24
Silas
„Solange du dein bestes gibst, werde ich immer stolz auf dich sein."
„Hör' nicht auf deinen Onkel. Wenn du es dir erst verdienen musst, dann ist es keine Liebe."
„Niederlagen zu akzeptieren, ist nicht schwach. Es ist realistisch. Du wirst nicht immer gewinnen können. Und das musst du auch nicht."
„Deine Fehler müssen dir nicht leidtun, solange du daraus lernst."
Ich rieb unruhig mit den Fingern an meinem linken Daumen entlang. Bevor ich Kian den Ring meines Vaters anvertraut hatte, hatte ich ihn immer dort getragen. Ich hatte ihn angesehen und aufgehört, mich einsam zu fühlen.
Als wir uns voneinander verabschiedet hatte, hatte ich ihn Kian gegeben, weil ich gehofft hatte, er würde dasselbe bei ihm auslösen. Er würde ihn daran erinnern, dass ich, oder zumindest ein Teil von mir, immer bei ihm war, ganz egal, was uns voneinander trennte.
Obwohl ich Kian klargemacht hatte, dass ich den Ring wiederhaben wollte, hatte ich ihn selbst jetzt, Wochen, nachdem er heimgekehrt war, nicht zurück.
Ich wusste nicht, ob Kian schlichtweg vergessen hatte, ihn mir geben oder ob es ihm egal war, wie viel er mir bedeutete.
Mittlerweile hielt ich nichts mehr für unmöglich. Was ich wusste, war, dass er mir fehlte. Nicht Kian, sondern der Ring.
Natürlich konnte ich mich auch ohne ihn an meinen Vater erinnern. Aber ich wollte ihn ansehen können. Ihn spüren. Wissen, dass er da war.
„Silas?" Ben rutschte zu mir auf und legte seinen Arm um mich. „Hey, Süßer. Nicht mit offenen Augen schlafen."
Ich drehte dem Kopf zu ihm und begegnete seinem Lächeln ausdruckslos. „Ich schlafe nicht."
Ich wünschte, ich würde schlafen. Ich wünschte, all das wäre ein Traum. Ich wünschte, ich könnte aufwachen.
Aber so leicht war es nicht und so leicht würde es auch nie sein. Es wurde Zeit, dass ich das endlich begriff. Mein Vater war tot. Egal, wie lange ich darauf wartete, zu erfahren, dass alles nur ein Fehler gewesen war, eine Verwechselung oder ein schlechter Scherz. Ich musste weitermachen. Ohne ihn. Es brachte nichts, mir bestimmte Momente einzuprägen und mir vorzunehmen, ihm davon zu erzählen, sobald wir uns wiedersahen.
Das hier war mein Leben. Die eiskalte Realität. Und damit musste ich ein für alle Mal klarkommen.
„Bitteschön. Alle Daten gerettet und übertragen." Nicolo hielt mir sein altes Handy vor die Nase.
Er hatte sich ein neues besorgt, weil die Leistung für seine Zwecke zu schwach gewesen war. Nachdem ich passiv miterlebt hatte, wie er alle möglichen Netzwerke und technischen Funktionen unterjocht hatte, wunderte mich das nicht.
„Danke."
Es kostete mich unheimlich viel Kraft, die Hand zu heben, um das Telefon entgegenzunehmen. Wie Nicolo es mir versprochen hatte, sah es noch ganz neu aus, sogar hochwertiger als das Teil, das mich die letzten vier Jahre über vernetzt gehalten hatte.
„Weißt du, ich habe ihn ewig angebettelt, mir sein altes Handy zu vermachen, aber er hat immer abgelehnt. Und dir gibt er es einfach ohne Wenn und Aber. Ganz schön gemein." Ben drückte mich enger an sich.
Ich zischte vor Schmerz auf und schob ihn von mir. „Rück mir nicht so auf die Pelle."
Ben hatte das Gleiche erlebt wie ich. Dinge, die ihn belasteten zu überspielen und sich einen riesen Scherz aus allem zu machen, war seine Art, mit Problemen umzugehen. Aber ich konnte das nicht. Ich musste verstehen, was passiert war und begreifen, welche Konsequenzen das für mich haben würde.
Bis ich das konnte, war mit mir nichts anzufangen.
Natürlich sehnte auch ich mich nach Nähe. Nach Körperkontakt. Nach Halt. Gleichzeitig schmerzte allein der Gedanke daran.
„Hast du noch Schmerzen?"
Vermutlich war Bens Bedürfnis, sich um mich zu kümmern auch Teil seines Selbstschutzmechanismus. Dennoch ging es mir auf die Nerven. Er war selbst verletzt worden. Er hatte dieselbe Medizin bekommen wie ich. Also musste er doch ahnen, wie es meinen Wunden ging.
„Geht schon."
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Ben und Nicolo einen Blick austauschten.
Es interessierte mich nicht. Ich tippte auf meinem neuen Handy herum und stellte fest, dass Nicolo tatsächlich alle Daten von meinem alten wiederherstellt und übertragen hatte. Meine Kontakte waren noch da, Nachrichten, Anruflisten und Bilder. Das Video. Alles war da.
„Ich will Boris anrufen", teilte ich Ben und Nicolo mit, während ich weiter aufs Bett rutschte und mich an die hochgestellte Matratze lehnte.
Meine Beine brauchten, selbst mit der Wundercreme der ADGD, noch einige Stunden Ruhe und alles, was ich sonst noch wollte, war, mit meinem Cousin sprechen.
„Klar." Nicolo zog Ben von meiner Bettkante und schob ihn zur Zimmertür. „Melde dich, wenn du was brauchst."
Dass ich nickte, sah er nicht mehr. Die Tür verriegelte sich hinter ihnen und ich atmete tief durch, bevor ich auf den Hörer klickte und mir das Handy ans Ohr hielt.
„Geh ran", flehte ich. „Bitte geh ran."
Ich hörte mir selbst an, wie meine Stimme zitterte und atmete drei Mal tief ein und aus, während ich versuchte, meine Tränen wegzublinzeln.
Dann, als ich Boris' Stimme hörte, gab ich auf.
„Erzähl, wie war deine Prüfung?", wollte er sofort wissen.
Ich hielt die Luft an, um mein Schluchzen zu unterdrücken und wischte mir eilig über die Wangen, so als könne Boris durch das Telefon meine Tränen sehen.
„Silas?", fragte er unsicher.
Ich zog die Beine an und umklammerte sie mit einem Arm. Es tat weh. Aber es war irgendwie befreiend.
„Ich will nachhause", wimmerte ich.
„Oh.... So schlimm?"
Ich hörte, wie im Hintergrund eine Tür geschlossen wurde und es raschelte. Die Sorge in Boris' Stimme... überhaupt von ihm zu hören, gab meinen zitternden Fingern ein wenig Ruhe. Nur so viel, dass ich mir sicher sein konnte, das Handy nicht jeden Moment zu verlieren.
Ich begann ihm von meinem grauenvollen Tag zu erzählen. Der Fahrt, dem Angriff, dem Aufenthalt, den Neuigkeiten und der Prüfung.
Als ich damit fertig war, atmete er mehrere Minuten tief durch, bevor er etwas dazu sagte: „Dein Vater hat echt für die gearbeitet?"
Ich nickte, obwohl er es nicht sehen konnte. „Haben sie gesagt, ja."
„Und nur deshalb nehmen die dich trotz der schlechten Prüfung auf?"
„Mhm."
„Alter!" Boris schnaufte erneut. Diesmal wirkte es nicht so, als wolle er sich dadurch selbst beruhigen, sondern eher so als sei er gerade einen Marathon gelaufen und versuche nun, der Anstrengung standzuhalten.
„Glaubst du die Erwachten, die uns damals auf dem Schlachtfeld angegriffen haben, waren auch solche Fehltötungen?"
„Ziemlich sicher."
Daran gab es für mich nach dieser Erfahrung keinen Zweifel mehr.
„Charlie, Kian und Maddy kommen heute Abend zu deiner Einweihung. Ich werde versuchen dafür zu sorgen, dass sie mich mitnehmen. Dann schaue ich mir diesen Witzverein mal an."
Ich dachte viel mehr als ich im Stande war zu sagen. Eigentlich fand ich es gut, dass es die ADGD gab. Sie war kein Witzverein. Sie war wichtig und meine einzige Chance mehr zu sein als ein hilfloses Kleinkind, das nur zuschauen konnte.
Boris sollte verstehen, warum ich trotz allem ein Teil davon werden wollte. Warum ich es nach wie vor für richtig hielt. Aber ich hatte keine Kraft, es ihm zu erklären und ich befürchtete, ausgesprochen würden meine Argumente nur halb so logisch klingen.
„Wie ist die Lage bei euch so?", wollte ich wissen. Innerlich flehte ich, dass Boris diese Gelegenheit nutzte, den Fokus des Gesprächs auf sich zu lenken.
„Alles im Lot", meinte mein Cousin. „Bis auf den üblichen Wahnsinn halt. Aber daran gewöhnt man sich ja."
„Wie geht es Victoria?"
„Gut. Gut. Gut. Austin packt schon seine Sachen. Er hat vor, in spätestens zwei Wochen zu dieser Jayna zu gehen. Er freut sich schon darauf."
„Ist doch toll für ihn", murmelte ich, während ich an meiner Bettdecke herumspielte.
Meine Verletzungen waren doch etwas schwerer gewesen als Bens. Ich hatte daher ein Bett im Krankenzimmer bekommen und musste dort verharren, bis das Gel, das die Ärzte mir auf die Wunden geschmiert hatten, meine Verletzungen vollends geheilt hatte.
Was genau das für ein Zeug gewesen war, wusste ich nicht. Aber es erfüllte seinen Zweck.
„Ich verstehe nicht ganz, wie er es sich vorstellt, alleine durch die Todeszone zu kommen. Kian hat versucht, den Rat davon zu überzeugen, dass sie gar keine Aufklärungsmissionen genehmigen sollten, weil es dort so gefährlich ist, aber Austin wirkt so als hätte vor, im Hopserlauf durch zu spazieren. Die Tussi hat ihm das Hirn gevögelt."
„Hat Charlie dir irgendwas von dem erzählt, was Kian dort erlebt hat?"
Ich rutschte auf meiner Matratze zurück und setzte mich etwas aufrechter hin.
Boris musste verneinen. „Nur, dass es echt schlimm gewesen sein muss. Kian schläft auch kaum, er ist nachts ständig in der Bibliothek oder im Garten. Aber das Beste weißt du noch gar nicht: Kian hat seinem Vater vor ein paar Wochen die Stirn geboten und seitdem haben sie kaum mehr miteinander geredet. Benedict ist richtig sauer und erwartet eine Entschuldigung und Kian zeigt keinerlei Interesse an einer Versöhnung. Das wird noch spannend, ich sag's dir."
Mein Cousin klang so als würde er sich über dieses Drama freuen. In gewissem Maße tat ich das auch. Nicht darüber, dass Kian mit seinem Vater verstritten war, sondern, dass er aufgehört hatte, alles zu tun, um ihn zufrieden zu stellen. Vielleicht fand er ja Gefallen daran, für sich einzustehen.
„Glaubst du, ich sollte nochmal versuchen, mit Kian zu reden? Ich habe keinen Plan, wie ich ihm heute Abend gegenübertreten soll. Ich wusste nicht mal, dass er herkommt."
„Puh." Boris stieß geräuschvoll die Luft aus und atmete laut in den Hörer. „Keine Ahnung, echt. Du musst mal schauen, wie er so drauf ist. Der ist unberechenbar zurzeit."
Viel mehr konnte ich nicht mit ihm reden. Das Schloss der Tür piepte kurz und Ezra bedachte mich mit einem vorsichtigen Lächeln.
„Ich muss auflegen", teilte ich Boris mit. „Ich schreibe dir dann wie es lief."
„Okay. Am besten, du gibst rechtzeitig Bescheid, ob ich ihm in die Eier treten soll, wenn er wieder da ist."
„Mach ich. Danke."
Ich legte mein Handy ausgeschaltet neben mir auf die Matratze. Ezra kam auf mich zu und warf einen Stapel Klamotten auf das Fußende des Bettes.
Sie sah schick aus. Ein enges rotes Kleid, hohe Schuhe, deren Bändel sich um ihre Beine schlangen, schöne Locken und verruchtes Make-up. Allem Anschein nach war sie für die Einweihungsfeier bereits gerichtet.
Ich dagegen lag noch immer in Unterhose und zerrissenem Shirt in einem ungemütlichen Krankenbett mit viel zu weicher Matratze, einem nutzlosen Kissen und sterilen Bezügen.
Alles in diesem Raum war weiß. Weißer Boden, weiße Wände, weiße Türen, weiße Geräte. Ezra brache endlich Farbe in diese Eintönigkeit.
„Hast du dich schon entschieden, ob du das Angebot annimmst?", wollte sie wissen, während sie sich näher zu mir stellte.
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich schätze schon. Auch, wenn ich nicht ganz davon überzeugt bin."
Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben mich. „Was geht dir durch den Kopf?"
Ich seufzte. „Ich will schon Teil der ADGD sein. Ich will alles lernen, was ihr mir beibringen könnt und was Bedeutendes mit meinem Leben machen. Aber ich weiß nicht, ob ich das kann, wenn ihr mich nur wollt, weil ich der Sohn meines Vaters bin. Das fühlt sich nicht richtig an."
Ezra nickte verstehend. „Hat dir denn niemand erzählt, dass dein Vater die Prüfung damals auch nicht bestanden hat?"
„Was?" Das hörte ich tatsächlich zum ersten Mal.
Sie schmunzelte. „War ja klar. Niemand hier redet gern darüber, aber es stimmt wirklich. Dein Vater, Robin Jachan, der ganze Stolz der ADGD, ist gnadenlos durch alle Prüfungen gerasselt. Er hat drei Mal verlangt, sie zu wiederholen und immer wieder versagt."
Das konnte ich nicht glauben. Das sah Ezra mir an.
„Er ist nur reingekommen, weil sein Bruder einen Deal für ihn ausgehandelt hat."
Meine Augen wurden immer größer. „Mein Onkel ist auch Mitglied?"
„Er ist Kopf der medizinischen Forschungsabteilung, schon seit ich klein bin."
„Das hat mir keiner erzählt", stieß ich ungläubig aus.
Ihre Lippen verzogen sich zu einem schelmischen Grinsen. „Tja, das ist der Vorteil, wenn man so wichtig ist, dass sie nicht auf einen verzichten können. Man kann die ein oder andere Regel brechen."
So langsam begann ich zu begreifen, weshalb niemand außer Ezra ein Wort darüber verloren hatte.
„Du darfst darüber eigentlich gar nicht reden."
Sie zuckte mit den Schultern. „Du hättest es doch ohnehin irgendwann rausgefunden. Wenn nicht hier, dann über deine Familie. Ich habe dir nur einen zeitlichen Vorsprung gegeben."
„Danke."
Sie winkte ab, stand auf und streckte sich zu den Klamotten, die sie mitgebracht hatte.
„Ich habe beschlossen, deine Begleitung für den Abend zu sein. Tu mir den Gefallen und sehe gut aus."
Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen. „Willst du mich nicht wenigstens fragen, ob ich will, dass du meine Begleitung bist?"
Sie hob die Arme und drehte sich einmal um ihre eigene Achse. „Schau mich an. Wer würde nicht wollen?"
Ich musste schmunzeln. „Hoffentlich ziehe ich nicht sofort den Neid aller auf mich."
„Erstmal musst du dich frisch machen. Sonst ist unsere Verabredung nicht sehr plausibel."
Da konnte ich ihr nicht widersprechen. Ich schlug die Decke von meinen Beinen und musterte die verheilten Wunden. Ein paar Stellen waren noch offen, aber sie waren nicht mehr so tief und die Schmerzen waren auch auszuhalten.
„Gibt es hier eine Dusche?"
Ezra zeigte als Antwort auf eine Tür und fragte, ob sie mir helfen solle.
„Das kriege ich grade noch so selbst hin."
Es dauerte zwar länger als nötig, doch ich schaffte es alleine, aufzustehen und mich in das angrenzende Bad zu schleifen.
Unter der Dusche fing ich an, die Geschehnisse des Tages Stück für Stück zu verarbeiten.
Bis jetzt stellten sich mir mehr Fragen als ich Antworten erhalten hatte. Ich war mir nach wie vor nicht sicher, ob, was ich hier tat, richtig war. Aber ich wollte es zumindest versucht haben.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top