22

Silas

Ich fragte mich, wie es wäre blind zu sein. Wäre es leichter, Dinge zu vergessen, wenn man sie nicht gesehen hatte? Wenn sie nicht ständig vor dem inneren Auge auftauchen würden? Oder wären meine anderen Sinne so stark, dass sie es schafften, Bilder in meinem Kopf zu kreieren, denen ich nicht entfliehen konnte?

Wenn ich meine Augen schloss, dann sah ich Ben noch immer kämpfen. Wenn ich sie öffnete und erkannte, dass er neben mir saß, dann kam es mir vor wie ein Traum.

Vielleicht war ich in seinem Auto vor Angst gestorben und alles, was danach passiert war, war nur noch Einbildung.

Dass Ben, nachdem keine Angreifer mehr in Sicht gewesen waren, zurück ins Auto gestiegen und weitergefahren war, kam mir surreal vor. Dass er jetzt mit mir, verschwitzt und blutverschmiert, in einem Foyer saß und mich aufmunternd anlächelte. Das konnte einfach nicht sein.

Ich musste tot sein.

Aber warum ging dann alles weiter wie geplant? Müsste meine Existenz nicht beendet sein? Müsste ich nicht in einem endlosen Nichts versinken? Und was war mit Himmel und Hölle? Oder Wiedergeburt?

Viele glaubten noch an diese Vorstellungen der alten Religionen. Daran, dass es nach dem Tod irgendwie weiterging.

Das hier konnte unmöglich meine Ewigkeit sein. Auf einem ungemütlichen Sessel sitzen, mich leicht hin und her drehen, um mich selbst in Sicherheit zu wiegen und eine Treppe hochstarren, in der Hoffnung bald erlöst zu werden.

Falls wir diesen Angriff tatsächlich überlebt hatten und unser Leben weiterging, hatte Ben seine Prüfung vor mir. Seine Nerven lagen allerdings nicht ansatzweise blank.

Er wirkte sorglos. Wenn nicht gar erfreut.

Was er vor etwa einer Stunde getan hatte, schien ihn weder zu belasten noch zu berühren. Womöglich hatte er es schon vergessen.

Plötzlich klammerten sich zwei Hände an meine Schultern. Die Daumen drückten in kreisenden Bewegungen in meinen Nacken.

Ich sprang von meinem Polster und stolperte von der Person weg. Obwohl ich erkannte, dass es Nicolo war, der sich an mich herangeschlichen hatte, setzte sich mein Herzschlag nicht zur Ruhe.

Ich sah, wie sich seine Lippen bewegen. Aber alles, was ich hören konnte, war bumbum bumbum bumbum.

Nicolo tauschte einen Blick mit Ben. Sie führten ein kurzes Gespräch, bei dem Nicolo nickte, bevor er sich mir wieder zuwendete.

Er kam um den Sessel herum, hob beschwichtigend die Hände und redete auf mich ein. Seine Stimme hallte als Echo durch einen kilometerlangen Tunnel. Je näher er mir kam, desto klarer wurde sie.

„...hier bist du sicher. Hier kann dir nichts passieren."

Ich schluckte und sah zu Ben. Er saß noch immer auf seinem Sessel und blickte mich an.

„Na das sieht doch schon viel besser aus." Nicolo erkannte, dass ich im Hier und Jetzt ankam. Wieder legte er seine Hände auf meine Schultern. Diesmal gab er mir die Chance, seine Annäherung wahrzunehmen und abzuwehren.

„Am besten, du kommst mit mir mit. Dann kannst du dich ein bisschen ausruhen."

„Muss ich hier nicht auf irgendwen warten?", fragte ich verwirrt.

„Auf mich." Nicolo lächelte und deutete mit einem Nicken zu Ben. „Er wusste nicht, was er mit dir anfangen soll. Eigentlich hätte er sich vor zehn Minuten bei der Prüfungskommission melden sollen."

„Ich konnte ihn in diesem Zustand ja wohl kaum alleine lassen", zickte Ben auf den unterschwelligen Vorwurf in Nicolos Stimme. Er erhob sich und kam auf uns zu. „Jetzt sollte ich aber wirklich los. Nicki passt auf dich auf."

Er wartete meine Zustimmung ab und ging erst, nachdem er sie erhalten hatte.

Nicolo schenkte mir ein weiteres Lächeln. „Ich nehme an, du brauchst eine Erklärung?"

Ja.

Ich brauchte eine Erklärung. Ich musste wissen, was diese Wesen waren, woher sie kamen und wieso sie uns angegriffen hatten.

Wortlos folgte ich Nicolo zur Treppe und durch die Flure.

Dieses Gebäude machte einen unfreundlichen Eindruck. Zwar bestand die äußere Schicht hauptsächlich aus Glas, die Wände und Böden waren weiß und die Atmosphäre ruhig, aber zeitgleich wirkte es finster und ich fühlte mich bei jedem Schritt verurteilt. Meine Schuhe hinterließen Schmutzspuren, ich stank mit meinem Angstschweiß alles voll und allgemein... ich hatte das Gefühl, ich passte nicht hierher.

Wir begegneten niemandem. Fast so als sei außer der Empfangsdame, Ben, Nicolo und mir keiner hier.

Mein Begleiter hielt seine Schulter an den Scanner einer Türe. Genauso wie die kleine Stelle unter Nicolos Haut leuchtete er kurz grün auf, bevor die Tür vor uns sich einen Spalt öffnete.

Nicolo deutete mir an, ihm zu folgen. „Falls du bestehst, wirst du auch so ein Zimmer bekommen. Wir sind zu Prüfungen oft hier. Oder wenn das Gebäude leer steht und wir gemeinsame Missionen planen."

Ich stellte mich neben Nicolo an die Fensterfront und blickte über die weite Wiese in den Wald.

„Es gibt vieles, was du nicht weißt. Und noch mehr, das du niemals erfahren wirst, wenn du kein Teil von uns bist. Außenstehende einzuweihen bringt immer Gefahr mit sich. Aber uns war klar, dass du auf dem Weg hierher auf Fragen stoßen wirst, für die du Antworten brauchst."

Ich riss meinen Blick von den Bäumen los und richtete ihn auf Nicolo. Es war mir ein Rätsel, wie er schaffte, noch immer ein Lächeln auf den Lippen zu tragen.

„Ich weiß, um ehrlich zu sein, gerade gar nicht, ob ich diese Antworten überhaupt will. Oder ob ich dazu in der Lage bin, sie zu verarbeiten."

„An der Situation ändert sich nichts, egal, ob du weißt, was abgeht oder nicht. Aber mit der Wahrheit kommt auch ein Stückchen Sicherheit", erwiderte er. „Du kannst einen Kampf nur gewinnen, wenn du weißt, gegen wen du kämpfst. Oder was."

Ich reagierte nicht. Nicolo verstand das als Zeichen meiner Überforderung.

„Hör zu, Silas. In jeder Sekunde, in der du nicht agierst, gibst du anderen die Möglichkeit, etwas zu tun, auf das du nur noch reagieren kannst. Also reiß dich zusammen und nutze deine Chance hier aktiv zu werden, statt immer nur zusehen zu müssen."

Er starrte mich solange auffordernd an, bis ich nickte und meine Schultern straffte.

„Ben hat mir einen Dolch gegeben und meinte, dass ich diesen Dingern, die uns angegriffen haben, damit ins Herz stechen..."

Sein Mundwinkel zuckte zufrieden nach oben. „Nur so können wir als Menschen sie töten. Alles andere macht sie nur noch aggressiver."

„Und was sind sie?"

„Untote. Zombies. Fehltötungen. Sie haben viele Namen."

Ich zog die Augenbrauen zusammen.

Nicolo erklärte: „Die meisten von ihnen sind Erwachte, die im Krieg von den Menschen nicht richtig getötet wurden. Sobald sie ihr ganzes Blut verloren haben, verlieren auch sämtliche Persönlichkeit und Verstand und lechzen nur noch nach Blut. Wir räumen schon seit Jahrhunderten hinter den Menschen her und bringen sie richtig um."

„A-aber das heißt, sie sind gar keine bösen Bestien... Sie... Sie können eigentlich gar nichts dafür?"

„Eigentlich nicht, nein." Nicolo ließ sich auf seiner Bettkante nieder und deutete zu einem Stuhl, damit auch ich mich setzen konnte. „Aber sobald sie diesen Zustand erreicht haben, kann man ihnen auch nicht mehr helfen. Sie zu töten ist dann das Beste, was man tun kann. Wer weiß, vielleicht befreit es sie sogar irgendwie."

Sobald ich mich niedergelassen hatte, spürte ich die Erschöpfung von meinem Körper Besitz ergreifen. Sie kroch in jede meiner Zellen und lähmte mich von innen heraus.

„Entspann dich ein bisschen", schlug Nicolo vor. „Ich hole dich später zur Prüfungsvorbereitung ab. Dann können wir weiterreden. Wenn du bis dahin etwas brauchst oder Hunger bekommst, schreib mir einfach. Trinken steht ja vor dir."

Ich nickte, musterte die Wasserflasche kurz und überlegte mir, nach ihr zu greifen. Da mein Körper nicht darauf reagierte, schien mein Durst nicht ganz so groß zu sein wie ich es mir einbildete.

Nicolo ließ mich allein. Er ging aus der Tür und ich hörte, wie sie sich hinter ihm verriegelte.

Dass ich als nur potenzielles Mitglied der ADGD nicht frei durch das Gebäude spazieren durfte, leuchtete mir ein. Mich einzusperren hielt ich dennoch für unnötig. Ich wollte doch nirgends hin. Das konnte ich gerade auch gar nicht. Dazu war ich viel zu müde. Viel zu kraftlos. Alles, was ich schaffte, war, mich selbst auf das Bett zu hieven. Noch während mein Kopf das Kissen berührte, schlief ich ein.

Ich wusste nicht wie lange ich geschlafen hatte. Nicolo hatte auf meine Nachricht, in der ich ihn gefragt hatte, ob wir nochmal darüber reden konnten, was heute passiert war, geantwortet, dass er in 20 Minuten da sei und mir ein paar Sandwiches mitbringen würde.

In diesen 20 Minuten saß ich auf der Bettkante, dort, wo er vorhin gesessen hatte, und starrte in den Wald.

Ich hatte keine Ahnung, wie weit ich von zuhause weg war. Fest stand, dass ich mit Ben die Stadt verlassen hatte und wir uns weit außerhalb ihrer Schutzmauern befanden.

In den letzten Jahren des Krieges war die Kommunikation zwischen uns und den Städten und Dörfern um uns herum abgebrochen. Wir hatten davon ausgehen müssen, die „Vampire" hätten sie übernommen und wir seien der einzige verbleibende Teil einer menschlichen Zivilisation.

Selbst nach dem Frieden und unseren Versuchen, andere Kommunen zu erreichen, hatten wir dazu nichts Neues erfahren. Von einem Anwesen irgendwo in den Wäldern, hatte sicher keiner gewusst.

Die Dynastien hatten sich über Jahrhunderte hinweg versteckt gehalten. Ich fragte mich, wie sie es geschafft hatten unbemerkt einzugreifen und dabei auch noch so erfolgreich zu sein.

Und wie finanzierten sie das alles?

Diese 20 Minuten, falls es denn tatsächlich so lange gedauert hatte, reichten nicht aus, um mich mental auf das Gespräch, das ich beabsichtige, vorzubereiten.

Ich hatte so viele Fragen, dass ich die meisten davon sofort wieder vergaß.

Also nahm ich mir ein Sandwich von dem Teller, den Nicolo mir hinstreckte und biss hinein. Mein Körper lechzte nach der Energie, die ihm der helle Toast versprach.

„Du sollst bei Bens Prüfung zuschauen, quasi als Vorbereitung auf deine. Wenn wir jetzt losgehen, sind wir zwar ein bisschen zu früh, aber lieber das als dann mitten drin reinzuplatzen, oder?"

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich schätze schon."

„Super." Er klatschte einmal in die Hände und sprang auf. „Deinen Teller kannst du mitnehmen. Achte nur darauf, nicht so viel zu bröseln. Wir haben zwar tolle Reinigungskräfte, aber die scheuen sich nicht davor, uns zu tadeln, wenn wir Schmutz machen."

„Ich kann auch später essen."

„Wie du willst."

Dabei, meinen Teller stehen zu lassen und trotz meines Hungers auf die leckeren Sandwiches zu verzichten, ging es weniger darum, nicht sofort einen schlechten Eindruck machen zu wollen, wenn ich Dreck produzierte, bevor ich überhaupt dazugehörte. Ich wurde bei meinem Gedanken an meine Prüfung so nervös, dass ich glaubte, sie kamen sofort wieder hoch. Ich wusste nicht, ob mein Magen vor Hunger oder vor Aufregung grummelte und ich wollte es nicht darauf anlegen, es herauszufinden.

Nicolo führte mich in den Keller. Ich folgte ihm zwischen die Sitzreihen einer Tribüne hindurch, bis wir vorne an das Geländer stießen und eine große Halle überblickten.

„Er hat noch eine halbe Stunde Zeit zum Üben." Nicolo deutete auf die Uhr an der Wand, die genau halb vier zeigte.

„Oh, meine Fans! Seid ihr hier, um mich anzufeuern? Wollt ihr mir eure Schlüppis zuwerfen? Nur her damit!" Ben trat einen Schritt näher zu uns.

Von oben sah es so aus als stünde er in einem Labyrinth. Die Gänge führten von den Türen an den Wänden der Halle in verwinkelten Gassen zur rechteckigen Mitte, aus der Ben uns zuwinkte. Neben ihm stand ein Tisch, auf dem Schwerter, Messer, Dolche und Schusswaffen platziert waren.

„Nur über meine Leiche!"

„Das ist mehr, als ich mir von dir erhofft hatte. Ich freue mich drauf!"

„Nicht zu fassen." Nicolo schüttelte den Kopf und drehte Ben den Rücken zu, um seinem breiten Grinsen zu entgehen. „Setz dich irgendwo hin und schau zu. Kurz vor Prüfungsbeginn kommen die Oberhäupter der Dynastien und ihre Berater. Am besten du hältst die erste Reihe für sie frei."

„Willst du nicht zuschauen?"

Nicolo warf einen kurzen Blick über die Schulter, um nach der Uhr zu sehen. „Ich muss auf Toilette. Bin aber gleich wieder da."

Er klopfte mir kurz auf den Arm, sprang danach die Stufen der Tribüne hoch, indem er immer zwei auf einmal nahm, und verschwand hinter der Tür.

Ich atmete tief durch und setzte mich in die oberste Reihe. Möglichst weit weg von Bens Prüfern und möglichst nahe am Eingang, sodass sie hoffentlich an mir vorbeiliefen ohne mich zu bemerken.

Ich überprüfte mein Handy auf Nachrichten und stellte fest, dass ich keinen Empfang mehr zu haben schien. Also blickte ich auf die Uhr, die nunmehr 15:32 zeigte und lümmelte mich in meinen Sitz.

Ben lief in der Mitte des Rechtecks auf und ab und murmelte irgendetwas über Metalle. Währenddessen spielte er mit ein zwei Messern herum und ich wartete darauf, dass sie ihm runterfielen oder er sich verletzte.

Ein weiterer Blick auf die Uhr.

15:34.

Nicolo war seit zwei Minuten weg. Ich wusste nicht, wo in diesem Gebäude die Toiletten waren. Falls er zurück auf sein Zimmer musste, würde es sicher nochmal 10 Minuten dauern, bis er wieder hier wäre.

Bis dahin war ich mit meinen Gedanken allein hier oben.

Mich schreiend mit Ben über die halbe Halle hinweg zu unterhalten konnte nicht die Lösung sein. Er sollte sich auf seine anstehende Prüfung konzentrieren. Ich wollte ich ihn nicht ablenken. Und abgesehen davon hatte ich ihm gar nichts zu sagen.

Ich zog mein Handy wieder raus. Wollte darauf irgendetwas finden, das mich davon abhielt, in denselben Zustand wie vorhin zu verfallen.

Meine Finger tippten selbstständig auf dem Display herum. Ich schaute nur dabei zu, was sie machten, ohne dem einen Willen beizusteuern.

Am Ende saß ich da und schaute mir das Video, das ich einmal von Kian gemacht hatte, zum wohl hunderttausendsten Mal an. Ich wusste mittlerweile genau, wann er was wie sagte und konnte es mir ansehen, selbst ohne es vor Augen zu haben. Dennoch erwischte ich mich dabei, wie ich es immer wieder laufen ließ und mir wünschte, erneut in der Situation zu stecken.

Damals hatte Kian noch mit mir geredet. Mich angesehen. Zeit mit mir verbracht. Wenn ich ihn vermisst hatte oder seine Stimme hören wollte, war er nur ein paar Tasten entfernt gewesen.

Es war unendlich viel zwischen uns gestanden. Ich hatte gewusst, dass unsere Gefühle füreinander kein schönes Ende finden würden. Trotzdem hatte ich mich an der Hoffnung festgeklammert, es würde anders kommen.

Selbst heute glaubte ich noch, wir müssten nur den Mut fassen, um das, was wir hatten, zu kämpfen. Aber ich fürchtete, er wollte das nicht mehr und ich hatte nicht die Kraft, es alleine zu tun.

Kian war auf dem Video gerade dabei, sich zum vierten Mal dazu zu äußern wie lecker die Pizza war, von der er gebissen hatte. Im selben Moment dröhnte ein Alarmsignal von allen Seiten auf mich ein und mein Handy rutschte mir aus den Fingern.

Fluchend griff ich unter die Sitze, um danach zu tasten. Die Lichter waren ausgegangen und blinkten nur alle paar Sekunden für kurze Zeit rot auf.

Der einzige Ort, der noch beleuchtet war, war die Mitte des Labyrinths. Ben stand darin, deckte sich mit Waffen von dem Tisch ein und blickte hektisch um sich. Das kreisförmige Licht über ihm bewegte sich nach rechts und er folgte ihm in das Labyrinth.

Ich zuckte ein zweites Mal zusammen, als ich ein Fauchen hörte. Diesen Ton hatte ich vor mehreren Stunden bereits gehört und es seitdem nicht geschafft, ihn zu vergessen.

Sobald ich mein Handy greifen konnte, sprang ich von meinem Sitz und auf das Geländer, das die Halle vom Publikumsbereich trennte, zu.

Immer, wenn die roten Lichter die Beleuchtung für Ben ablösten, erkannte ich wie mehr und mehr Fehltötungen aus den Türen, in das Labyrinth und auf Ben zustürmten.

Einige von ihnen waren so sehr in ihrem Wahn gefangen, dass sie von Wand zu Wand knallten und sich sehr taumelnd fortbewegten als tatsächlich zu laufen. Andere rasten unfassbar schnell an ihnen vorbei und schienen genau zu wissen, worauf sie abzielten.

Es dauerte keine fünf Lichtzyklen, da war Ben umzingelt und wehrte sich mit Händen und Füßen gegen seine Angreifer.

Vorhin im Wald hatte es noch so ausgesehen als hätte er alles unter Kontrolle. Nun war dem nicht mehr so. Er hatte etwa mit doppelt so vielen Feinden zu kämpfen als zuvor und nochmal drei Mal so viele waren auf dem Weg zu ihm.

Eine der ersten Fehltötungen hatte ihm seine Schusswaffe aus der Hand geschlagen und alles, was er nun zu bieten hatte, waren Dolche, für die er kaum genug Platz hatte, um damit auszuholen.

Ich wusste nicht, wie spät es war. Wann die anderen kommen würden und ob sie überhaupt wussten, was hier los war. Aber ich konnte mich nicht verängstigt hier festklammern und zusehen. Nicht nochmal.

Ohne groß über die Konsequenzen nachzudenken, sprang ich über das Geländer und von dort aus auf eine der Wände, die das Labyrinth bildeten. Sie waren etwa zehn Zentimeter breit aber erstaunlich stabil und somit tauglich, um darauf zu balancieren.

Ich wartete auf das rote Licht, um mich fortzubewegen und schaffte es beinahe unbemerkt in die Mitte. Kurz vor meinem Ziel, dem Waffentisch, spürte ich, wie mein Fußgelenk in der Dunkelheit umklammert wurde und schrie in meinem Schock auf.

Ich trat solange in die Schwärze, bis ich meinen Angreifer erwischte. Das nächste was ich sehen konnte, war, dass sich ein duzend Fehltötungen auf den Weg zu mir machte.

Mit zitternden Fingern pulte ich mein Handy aus der Hosentasche, schaltete die Taschenlampe an und sprang über die restlichen Wände zum Tisch.

Ben hatte eine Pistole, drei Messer und ein Schwert darauf zurückgelassen.

Ich hüpfte direkt auf den Tisch, griff nach dem Schwert und schlug damit blind um mich. Mein Handy lag irgendwo auf dem Boden und blendete mich mehr als dass es mir half und die Fehltötungen gaben mir keine Zeit, mir etwas Besseres einfallen zu lassen als wahllos auf sie einzustechen.

Nicolo hatte Recht gehabt. Es machte sie unnötig aggressiv. Ihr Fauchen und Toben vermischte sich zu einem lauten Grölen. Sie kratzten mir die Beine auf und schienen kaum von meinen Schlägen geschwächt zu werden.

Aus dem Augenwinkel erkannte ich, wie das Licht, und somit auch Ben, immer näherkam.

Dadurch führte er noch mehr Bestien hierher.

Er tötete sich seinen Weg zu mir und sprang im Handumdrehen auf den Tisch, griff nach der Waffe und schoss so viele Fehltötungen nieder, wie das Magazin es ihm erlaubte.

„Du hättest weglaufen sollen!", brüllte er mir über den Lärm zu.

Ich unterdrückte den Drang, mir zu Ohren zuzuhalten, wenn er schoss, ebenso wie das Bedürfnis, mich auf den Boden zu legen und vollends zerfetzen zu lassen.

Ich wusste nicht, wie lange ich es noch schaffen würde, hier oben zu stehen... überhaupt zu stehen. Meine Beine knickten immer wieder unter mir weg. Es konnte an den Schmerzen liegen oder an dem Blutverlust.

Nicht einmal, wie das Schwert mir aus den Händen glitt und in die blutrünstige Menge unter uns fiel, registrierte ich noch wirklich.

„Silas!"

Ben schrie mich an. Er rüttelte und mir herum und schob mich gleichzeitig hin und her, während er mit den letzten Messern herumwarf.

„Reiß dich zusammen, verdammt! Ich kann dich hier nicht raustragen und uns verteidigen!"

Er hatte Recht, das wusste ich. Aber ich fragte mich, ob ich es überhaupt hier rausschaffen wollte. Wozu denn? Wenn ich jetzt runtersprang und mich zerfetzen ließ, hatte Ben wenigstens eine Chance zu fliehen. Mein Tod hätte einen Sinn und ich hätte endlich meine Ruhe. Kein Herzschmerz mehr, keine Ängste, keine Sorgen... nichts.

„Denk an deine Familie! An Alica! An Boris! Du musst sie doch wiedersehen wollen!"

Ben schlang einen Arm um meinen Torso und hielt mich fest an sich gedrückt. Ich konnte nicht fallen. Er würde mich nicht loslassen.

Vielleicht war er nicht mehr der Ben, den ich einmal gekannt hatte, aber er war nach wie vor Ben. Und Ben ließ niemanden im Stich. Das war eines der Dinge, die ich von klein auf an ihm bewundert hatte. Er fand immer die Kraft zu kämpfen. Wenn nicht für sich, dann für die, die er liebte.

In den meisten Fällen war es alles andere als schlau, ihm nachzueifern. In diesem rettete es mir das Leben.

Mich aufrecht hinzustellen, schmerzte. Mein gesamter Unterkörper war von Schnitten übersäht. Mein Blut rannte daran herab und tränkte den Stoff meiner Jeans in sich, machte ihn warm und schwer.

„Am besten, wir versuchen es über die Tribüne. Die Tür, durch die du reingekommen bist, sollte offen sein."

Ich nickte, um Ben zu verdeutlichen, dass ich verstanden hatte.

„Du springst über die Wände und ich gehe untenrum und versuche noch ein paar Messer aufsammeln."

„Vergiss es", widersprach ich. „Du verläufst dich nur."

„Dann gehen wir beide über die Wände. Du links, ich rechts." Er trat einer Fehltötung ins Gesicht und griff an ihr vorbei auf den Boden, um mein Handy aufzuheben. „Damit locke ich die meisten zu mir. Du musst es nur rüber schaffen. Kannst du das?"

Obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich das tatsächlich hinbekommen würde, nickte ich.

Ben steckte sich mein Handy so in die hintere Hosentasche, dass die Taschenlampe rausleuchtete und half mir, auf die einzige Wand zu klettern, die für uns in Reichweite war.

Zwischen ihr und dem Tisch stapelten sich tote Erwachte. Die Untoten rutschten auf ihnen aus und hatten somit ihre Schwierigkeiten, uns zu folgen. Dadurch verschafften wir uns den entscheidenden Vorteil.

Alle, die nicht dran verzweifelten, ebenfalls auf die Wände oder klettern und die, die daran scheitern, verfolgten Ben und seinem scheinenden Hintern.

In meinem Anflug von Adrenalin schaffte ich es schnellstmöglich, über die Wände zu balancieren und mich am Geländer der Tribüne hochzuziehen.

Ben brauchte etwas länger als ich. Schon bevor er sie hätte ergreifen können, streckte ich ihm in meine Hand hin und half ihm, über das Geländer zu klettern.

„Sag tschüss zu deinem Handy."

Bevor ich Ben antworten konnte oder auch nur daran denken zu verhindern, dass er es in das Labyrinth warf, hatte er es bereits getan und mich in die andere Richtung gezerrt.

Innerhalb weniger Sekunden hatten sich die Fehltötungen so wild auf das Licht gestürzt, dass es vollständig bedeckt war und wir die Treppen zur Tür nur noch hochstolpern konnten.

Ich war nicht dazu in der Lage zu beschreiben, wie erleichtert ich war, als ich das Klicken der Türklinke hörte.

Wir taumelten dem Licht aus dem Flur entgegen und Ben schlug die Tür hinter uns zu, ehe er sich schweratmend dagegen lehnte.

Hier draußen war von einem Einfall der Fehltötungen nichts zu erkennen. Keine Dunkelheit, kein rotes Licht, kein Alarm, kein Blut.

Stattdessen standen uns fremde Leute gegenüber. Sie sahen aus abwertenden Gesichtern zu uns herab. Keiner fragte uns, was passiert war, wieso wir bluteten oder ob sie helfen konnten. Sie kannten die Antworten darauf bereits. Und sie hatten ein Urteil gefällt.

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