20
Silas
Es war zehn Uhr achtundzwanzig. Ein kühler Donnerstagvormittag. Keine einzige Wolk hing am Himmel. Er war hell und blau, doch die Sonne war nicht zu sehen.
Als ich mir am Morgen beim Bäcker drei Straßen weiter Brötchen geholt hatte, war mir aufgefallen, dass es ein ganz normaler Tag zu sein schien.
Herr Stübler, ein alter Mann, der oft suchend durch die Gassen schlenderte, war mir entgegengekommen und hatte mich gefragt, ob ich seine Katze, Tinki, gesehen hätte.
Seit ich bei meiner Oma wohnte, war das jeden Donnerstagmorgen passiert, wenn ich denselben Weg zur Schule gegangen war. Wie jedes Mal, hatte ich ablehnen müssen und ihm vorgeschlagen, mal am Spielplatz nachzusehen.
Keiner der Bewohner dieser Straßen brachte es übers Herz, Herrn Stübler mitzuteilen, dass Tinki bereits vor sechs Jahren überfahren worden war, als sie einem Schmetterling nachgejagt hatte. Ein paar Stunden später könne er sich daran ohnehin nicht mehr erinnern und so müsse er den Verlust seines geliebten Fellknäuls immer erleben.
Frau Decker, die jeden Morgen im Backhaus stand, hatte mich nach meiner Oma gefragt. Wie es ihr ging und ob sie bald zurückkommen würde.
Im ersten Moment mochte das nach oberflächlichen Fragen klingen. Tatsächlich sehnte sich die Verkäuferin aber sehr nach meiner Großmutter und vor allem nach den guten Torten, die sie zu ihrem Sortiment beisteuerte.
Weder Herr Stübler, noch Frau Decker oder einer meiner Nachbarn ahnten, dass es ein großer Tag für mich war. Die meiste Zeit über verschwendete selbst ich keinen Gedanken daran, bis mir aus dem Nichts einfiel, dass am Nachmittag über meine Zukunft entschieden werden sollte.
Ben wollte mich um halb elf abholen und an den Ort bringen, an dem meine Prüfung stattfinden sollte. Davor, meinte er, könne er mich noch ein wenig beruhigen und mir nützliche Tipps zuschieben.
Wie die Prüfung aussehen würde und was denn überhaupt geprüft werden würde, wusste ich nicht. Nicolo, Ezra und Ben hatten dichtgehalten und Cédric und Arian hatte ich gar nicht erst gefragt.
Ich musste beeindrucken, das war alles, was ich wusste. Ich musste die Führungskräfte der ADGD davon überzeugen, dass es sich für sie lohnen würde, in meine Ausbildung zu investieren.
Das würde hart werden. Die meisten, die diesen Weg gingen, lernten von klein auf, was sie können mussten, um als Soldat der Allianz erfolgreich zu werden. Ben hatte mir erzählt, dass an mich als Erbe einer Dynastie ganz andere Ansprüche gestellt werden würden als an ihn. Ich würde nicht nur besser sein müssen als er, ich würde auch beweisen müssen, dass ich besser sein konnte als alle anderen.
In letzter Zeit dachte ich viel an meinen Vater. Daran, dass er auch Soldat gewesen war. Daran, was er sich für mich gewünscht hatte.
Als ich ihn damals gefragt hatte, warum er in den Krieg zog, wenn er ihn doch hasste, hatte er gesagt: „Der Krieg wird nicht aufhören, egal, ob ich ihn mag oder nicht. Aber, wenn ich daran teilnehme, dann kann ich vielleicht dafür sorgen, dass du es niemals musst."
„Glaubst du wirklich, dass du was verändern kannst?", hatte ich zweifelnd erwidert.
Er hatte mich angelächelt, über meinen Kopf gestrichen und mich in seine Arme gezogen. „Ich werde ja nicht allein sein, mein Sohn. Tausende Väter und Mütter werden mit mir kämpfen, die ihre Kinder mindestens genauso sehr lieben wie ich dich. Wir werden euch beschützen."
Ich war mir sicher, dass viele Soldaten ähnliche Motive gehabt hatten wie mein Vater. Die meisten von ihnen hatten nur am Krieg teilgenommen, um ihn zu beenden.
Schon klar, dass man ein Feuer durch mehr Holz weiter anfachte. Aber ich bildete mir ein, ich könnte in diesem Szenario Teil des Wassers sein.
Bens Auto gefiel mir nicht. Es passte nicht zu ihm. Als er auf meinen Hof fuhr, wartete ich bereits zwanzig Minuten vor der abgeschlossenen Haustür.
In der Zwischenzeit hatte ich Ben mit achthundert Nachrichten belästigt. Diese Mittelfingerarmee sollte ihm klarmachen, was ich davon hielt, dass er es selbst an solch einem wichtigen Tag nicht auf die Reihe brachte, pünktlich zu sein.
Möglichst gelassen schlenderte ich zu seinem Auto und ließ mich auf den Beifahrersitz fallen. Dass ich mir dabei den Kopf anschlug, überspielte ich tapfer.
Ben war mit seinem Handy beschäftigt und bemerkte es daher nicht.
„Wie ungeduldig du bist." Er schüttelte den Kopf über meine vielen Nachrichten. „Dabei solltest du wissen, dass ich immer zu spät bin."
„Ich dachte, du hättest dich gebessert."
„Ich doch nicht", grinste er und steckte sein Handy in eine Halterung am Armaturenbrett, die so angebracht war, dass er beim Fahren problemlos darauf sehen konnte.
Das war eines der vielen Dinge, die mich an seinem Auto störten. Es war viel zu modern. Vollbepackt mit unnötigem Schnickschnack. Früher war Ben viel pragmatischer gewesen. Aber vielleicht hatte er sich damals solch einen Luxus einfach noch nicht leisten können.
„Wie viel verdient man eigentlich so bei euch? Das hat mir noch keiner gesagt."
„Als wärst du auf das Geld angewiesen", lachte Ben, während er vom Hof fuhr.
An die Verkehrsregeln hielt er sich nicht. Er fuhr so schnell, wie er gerade Lust hatte und entschied selbst, ob er es für nötig hielt, an einer roten Ampel zu halten. Da ich selbst keinen Führerschein hatte, wollte ich mich darüber aber nicht beschweren. Zumindest nicht mehr als gedanklich.
„Es darf mich ja wohl trotzdem interessieren", verteidigte ich mich.
Dass mein Erbe nicht gerade klein war, gehörte zum Allgemeinwissen der Stadt. Gerüchte und deren Weiterleitung waren hier Teil der Grundversorgung.
„Wir haben kein festes Gehalt. Wenn wir etwas brauchen oder wollen, dann wenden wir uns an unsere Ansprechpartner und die regeln das dann."
„Dein Ernst?" Ich drehte mich auf meinem Sitz zu ihm.
Ben hatte den Blick auf der Straße. Trotzdem erkannte ich in seinem Gesicht, dass er meinte, was er gesagt hatte und dass er das kein Stück seltsam fand.
„Das ist ja die pure Kontrolle!", stieß ich aus, bevor er mir hatte antworten können.
„Glaub mir, so schlimm wie es klingt, ist es gar nicht. Man bekommt eigentlich alles, was man will, wenn man entsprechend Leistung bringt."
Schnaubend lehnte ich mich in meinem Sitz zurück. Das musste ich erstmal sacken lassen.
„Man gewöhnt sich daran, keine Sorge."
Ich konnte bloß den Kopf schütteln. „Tom hatte Recht. Die unterziehen einen einer Gehirnwäsche."
„Wer ist Tom?"
Erneut blickte ich ungläubig zu ihm. Er sah mich ebenfalls kurz an und hob dann abwehrend eine Hand. „Es bringt doch nichts, mit dir darüber zu diskutieren. Mach dir einfach ein eigenes Bild und urteile nicht zu schnell, mh?"
Auch Ben hatte Recht. Ich hatte schnell geurteilt. Das war nicht meine Art. Zumindest wollte ich das nicht. Ich wusste selbst wie es war, von Unwissenden verurteilt zu werden, ohne die Chance zu bekommen, sich zu verteidigen. Ich hatte besser sein wollen als das.
„Tom ist Amelies fester Freund", erklärte ich Ben also. Der Themawechsel kam mir ganz Recht.
„Als ob die sexy Schnitte Tom heißt", japste er.
„Eh, ja. Wieso?"
„Darunter stellte ich mir keinen 18-jährigen 1,90 Athleten vor, sondern einen alten Kneipenbesitzer, der von seiner Frau verlassen wurde, weil er selbst sein bester Kunde ist."
Diesmal war mein Blick zu ihm verwirrt. „Das ist erstaunlich präzise."
„Tom ist ein guter Typ, oder? Ich muss ihn nicht heimlich abschlachten und mich darum kümmern, sein plötzliches Verschwinden zu erklären?"
Kein schelmisches Grinsen auf seinem Gesicht, kein spielerischer Unterton in seiner Stimme, kein Schalk in seinem Blick. Ben meinte das todernst.
„Ja, er ist, glaube ich, der beste, den man kriegen kann."
Das stellte ihn zufrieden. „Gut."
Ben war seiner kleinen Schwester gegenüber immer sehr beschützerisch gewesen. Sogar vor mir.
Amelie und ich hatten uns als Kleinkinder im Sandkasten kennengelernt. Sie hatte mir meine Schaufel weggenommen und versucht, mich im Sand einzugraben. Ich hatte sie angeschrien, mich in Ruhe zu lassen und an meiner Schaufel herumgezerrt.
Sofort war Ben zur Stelle gewesen und hatte mich mit dem Gesicht voraus in den Sand gedrückt. Nicht lange. Aber lange genug, um mir eine Höllenangst einzujagen.
Danach hatte er Amelie meine Schaufel weggenommen und sie mir gegen den Kopf geworfen, bevor er seine Schwester dazu gezwungen hatte, mit ihm zu den Rutschen kommen.
Als wir uns das nächste Mal auf den Spielplatz begegnet waren, hatte ich Boris dabeigehabt. Damals war er noch größer und stärker gewesen als ich und hatte mich vor Älteren wie Ben, verteidigt. Außer bösen Blicken war nichts weiter passiert.
Unsere Eltern hatten sich in der Zeit prächtig unterhalten und uns einfach machen lassen.
Im Kindergarten hatten Amelie und ich dann erstaunlich schnell Freundschaft geschlossen. Ich war wieder im Sandkasten gesessen und hatte versucht, mit den Händen ein Loch zu graben.
„Hier, Dummi. So geht das viel leichter, schau." Amelie hatte mir eine Schaufel zugeworfen, sich neben mich gesetzt und mir gezeigt, wie sie buddelte.
Das war der Beginn einer engen Freundschaft gewesen, die mehr als zehn Jahre angedauert hatte.
Ben hatte mich in den Kreis seiner Schützlinge aufgenommen. Fortan hatte nur noch er mich ärgern dürfen. Ein Sadist wie er hatte daran natürlich Freude gehabt. Aber wie er auf mir rumgehackt hatte, war nie ein Vergleich dazu gewesen, was ich erlebt hatte, nachdem er weg gewesen war.
Natürlich hatte Boris sich auch für mich eingesetzt, wenn er etwas mitbekommen hatte. Die meiste Zeit über hatte er das aber nicht und ich hatte nie darüber geredet, sondern es einfach vergessen wollen. Die ganzen Beleidigungen, die Anfeindungen, der Hass... Mich damit zu beschäftigen, hätte zu nichts geführt. Ich hätte weder einen Grund für dieses Verhalten finden können, noch Verständnis dafür aufbringen. Also hatte ich akzeptiert, dass es nun mal so war und ich mich damit abfinden musste. Sowie mit dem Tod meines Vaters. Sowie mit Bens Tod.
Im Nachhinein weiß ich, dass es sinnvoller gewesen wäre, meiner Umgebung Aufmerksamkeit zu schenken, als in meinen Erinnerungen zu versinken. Aus dem Nichts haute Ben die Bremsen rein und wir wurden in unseren Sitzen nach vorne geschleudert. Unsere Sicherheitsgurte waren alles, was uns davon abhielt, durch die Frontscheibe zu segeln.
„Scheiße, was machst du?!"
Ich fasste mir an die Brust. Mein Herz pochte so schnell, dass ich das Gefühl hatte, es würde mir jeden Moment die Rippen brechen. Falls der Gurt das noch nicht getan hatte.
Ben ging nicht auf meine Frage ein. Er tippte etwas in den Bildschirm seines Autos. Eine Adresse.
„Hast du dich verfahren?"
Auch darauf antwortete er nicht. Stattdessen begann er sinnloses Zeug zu reden. „Mein Auto fährt mit Automatik, rechts ist das Gas, links die Bremse. Wenn du losfahren willst, stellst du den Schalter hierhin. Folge einfach der Navigation."
Im nächsten Augenblick schlug es an meine Scheibe und ich sprang in meinem Sitz zurück.
Das erste, was ich sah, war Blut. Es hing in Form einer Hand an der Scheibe und rannte daran herunter. Dann ertönte ein zweiter Schlag und ich erkannte die Krallen an der Hand, von der das Blut stammte. Einen Moment später knallte die Stirn der zugehörigen Bestie an mein Fenster. Immer und immer wieder.
Ich hatte die Reißzähne gesehen und die blutverschmieren Lippen. Fahle, eingefallene Haut und leere Augen.
„Ich erkläre es dir später." Ben holte einen silbernen Dolch unter seinem Sitz hervor und drückte ihn mir in die Hand. „Verteidige dich notfalls damit. Ziel auf das Herz."
Aus dem Handschuhfach zog er mehrere Messer und eine Pistole. Das Klopfen im Hintergrund wurde immer lauter.
„Wenn du mich aus den Augen verlierst, fährst du sofort los. Wehe, du steigst aus oder versuchst irgendwie sonst den Helden zu spielen, verstanden?"
„Ich verstehe gar nichts!"
Ben warf einen überprüfenden Blick aus dem Auto. Um uns herum war es schwarz. Einzig die Scheinwerfer und die Beleuchtung im Inneren machten es uns möglich, überhaupt etwas zu sehen. Ich hatte weder mitbekommen, wann und wie es so dunkel geworden war, noch woher der Nebel kam.
„Du schaffst das schon."
Ehe ich auch nur daran denken konnte, ihn festzuhalten, hatte er mir einen Schmatzer auf die Wange gedrückt und die Fahrertür hinter sich zugeknallt.
„Verdammt, Ben!"
Zwei Dinge hielten mich davon ab, ihm zu folgen.
Erstens: Er hatte gesagt, ich solle nicht aussteigen. Da er, im Gegensatz zu mir, eine Ahnung zu haben schien, was hier los war, beschloss ich, ausnahmsweise auf ihn zu hören.
Zweitens: Meine Tür wurde noch immer von dem penetranten Etwas blockiert. Es wirkte nicht so als würde es verstehen, dass es mit seinen Schlägen nicht weiterkam. Im Gegenteil, es verletzte sich dadurch nur selbst. Allerdings wirkte es auch nicht so als sei es überhaupt dazu in der Lage zu verstehen. Oder zu denken.
Ben riss es zurück und versenkte seinen Dolch in seiner Brust. Im selben Moment erschienen weitere solcher Wesen im Scheinwerferlicht. Sie kamen von allen Seiten, einige von ihnen schnell und zielstrebig, andere langsam, als würden sie schlafwandeln.
Ben fertigte einen nach dem anderen ab. Nie zuvor hatte ich etwas von gleichwertiger Eleganz gesehen. Solche brutalen Bewegungen hatten noch nie so flüssig, ja so anmutig ausgesehen.
Mein Unterbewusstsein hatte verinnerlicht, was er mir gesagt hatte. Sobald er außer Sichtweite war, sollte ich losfahren und dem Navi folgen. Dazu kam es nicht. Zu keiner einzigen Sekunde. Ich saß auf meinem Sitz, umklammerte den Dolch und verfolgte Ben mit meinen Blicken. Jedes Mal, wen er seine Waffe abfeuerte, zuckte ich von der Lautstärke zusammen. Fast gleichzeitig warf er mit Messern um sich, um bestialische Neuankömmlinge reihenweise niederzumetzeln.
Ich hielt es für unmöglich, dass ein Mann reichte, um so viele andere zu töten.
In diesem Moment begann ich zu verstehen, dass Ben damals wirklich gestorben war.
Benjamin Christopher Mielich war tot.
Der Junge, der so charmant sein konnte, dass man keine andere Wahl hatte, als sich immer wieder in ihn zu verlieben. Der Junge, er mich beleidigt, verletzt, enttäuscht und immer wieder zurückerobert hatte. Der Junge, dessen brutalsten Taten seine Küsse gewesen waren.
Er war tot.
Das war vor mir war eine Tötungsmaschine, die seinen Namen und sein Gesicht trug. Und obwohl sie sich manchmal noch wie er verhielt, wusste ich nun, dass sie nichts mit dem Jungen, an den ich einmal mein Herz verloren hatte, gemeinsam hatte.
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