23
Kian
Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal gut geschlafen hatte. Meine Nächte bestanden aus Gedanken, Grübeleien, Sorgen, Ängsten und dem Versuch, all das auszublenden und endlich abzuschalten.
Ich drehte mich hin und her, wälzte mich von der linken Seite auf die Rechte und von dem Rücken auf den Bauch. Kein Tee, kein Blut, keine Musik... nichts half mir zur Ruhe zu kommen.
In mir war so viel Spannung, dass eine spontane Selbstentzündung mich nicht überraschen würde. Gleichzeitig zweifelte ich in diesen Nächten daran, am Morgen die Kraft finden zu können, um aufzustehen.
Trotzdem tat ich es.
Vielleicht war ich schon so sehr daran gewöhnt, meine Erschöpfung zu ignorieren, dass mein Körper automatisch aufstand, sich die Zähne putzte, anzog und präsentabel machte.
An diesem Morgen lag ich lange regungslos auf dem Rücken und starrte an meine Zimmerdecke. Ich würde Silas wiedersehen. Heute Abend.
Seine Vorgesetzten hatten meinem Vater eine Einladung zu seiner Einweihungsfeier ausgestellt. Ich sollte, in Begleitung von Charlie und Maddy, dorthin gehen und unsere Unterstützung signalisieren.
Ich hatte es nicht gewagt, meinen Vater zu fragen, ob Silas wusste, dass ich da sein würde. Die Antwort konnte ich mir denken.
Nein.
Silas wusste nicht, dass ich kommen würde. Und nein, er würde sich nicht darüber freuen, mich zu sehen. Wahrscheinlich würde er nicht einmal mit mir sprechen wollen.
Eigentlich war das gut so. Ich hatte erreicht, was ich beabsichtigt hatte. Silas war nicht bei mir und er wollte nicht mehr bei mir sein.
Dabei kam ich um ein Gespräch mit ihm kaum herum. Ich musste ihm zumindest gratulieren.
Ich musste es einfach hinter mich bringen. Hingehen, ihm förmlich meine Glückwünsche übermitteln und so schnell wie möglich wieder verschwinden.
So konnte ihm zeigen, was ich tatsächlich von dem Weg hielt, für den er sich entschieden hatte.
Und ich konnte sichergehen, dass er wirklich freiwillig ein Teil der ADGD werden wollte. Denn für mich passte das nicht zu ihm. Silas war kein Soldat. Er war nicht dazu im Stande, Befehle entgegenzunehmen. Autoritäten zu akzeptieren.
Er war ein Kämpfer, ja. Aber kein Krieger. Ich konnte ihn mir weder vorstellen, wie er eine Waffe in der Hand hielt, noch wie er sie einsetze. Wie er jemanden verletzte. Oder tötete.
Was genau es war, das mich aus dem Bett trieb, wusste ich nicht. Irgendwann, nach tausenden von Gedanken und hunderten von ausgedachten Szenarien, fand ich mich in Kasimirs Turm wieder und versuchte Ordnung in die Blätter zu bringen, die darin herumlagen.
Mein Vater hatte, nachdem Austin ihm mitgeteilt hatte, dass wir Kasimir nicht finden konnten, in seiner Wut alles noch mehr verwüstet.
Ich wusste nicht, ob es zu etwas führen würde, was ich hier tat. Womöglich hatte Kasimir seiner Verrücktheit auf all diesen Zetteln freien Lauf gelassen und ich verschwendete meine Zeit damit, etwas hinzuinterpretieren.
Aber es war etwas, das ich tun konnte und somit besser als tatenlos in meinem Bett zu liegen und vor mich hinzuvegetieren.
Schlafen konnte ich sowieso nicht. Ganz egal, wie müde ich war. Selbst, wenn ich es könnte, war ich mich nicht sicher, ob ich es denn auch wollte. Mich ausruhen, entspannen und Kraft tanken war mir nicht mehr möglich. Dafür waren meine Träume viel zu lebhaft. Viel zu angsteinflößend.
Ich saß lange in Kasimirs Gemach auf dem Boden und versuchte, sein Gekritzel zu entziffern. Wenn ich es geschafft hatte zu erkennen, was er geschrieben hatte, brauchte ich für den nächsten Satz so lange, dass ich schon wieder vergessen hatte, was der davor bedeuten sollte.
Ich beschloss also, mir einen Stapel zu nehmen und damit in die Bibliothek zu gehen. Dort konnte ich mich an den Schreibtisch setzten und mir Notizen zur Entzifferung der Hieroglyphen machen.
Hinter den Blättern, die ich aussuchte, steckte kein System. Ich nahm, was ich tragen konnte und machte mich auf den Weg.
Mein Vater hatte Oliver angeordnet, sich so viele Wachen zu nehmen wie er brauchte, und das gesamte Reich nach Kasimir abzusuchen. Ich glaubte nicht, dass er damit weit kommen würde. Kasimir hatte es geschafft, alleine lebendig durch die Todeszone zu kommen. Wenn er unauffällig von hier verschwinden wollte, dann bekam er auch das hin.
Die Frage, wieso Kasimir den Komfort eines eigenen Gemachs im Palast des sichersten Ortes der Welt ablehnen sollte, um sich heimlich davon zu stehen, hatte mein Vater mir nicht beantworten können.
Entweder er wusste es selbst nicht oder die Antwort war Teil eines Geheimnisses, das er vor mir zu wahren versuchte.
Ich machte mir nicht mehr die Mühe, ihm großartig Fragen zu stellen oder ihn zu bitten, ehrlich zu mir zu sein. Das kostete mich mehr Energie als ich bereit war, für ein sinnloses Unterfangen aufzuwenden.
Es war an der Zeit, mir selbst Antworten zu verschaffen. Mir etwas zu erarbeiten, auf das ich vertrauen konnte.
Es war früh am Morgen. Ich trug flauschige Schlappen und einen bequemen Mantel über meiner Schlafhose. Hin und wieder huschten ein paar Angestellte an mir vorbei und schoben mir einen kurzen Gruß zu.
Wenn mein Vater davon erfuhr, dass ich verschlafen und im Schlafanzug durch die Flure trottete, dann würde er mich in den nächstbesten Raum zerren und mir irgendetwas von Kleiderordnungen und Image erzählen. Dabei interessierte es unsere Bediensteten gar nicht, wie ich herumlief. Ob ich nun ganz förmlich mein Hemd und die Korsettweste trug, eine Jeans und Hoodie oder doch nur eine schlampige Stoffhose.
Die meisten von ihnen waren so gestresst, dass sie meine Kleidung nicht mal wahrnahmen, geschweigedenn daran dachten, sich ein Urteil darüber zu erlauben.
Und für den Fall, dass es doch einer tun würde, wie sollte das schon lauten? Der Prinz trägt in seinem Zuhause einen Schlafanzug?
Ich war mir sicher, alle anderen machten sich dafür, nachts durch das Gebäude zu huschen, auch nicht fertig.
Ein Teil von mir wollte, dass mein Vater mitbekam, was ich hier tat.
Noch nie hatte ich so sehr das Bedürfnis verspürt, ihm die Stirn zu bieten. Ihm zu widersprechen. Ihn zu konfrontieren. Für mich einzustehen. Jetzt, in einem Anflug von übermüdeter Kurzsichtigkeit, schenkte mir der Gedanke, als Prostest den ganzen Tag über in diesem Aufzug durch den Palast zu marschieren einen unverhofften Energieschub.
Natürlich hatte ich nicht wirklich vor, so etwas zu tun. Der Teil von mir, der diese Rebellion anzetteln wollte, versuchte zwar, sich an meinen Zweifeln zu nähern und meinen Frust für sich als Antrieb zu nutzen, doch mein Verstand war sehr viel stärker als er.
Die Kleiderordnung des Hofes war meine geringste Sorge. Jetzt deshalb aufzubegehren wäre nicht nur dumm, sondern auch zwecklos.
Meine Füße trugen mich ohne das Zutun meines Kopfes durch die Etagen. Sie hatten den Weg zur Bibliothek abgespeichert und brauchten keine Richtungsanweisungen oder Hilfestellungen.
In den Händen hielt ich den Großteil von Kasimirs Zetteln und blätterte sie durch. Ich achtete weder auf meine Umgebung, noch auf mögliche Hindernisse.
Dass ich geradewegs in jemanden hineinlief, bemerkte ich erst, als meine Blätter sich um uns herum verteilten.
Ehe ich begreifen konnte, wen ich da angerammt hatte, lag ich auf dem Boden und hatte die Spitze eines Degens am Hals. Eine falsche Bewegung und ich konnte mich von meiner Kehle verabschieden.
Ich brauchte lange, um das Gesicht über mir zu identifizieren und, als ich es dann erkannt hatte, vergaß ich total, in welcher Situation ich mich befand.
Alles, was ich tun konnte, was Alica besorgt zu mustern. Ihr verwuscheltes Haar, ihre vor Anstrengung geröteten Wangen und ihre glasigen Augen.
Erkenntnis spiegelte sich darin wieder. Langsam löste sie die Klinge von meinem Hals und nahm das Knie von meiner Brust. Erst dadurch bemerkte ich, dass das Gewicht von ihr gekommen war.
Sie richtete sich auf, nahm ihre Waffe in die linke Hand und hob mir die rechte hin, um mich zurück auf die Beine zu ziehen.
Sobald ich stand, sah sie sich in dem leeren Flur um und schob mich zur Seite, um wirklich jede Ecke mit ihrem Blick abzuscannen.
„Kann ich dir irgendwie helfen?", hakte ich vorsichtig nach.
Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass sie mich sofort wieder auf den Boden befördern könnte, selbst, wenn sie mich nicht überraschend erwischte.
Sie schaute mich an. Ich war mir nicht sicher, was ich in ihrem Blick sah, aber ich erkannte, dass sie ruhiger wurde und realisierte so umso mehr, welche Angst sie vor wenigen Moment noch gehabt haben musste.
„Schon gut", wiegelte sie ab. Sie verstecke ihren Degen hinter ihrem Rücken, so als hätte sie ihn mir wenige Sekunden vorher nicht noch gefährlich fest an die Hauptschlagader gedrückt.
„Was ist da passiert?" Ich deutete auf die roten Striemen an ihrem Hals.
Ihre Finger strichen vorsichtig über die Stelle. Sie verzog schmerzerfüllt das Gesicht.
„Nichts."
Ich konnte ihr nicht glauben. Und sie wusste das. Seit ich sie kannte, hatte ich bisher noch nie gesehen, dass sie dem Blick einer anderen Person ausgewichen war. Wenn, dann wichen andere ihrem Blick aus.
„Vergiss einfach, was passiert ist", verlangte sie und kniete sich hin, um die Blätter auf den Boden auf einen Haufen zu schieben. Ihre Waffe legte sie für keine Sekunde aus der Hand.
„Leichter gesagt als getan." Ich ging ebenfalls in die Hocke und half ihr.
Es dauerte lange, einen vernünftigen Stapel zu bilden, den ich hochnehmen konnte, ohne ihn wieder fallen zu lassen. Alica schaute sich die Unterlagen an und ergriff die Chance, vom eigentlichen Thema abzulenken.
„Was willst du denn damit?"
Ich warf einen kurzen Blick auf die oberste Seite und erkannte das Format eines Briefes.
„Versuchen, es zu entziffern."
Ihre Augenbrauen schoben sich zusammen. Sie stellte sich näher an mich heran und ließ den Blick erneut über die Zeilen wandern.
„Kannst du das lesen?"
Ich hielt ihre Fragen für ein Ablenkungsmanöver. Beantwortete sie nur, um ihr Sicherheit zu geben und dann wieder nachhaken zu können.
„Wie gesagt, ich will es versuchen."
Alica entfernte sich einen Schritt von mir, bevor sie mich ansah. „Du verschwendest deine Zeit. Das sind Jägerschriften." Sie nahm mir den Stapel ab und blätterte ihn durch. „Kann ich die behalten?"
„Uhm... Ich hätte sie gerne wieder."
Sie hob den Blick von den Unterlagen, um mir entgegenzusehen. Sie schien nicht damit gerechnet zu haben, dass ich ihre Bitte ausschlagen würde.
„Wie gesagt, Kian, das sind Jägerschriften. Die sind für Jäger."
„Und trotzdem hätte ich sie gerne wieder."
Sie kniff die Augen zusammen, musterte mich und warf einen letzten Blick auf die Blätter, bevor sie sie mir widerwillig übergab.
„Du wirst die nicht lesen können. Und falls doch, wird, was darinsteht, keinen Sinn für dich ergeben."
„Kannst du etwa auch in die Zukunft sehen?"
Sie schnaubte. „Nein, dafür reicht völlig menschliche Denkarbeit. Kannst du ja auch mal versuchen."
Bevor ich auch nur daran denken konnte, etwas zu erwidern, wünschte sie mir einen schönen Tag und verschwand hinter der nächstbesten Ecke.
Ich sah ihr hinterher und war mir sicher, dass Alica mehr wusste als Boris und Silas zusammen. Warum sie dieses Wissen jedoch nicht teilte, war mir ein Rätsel.
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