedankenlos etwas äußern, positive Resonanz bekommen und losplaudern als würde ich die fremde Person seit Jahren kennen.
Nicht einmal Silas gegenüber brachte ich ein Wort heraus.
Es war Charlie, der ihn ansprach und somit verhinderte, dass wir weiterhin teilnahmslos Maddys Gespräch mit Ezra über Feinstrumpfhosen lauschen müssten.
„Wie geht es dir, Silas? Fühlst du dich hier wohl?"
Silas schien sich über Charlies Fragen zu wundern. Um ehrlich zu sein, tat ich das auch. Mich hatte er sowas nie gefragt.
Silas sah für einen kurzen Moment zu Arian, bevor er ein Lächeln aufsetzte und antwortete: „Mir geht es gut. Ich habe vorhin mit Boris telefoniert. Er meinte, er versucht mitzukommen."
Charlie nickte. „Das hat er tatsächlich."
„Und?", hakte Silas weiter nach. „Wieso ist er nicht hier?" Er überspielte seine Enttäuschung gut. Fast schon zu gut. Beinahe kaufte ich ihm seine lockere Haltung ab. Wären da nur nicht seine kleinen Seitenblicke zu mir, nach denen er jedes Mal seinen Anzug zurechtzupfte.
„Wir sind hier, um das Königshaus zu repräsentieren. Boris gehört bislang nicht dazu."
Silas brummte einen verstehenden Laut und fragte Charlie dann, ob seine Oma bald wieder nachhause ginge, wenn meine Mutter völlig gesund war.
„Davon gehe ich aus", antwortete Charlie. „Du kannst aber jederzeit zu uns kommen. Ich halte mein Wort."
Silas nickte, ohne erkenntlich zu machen, wie er dazu stand. Ehe er noch etwas sagen konnte, hatte Benjamin sich neben ihn gestellt und einen Arm um seine Schultern geworfen.
„Ben. Sehr erfreut." Er streckte mir die Hand hin und verweilte solange in dieser Position, bis ich sie ergriffen und geschüttelt hatte.
Bislang waren wir den Mitgliedern der ADGD nur über Dritte vorgestellt worden. Arian war auch dazu da, um diesen Job zu übernehmen. Bens Vorpreschen zeigte nicht nur seine Unbedachtheit, sondern auch sein Desinteresse über die möglichen Konsequenzen seiner Taten. Fast so als sei er von jeglichen Regeln und Sitten befreit. Oder als sei er einfach zu dumm, so weit zu denken.
Silas schob Ben eine Armlänge von sich weg. „Ich habe dir vorhin schon gesagt, du sollst mir nicht auf die Pelle rücken", zischte er ihm zu.
„Oh, ich dachte das gilt nur für den Moment. Nicht für immer." Er zog einen Schmollmund.
Silas verdrehte die Augen darüber und ging einen Schritt zur Seite, sodass er automatisch in Maddys Gespräch mit Ezra integriert war.
Ben grinste Silas' Rücken an und widmete sich dann wieder mir. „Schön, dich aus der Nähe betrachten zu können."
Ich spürte, wie sich meine Augenbrauen zusammenzogen, wusste allerdings nicht, was ich darauf erwidern sollte.
Seine Wortwahl, nein seine Entscheidung, überhaupt so etwas zu äußern, war mehr als unpassend. Es gab keine annehmbare Reaktion darauf.
Dennoch schien er auf eine Antwort zu warten. Und als er begriff, dass diese nicht kommen würde, legte er den Kopf schief und fragte mich: „Bist du schüchtern?"
Ich schüttelte den Kopf. Du bist einfach nur extrem aufdringlich.
Wären wir zu einem weniger offiziellen Anlass hier, hätte ich ihm das sicher auch gesagt. So blieb es nur bei dem Gedanken und meiner königlichen Schweigsamkeit.
„Die alten Knacker ziehen in etwa einer Stunde ab. Danach fängt die richtige Party an. Ich hoffe, ihr habt vor, solange hier zu bleiben?"
Seine Frage richtete sich der Formulierung nach an meine Begleiter und mich. Er sah aber nur mich dabei an und das so intensiv, dass mir unwohl wurde unter seinem Blick. Noch unwohler als bei seinen Aussagen.
Warum ich in diesem Moment zu Silas sah, wusste ich nicht. Womöglich hatte ich unterbewusst geahnt, dass sich die aufbauende Anspannung in mir etwas lösen würde, wenn ich ihn anschaute. Vielleicht auch, um mich selbst davon zu überzeugen, Benjamins Angebot anzunehmen.
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