2
Kian
Die zweite Nacht nach meiner Ankunft am Hof verbrachte ich in der Bibliothek. Nach dem vergangenen Treffen im Inneren Kreis, war meine Aufgabe klar: Alles, was ich in Erfahrung gebracht hatte, schriftlich festhalten. Über Jayna, über ihr Reich und über die Todeszone.
Nach weniger als einer Stunde saß ich in einer Wiese aus Papierkugeln. Ich war nicht gut darin, Worte zu finden und Sätze zu formulieren. Alles, was ich an Text zu Papier brachte, strich ich wieder durch und knüllte es unzufrieden zusammen.
Durch das laute Quietschen der Tür zur Bibliothek, bekam ich mit, wie sie geöffnet wurde. Schritte näherten sich mir an. Eine Fingerbewegung entfachte das Licht der Laterne vor mir auf dem Tisch. Ich hatte nicht mitbekommen, wie es um mich herum so dunkel geworden war, dass ich das Papier kaum mehr von der Tischplatte unterscheiden konnte.
Austin zog sich einen Stuhl heran, sodass er mir gegenüber platznehmen konnte und musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Hast du schon geschlafen, seit wir zurück sind?"
„Ich hab's versucht", murmelte ich, während ich ein weiteres Blatt zusammenknüllte und neben mir auf den Boden kullern ließ.
Austin sah mich weiterhin an, aber ich schenkte dem keine Beachtung. Obwohl ich ein leeres Papier vor mir hatte, einen Stift in der Hand und Eindrücke in meinem Kopf, schaffte ich es nicht, etwas aufzuschreiben. So als gäbe es einfach keine Worte dafür.
„Ich denke, du solltest erstmal richtig runterkommen, bevor du irgendwas versucht", meinte er, nachdem er mir eine Weile bei meiner Tatenlosigkeit zugesehen hatte.
Ich legte meinen Stift zur Seite und rieb mir mit den Händen über das Gesicht. „Ich kann nicht. Da ist so viel Mist in meinem Kopf. Ich muss so viel machen. Und-"
„Aber so bekommst du doch eh nichts auf die Reihe", argumentierte er. „Komm, ich helfe dir einzuschlafen. Jayna hat mir einen guten Tipp gegeben."
Ich hob meinen Kopf aus den Händen, um Austin anzusehen. Er legte den Kopf schief und wartete auf meine Zustimmung. Aber die bekam er nicht.
„Mein Vater hätte mich am liebsten in Stücke gerissen, als ich ihm erzählt habe, dass Jayna nicht mit mir reden wollte. Er wird dich früher oder später „bitten" ihm alles zu sagen, was du von ihr weißt."
Austin schmunzelte. „Dachte ich mir schon." Kurz danach wurde er wieder ernster. „Und glaub mir, wenn es irgendwas gäbe, das dir gerade weiterhelfen würde, dann würde ich es dir sagen. Aber da ist nichts."
Kurz sahen wir einander unverändert an. Dann nickte ich, seufzte erneut und strich mir die schlaffen Haare nach hinten.
„Ich glaube dir. Es ist nur so unglaublich frustrierend. Wir waren drei Monate unterwegs und ich habe nichts in der Hand. Ich hätte derjenige sein sollen, der meiner Mutter eine Heilung bringt und meinem Vater Antworten."
„Du hast eine Heilung und Antworten", widersprach Austin. „Ich kann Victoria helfen. Und du hast einiges über Jaynas Reich zu erzählen. Und die Todeszone."
„Nur, dass ich daran nicht mal denken will", murmelte ich.
„Ich habe es auch noch nicht ganz begriffen." Er schob seine Hand zu meiner und legte sie darauf. Er drückte fest zu, solange, bis ich ihn ansah. „Aber wir sind zuhause. Und hier sind wir sicher."
„Aber für wie lange? Wir haben doch keine Ahnung, ob diese Kreaturen auch zu uns kommen können. Was wenn-"
„Das können sie nicht", unterbrach Austin mich. „Das verspreche ich dir." Erneut drückte er meine Hand. Diesmal erwiderte ich es.
„Und das mit Silas kannst du auch nicht lösen, indem du ihm aus dem Weg gehst und dich solange in alles reinsteigerst, bis du zusammenbrichst."
„Ich steigerte mich in alles rein?!"
Er öffnete den Mund, um seiner Aussage etwas hinzufügen, aber ich wollte kein weiteres Wort von ihm hören. Er meinte es gut. Insgeheim wusste ich das. Aber was er sagte und wie er es sagte, löste eine ungemeine Wut in mir aus, die alle Logik in den Schatten stellte.
„Meine Mutter hätte tot sein können, bis wir wieder hier sind, mein Vater hält mich für unfähig und ich bestätigte das, indem ich nichts auf die Reihe bekomme. Ich soll jemanden heiraten, den ich nicht liebe, während die Person, die ich-"
Meine Stimme versagte. Mein Körper hatte die Notbremse reingehauen und mir den Hals zugeschnürt. Meine Krallen kratzten über den Tisch, als ich meine Hand zu einer Faust ballte.
Die Stille, die auf meine Worte folgte, ließ meine Verzweiflung umso dröhnender durch die Regale hallen.
Austin sah mich an. Er sagte nichts. Sein Blick trug alles, was er ausdrücken wollte, in sich.
Dann griff er nach meinem Stift und hielt ihn mir auffordernd hin.
Ich verstand nicht, was er von mir wollte. Das letzte, was ich gerade tun konnte, war mich auf meine dämliche Aufgabe zu konzentrieren. Ich hatte keine Chance gegen das Chaos in mir. Es war zu mächtig.
„Du wirst Silas nicht helfen können, wenn du dich selbst kaputt machst", sagte er nach einiger Zeit und legte den Stift, in der den der Hand gehalten hatte, geräuschvoll auf das Blatt. „Zeichne Jayna, die Kleidung ihrer Damen, die Wände und die Böden in den Zusammenkünften und die Pflanzen darum herum. Zeichne alles. Hol es aus deinem Kopf direkt aufs Papier. Bring Ordnung rein."
Zögernd tastete ich nach dem Stift, während ich Austin in die Augen sah. Als er erkannte, dass ich bereit war zu tun, wozu er mich aufgefordert hatte, lehnte er sich zufrieden in seinem Stuhl zurück und legte die Beine überkreuzt auf den Tisch.
„Weck mich auf, wenn du Hunger hast." Er schloss die Augen und döste innerhalb weniger Sekunden weg.
Zwar löste seine Anleitung nicht all meine Probleme und ich wurde meine Sorgen nicht plötzlich los, aber ich hatte einen Punkt, an dem ich anfangen konnte. Eine Richtung, um mich durch dieses dichte Geäst zu wühlen. Einen Grund, mich zusammenzureißen und Schritt für Schritt nach vorn zu gehen.
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