21
Kian
„Wieso bin ich nochmal mitgekommen?" Austin stützte sich mit beiden Händen an den Steinmauern neben uns ab und schnaufte dabei so laut, dass seine Atemgeräusche als Echos in den Höhen des Turmes verschwanden.
Je weiter wir nach oben kamen, desto schmaler wurde die Treppe. Die Luft war dünn und stickig und meine Sicht vom herumfliegenden Staub getrübt.
„Du wolltest mir helfen", erinnerte ich Austin. „Keine Sorge, wir sind bald da."
„Brennen deine Oberschenkel auch so?"
Ich warf einen Blick über die Schulter, um Austin dabei zuzusehen, wie er sich die Stufen hochschleppte. In seinem Zustand würde es mich nicht wundern, wenn er jeden Moment rückwärts von der Treppe kippen würde.
„Nicht wirklich."
Ich presste mich an die Wand und wartete, bis Austin ein paar Treppen über mir war, um ihm zu folgen. So konnte ich sichergehen, dass ich ihm nicht davonhuschte, ihn hochschieben und im Notfall auffangen.
„Morgen gehen wir zusammen schwimmen", beschloss er. „Dann quäle ich dich auch so."
„Du bist freiwillig mitgekommen", stellte ich klar. „Außerdem habe ich morgen einen Termin mit der ADGD. Den werde ich sicherlich nicht absagen, um schwimmen zu lernen."
„Bevor ich gehe", Austin legte eine Atempause ein, in der er ein paar Mal kräftig Luft holte, „bringe ich es dir aber bei. Zumindest so weit, dass du nicht ersäufst, wenn du in eine Pfütze fällst."
Ich verdrehte meine Augen. „Sehr witzig. Rede mal lieber weniger und konzentriere dich darauf, voran zu kommen. Du hängst seit einer Minute auf derselben Stufe."
„Verzeiht, Eure Hoheit", hechelte mein bester Freund. „Am besten, du lässt mich hier zurück. Ich werde mich ausruhen und dann-"
„Nichts da!"
Er lehnte sich die Wand und wollte daran entlang auf die Stufe sinken. Ich zerrte ihn zurück auf die Beine, noch bevor sein Hintern den Stein berühren konnte und stellte mich, trotz der Enge, neben ihn, um seinen Arm über meine Schulter zu werfen und den anderen um seinen Torso zu schlingen. So musste er nichts weiter tun, als sich von mir hochtragen zu lassen und die Beine hin und wieder zu heben, damit sie nicht an die Stufen schlugen.
„Ich lasse niemanden zurück."
Austin sah mich an. Obwohl ich, im Gegensatz zu Silas, nicht in den Kopf von anderen sehen konnte, wusste ich, dass er sich an das selbe erinnerte wie ich.
Die Todeszone.
Die Angriffe dort.
Wie unser Trupp die meiste Zeit über von einem Ort zum nächsten geflohen war. Wie meine Wachen mich mit sich gezerrt hatten. Egal, wie sehr ich mich gewehrt hatte und bleiben wollte, um Leute zu retten, die nicht zu retten gewesen waren.
Mein Überleben sicherzustellen war ihre oberste Priorität gewesen. Dafür hatten sie Kollegen verloren, mit denen sie für Jahrhunderte gekämpft hatten. Freunde. Und sie hatten kein einziges Mal den Eindruck gemacht, als würden sie das bereuen oder auch nur ansatzweise daran zweifeln, dass es das richtige war.
„Kian", Austin löste sich von mir, nur kurz und nur so weit, dass er genug Platz hatte, seine Hände an meine Wangen zu legen. „Jeder Einzelne von denen, die wir in der Todeszone verloren haben, war aus freien Stücken dort. Sie wollten dich schützen und die Möglichkeit haben, ihrem zweiten Leben einen Sinn zu geben. Und das haben sie."
Da Austin meinen Kopf festhielt, konnte ich ihn nicht wegdrehen. Ich schloss also meine Augen, um seinem Blick zu entkommen.
Sofort sah ich die Todeszone wieder vor mir. Ich hörte Schreie, sah Blut und fühlte Angst. Meine Erinnerungen zogen mich zu sich, an diesen dunklen, gefährlichen Ort.
Ich fand mich an unserem Lagerfeuer wieder. Wir hatten uns in einer Höhle versteckt, sichergestellt, dass sie leer stand und sie mit Sträuchern, Ästen und Blättern abgedeckt. Unsere Zelte hatten wir Tage zuvor zurücklassen müssen, als wir in einem Angriff blutrünstiger Tiere vom einen Augenblick auf den nächsten aufgebrochen waren.
Alle Verwundeten, die wir zu fassen bekommen hatten, hatten wir mitgeschleppt und versucht, sie zu versorgen.
Ich hatte lange und ausgiebig mit Oliver darüber diskutiert, Austin sie heilen zu lassen. Ich konnte nicht verstehen, warum wir diese Chance, ihre Leben zu retten, nicht nutzen sollten, wenn sie doch direkt vor uns saß.
Olivers Erklärung war viel zu logisch gewesen: Unsere Vorräte waren am Ende und wir hatten nicht die Mittel, Austin mit dem richtigen Blut zu versorgen, das er brauchte, wenn er heilte. Der einzige, der es wert wäre, seine letzte Kraft zu verbrauchen, sei ich.
Oliver hatte sich von meinen irrationalen Bitten nicht überzeugen lassen. Also hatten wir die meisten unserer Verwundeten verloren, noch in derselben Stunde.
Einer von ihnen, Simon, lag dabei in meinen Armen. Sowie alle anderen, die noch gehen konnten, hatte ich mich um die Verletzten gekümmert.
Simon hatte mich abgefangen und gebeten, kurz bei ihm zu bleiben. Wir hatten uns unterhalten und ich hatte erfahren, dass er etwa so alt war wie Austin. Er lebte seit 11 Jahren bei uns und hatte mich in dieser Zeit kein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Für diese Mission hatte er sich nur gemeldet, weil er nichts Anderes mit sich anzufangen gewusst hatte. Doch, als er mich gesehen hatte, so hatte er behauptet, hatte er gewusst, dass er mich um jeden Preis schützen musste.
Die klaffende Wunde seines Bauches hatte ihn in seiner Erzählung immer wieder gestoppt. Mir war aufgefallen, dass er sich zusammengekrümmt hatte. Das schien ihm die Schmerzen etwas zu erleichtern, also hatte ich seinen Kopf genommen und ihn und seinen Oberkörper gehalten.
Er hatte gelächelt und aus feuchten Augen zu mir hochsehen. „Seit ich mich erinnern kann, war hierher zu kommen, das einzige, das sich richtig angefühlt hat."
Austin hatte das mitbekommen. Ebenso wie, dass Simons gesamter Körper danach aufgehört hatte zu zittern. Er war ruhig geworden, sein Blick hatte sich an der Höhlendecke festgesetzt.
Das war der erste Tod, den ich erlebt hatte. Das erste Mal, dass ich einen Sterbenden in den Armen gehalten hatte.
Sein leerer Blick und wie schnell er kalt geworden war, hatten sich in mein Gedächtnis gebrannt. Selbst Wochen und Monate später noch, sah ich seine leblosen braunen Augen vor mir, auf denen sich sein Schleier bildete, und spürte wie, das Leben ihn verließ.
Ich hatte Simon noch eine Weile gehalten. Wäre Austin nicht gekommen und hätte ihn mir abgenommen, säße ich wahrscheinlich immer noch dort und würde abwesend in die Flammen sehen. Mir war nicht einmal aufgefallen, wie schwer er geworden war, bis Austin ihn zu den anderen Leichen getragen hatte.
Alles, was ich danach noch von Simon gesehen hatte, war sein Schatten, der im Licht der Flammen immer wieder an der Höhlenwand aufgeflackert war. Manchmal sah ich ihn selbst heute noch, wenn ich durch die Flure des Palastes lief und die Fackeln daran ihre Tänze vorführten.
„Wie kommst du so gut damit klar?", hauchte ich Austin zu.
Er schüttelte den Kopf. „Tue ich nicht. Aber ich versuche mich auf die Dinge zu konzentrieren, an denen ich was ändern kann."
Wie lange wir schließlich gebraucht hatten, um Kasimirs Gemach zu erreichen, wusste ich nicht. Ich hatte mir einen Moment genommen, um mir Austins Worte durch den Kopf gehen zu lassen und in seiner Umarmung einen Trost gefunden, der beinahe dem meiner Mutter gleichkam.
Auf der obersten Stufe ließ Austin sich nieder und konzentrierte sich darauf zu Atem zu kommen.
Ich klopfte mehrmals und kündigte mich selbst an.
Von Kasimir kam keine Antwort. Selbst nach dem dritten und vierten Klopfen nicht.
„Kasimir? Ich komme rein!", warnte ich laut und deutlich.
Ich sah mich nach allen Seiten um, erkannte das Chaos, das wir bei unserem letzten Besuch hier zurückgelassen hatten, wieder, doch konnte Kasimir nicht finden.
Begleitet von einem gequälten Laut zog Austin sich am Türrahmen nach oben und schleppte sich zu mir. Auch er sah sich suchend um. „Wo ist er?"
„Ich weiß es nicht."
Meines Wissens nach hatte Kasimir seinen Turm nie verlassen. Er hatte keinen Grund dazu. Alles, was er brauchte, lagerte er entweder in seinem Gemach oder bekam es regelmäßig zugestellt.
„Er kann noch nicht lange weg sein", teilte ich Austin mit, während ich mich weiter in den Raum bewegte und einen Blick auf die losen Blätter warf, die sich überall um uns herum verteilten. „Das wäre den Bediensteten aufgefallen, als sie ihm Blut-" Ich unterbrach mich selbst, als ich den vollgebröselten Teller neben Kasimirs Bett erkannte.
„Kann er auch normal essen?" Austin sah ebenso auf den Teller. Er stützte sich an meiner Schulter ab, sodass er eher an mir hing als selbstständig zu stehen.
„Dazu müsste er ein Gefährtenkind sein." Ich schüttelte den Kopf. „Meine Eltern haben gesagt, es gäbe außer mir gerade keins."
„Vielleicht haben sie gelogen."
Austin zog die Augenbrauen hoch, als mein überraschter Blick ihn traf. „Ich meine ja nur. Wäre nicht das erste Mal."
„Wieso sollten sie das tun?"
Mein bester Freund zuckte mit den Schultern und ließ von mir ab, um sich weiter in den Raum zu bewegen. „Sie hatten bestimmt einen guten Grund."
Ich folgte ihm, Schritt für Schritt, und ließ ihn dabei keine Sekunde aus den Augen.
„Das klingt so als wüsstest du irgendetwas."
Austin war sich meiner Blicke bewusst, doch er ignorierte sie und kniete sich auf den Boden, um die Papiere aufzusammeln, die wild verteilt darauf herumlagen.
„Schau mal, vielleicht hilft uns das weiter."
„Austin!" Ich ging neben ihm in die Hocke und rüttelte ihn an der Schulter. Er sollte aufhören, mir auszuweichen. Er sollte ehrlich sein.
„Wir sollten diesen ganzen Kram ordnen und versuchen zu verstehen, was Kasimir da zusammengekritzelt hat. Vielleicht stimmt was mit deinen Notizen überein."
Ich schnaubte. Ich hatte diese Unwissenheit langsam satt. Alles, was ich wollte, war die Wahrheit.
„Du kannst nicht einfach in den Raum werfen, dass meine Eltern mich belügen und es dann so stehen lassen!"
Mein bester Freund legte seinen Stapel zurück auf den Boden. „Woher willst du wissen, dass ich dich nicht auch belüge?" Er gab mir keine Zeit, über eine Antwort nachzudenken. „Wenn du die Wahrheit willst, musst du sie selbst rausfinden."
„Ich weiß doch nicht mal, wo ich damit anfangen soll. Oder wem ich vertrauen kann."
„Deine Mutter sagt immer: Geduld ist der Schlüssel für jedes Schloss."
Ich warf die Hände in die Luft. „Und wie soll mir das jetzt weiterhelfen?"
„Warte einfach ab. Die Wahrheit rennt dir nicht davon. Sie verfolgt dich. Alles, was du tun musst, ist sie zu sehen, wenn sie dich einholt."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top