18

Charlie kannte niemanden, der des Krieges nach mehreren Jahrzehnten nicht müde geworden war. Spätestens nach einem Jahrhundert waren die meisten Erwachten es Leid, ihre zweite Chance auf ein Leben für endlose Schlachten zu opfern. Selbst im Kampf überlegen zu sein, fühlte sich schon lange nicht mehr an wie ein Triumph.

Charlie wollte Frieden. Aber er war alt genug, um zu wissen, dass alles einen Preis hatte. Auf den Frieden, so glaubte er, stand Verlust. Leid. Tod. Und davor fürchtete er sich.

Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal so etwas empfunden hatte. Er wusste nur, wann seine Emotionslosigkeit, die ihn über Jahrhunderte beherrscht hatte, verschwunden war.

Es war der erste Schultag der Integration gewesen. Schon, als er hinter Kian in die Aula gelaufen war, hatte er das Rasen seines Herzens wahrgenommen. Sowas hatte er seit seinem Tod nicht mehr gespürt.

Boris hatte seinen Blick magnetisch angezogen.

Im ersten Moment hatte Charlie geglaubt, es sei ein Traum. Das alles, es war schlichtweg unmöglich gewesen. Diese Gefühle, die fehlende Kontrolle darüber, Boris' Ähnlichkeit zu Charlies früherem Liebhaber... Aber Charlie war nicht aufgewacht. Also entweder er steckte noch immer in diesem Traum fest oder er musste sich langsam damit abfinden, dass er es hier mit der Realität zu tun hatte. Einer Realität, die dem Schicksal als Spielfeld diente.

Charlie begann mehr und mehr daran zu glauben, dass alles vorherbestimmt sein musste. Selbst Boris, der darauf beharrte, dass noch so erstaunliche Zufälle nur das seinen – Zufälle – änderte daran nichts.

Warum sonst hätte er ihn treffen sollen? Warum sonst sollte er seinem Verflossenen so ähnlichsehen? Warum sollte ausgerechnet er sein Gefährte sein?

Eine höhere Macht hatte sie zusammengeführt. Sie alle waren Figuren in einem Spiel, das sie nichteimal ansetzen konnten zu verstehen. Und doch glaubte Charlie, ihm stünde eine gewisse Freiheit zu.

Er wusste, welch große Konsequenzen kleine Entscheidungen haben konnten. Er kannte die Gefahr von Geheimnissen, Lügen, vor allem aber davon, sich darauf auszuruhen, dass eine höhere Macht alles regeln würde. Deshalb würde er nie aufhören, für seine Überzeugungen einzustehen.

Das Floß, das Charlie, Kian und Tom am vereinbarten Treffpunkt abholte, bewegte sich langsam vorwärts. Es war ein warmer Tag, ohne Wind und die Strömung gab kaum einen Antrieb her.

Je näher sie dem Reich kamen, desto weiter dissoziierte Tom. Obwohl seine Augen offen waren und er aufrecht dasaß, schien sein Körper den Energiesparmodus eingelegt zu haben.

Sobald Charlie sich sicher war, dass Tom nichts mehr mitbekommen würde, wandte er sich an Kian.

„Ich werde allein mit Tom und deinen Eltern reden."

„Was? Wieso?", wollte der Prinz sofort wissen.

Charlie seufzte. „Benedict ist momentan leicht reizbar. Vor allem, wenn du in der Nähe bist..."

Kian stieß einen verbitterten Ton aus und verschränkte seine Arme. „Nur, weil er weiß, dass ich Recht hatte."

„Ihr hattet beide recht", musste Charlie widersprechen.

Er hatte gewusst, dass Kians blinder Gehorsam irgendwann ein Ende finden würde. Seine Hoffnung, der Prinz sei schlau genug, das nicht nach außen zu tragen, war sofort verpufft, als Kian Benedict gefragt hatte, warum er keine Entscheidungen treffen dürfe, wenn doch alles von ihm abhinge.

Diese Konfrontation war für Charlie Beweis genug, dass Kian noch lange nicht dazu bereit war, die Verantwortung, die er für sich beansprucht hatte, zu tragen.

„Findest du, ich werde wie er?" Bis Kian diese Frage gestellt hatte, musste sie ihm sicher schon tausend Gedanken durch den Kopf gegangen sein. Es war klar, welche Antwort er sich wünschte.

„Er will, dass du wie er wirst." Gleichzeitig hasste er ihre Gemeinsamkeiten. Benedict war ein einziges Paradoxon, selbst für Charlie, der beinahe tausend Jahre an seiner Seite verbracht hatte.

„Ich will nicht wie er werden", murmelte Kian sich selbst zu. Dabei blickte er runter, auf seine Hand und drehte an dem Ring herum, den er seit Monaten mit sich herumtrug.

Charlie kannte ihn nicht. Er wusste nicht, woher Kian ihn hatte. Aber er wusste, dass er Kian wichtig war. Immer, wenn er unsicher wurde, oder nervös oder ängstlich, dann tastete er seinen Ringfinger ab, solange, bis er das Metall erfasste. Sobald er ihn ein paar Mal gedreht hatte, wirkte er sehr viel ruhiger. Gestärkt.

„Dann solltest du keine Angst mehr haben, du zu sein."

Kian schaute auf, um Charlies Blick zweifelnd zu begegnen.

Charlie lächelte, als er den kleinen Jungen, den er früher unterrichtet hatte, in ihm wiedererkannte. Kian hatte Charlie zu jedem Thema endlos viele Fragen gestellt. Er hatte alles verstehen wollen. Das Wie, das Wer, das Warum... Er hatte Charlie dadurch an manchen Tagen in den Wahnsinn getrieben. Gleichzeitig hatte Charlie gewusst, dass Kian sich mit dieser Neugier und Wissbegierde zu einem großartigen Mann entwickeln würde. Und er fand, er hatte Recht behalten.

„Und was ist mit meinen Gefühlen? Die gehören auch zu mir."

„Die machen dich zu dir."

Noch vor einem Jahr hätte Charlies Antwort ganz anders geklungen. Er hatte auf Menschenblut verzichtet, um Distanz zu seinen Emotionen zu gewinnen. Und er hatte nie das Gefühl gehabt, ihm würde dadurch etwas fehlen. Im Gegenteil. Er war sich stärker, leistungsfähiger und ausdauernder vorgekommen.

Dass er kein Menschenblut trank, hatte sich nicht verändert. Sein Empfinden allerdings schon. Er wusste, nur Boris konnte der Grund dafür sein. Sein Gefährte. Und so sehr er sich anfangs auch dagegen gewehrt und ihn buchstäblich von sich gestoßen hatte, so sehr hatte er auch daraus gelernt. Er ließ es zu. Und er fühlte sich so lebendig wie nie zuvor.

„Ich soll sie also nicht unterdrücken?"

„Niemals." Charlie musterte Kian kurz und setzte sich neben ihn. Er zog die Beine an und legte die Arme locker darum. „Versuche lieber, mit deinen Gefühlen zu arbeiten, statt gegen sie. Lass sie zu und nimm alles, was sie die geben können."

„Und dann?"

„Und dann wirst du einen Antrieb haben, wenn du müde bist und eine Antwort, wenn du zweifelst. Du wirst etwas haben, auf das du vertrauen kannst. Etwas, das dir keiner nehmen kann. Selbst, wenn du alles verlierst."

Ethan empfing Charlie, Kian und Tom in der Eingangshalle. Tom war mit dem durchqueren des Schutzwalls wieder zu sich gekommen und war, wie Silas und Alica anfangs, nicht auf die Idee gekommen, Fragen zum Weg in das Reich zu stellen.

Kian begleitete die Gruppe bis zu den Toren des Thronsaals und versicherte sich durch einen Blick zu Charlie, dass er tatsächlich nicht mit reinkommen sollte. Dann nickte er und ging.

Tom schien kein Bisschen überrascht davon, dass Kian nicht an dem Gespräch mit dem König teilnehmen würde. Er wusste selbst, dass, was er zu sagen hatte, nicht für die Ohren des Prinzen bestimmt war.

Ethan öffnete die Türen und kündigte Charlie und Tom an, ehe er beide hinter sich eintreten ließ. Kurz danach verschwand er wortlos und Charlie und Tom standen dem Königspaar gegenüber.

Im Inneren des Saales waren keine Wachen platziert. Die vier waren unter sich.

Charlie deutete Tom durch ein Nicken an, ihm zu folgen. Tom schluckte schwer, tat es aber. Dabei befand er sich immer einen Schritt hinter Charlie und machte nicht den Anschein als würde er versuchen wollen, zu ihm aufzuschließen.

„Du hast gute Kontakte, Tom."

Charlie wusste sofort, dass Benedict Toms Reaktion auf die deutliche Ablehnung in seiner Stimme überprüfen wollte. Die vielen Jahrhunderte auf dem Thron hatten ihn berechnend gemacht. Manchmal erkannte Charlie seinen alten Freund kaum wieder.

„Ja", stimmte Tom zu. „Habe ich tatsächlich."

Er hielt den Blicken des Königs stand, etwas, das Charlie nicht von dem freundlichen Schülersprecher erwartet hatte. Nach dem Gespräch in Silas Esszimmer wusste Charlie jedoch, dass Tom sehr viel mehr war als das.

„Kian meinte, die hast eine wichtige Bitte an uns. Und ein Angebot."

Tom nickte. Er musste diese Unterhaltung bereits tausend Mal in seinem Kopf durchgespielt haben. Er schien so als sei er auf alles vorbereitet. Charlie wusste nicht, ob ihm das wirklich weiterhelfen würde.

„Ich möchte Euch Informationen anbieten. Im Gegenzug verlange ich nichts weiter als Schutz."

„Es kommt darauf an, welche Informationen du für uns hast, Tom." Wieder betonte Benedict seinen Namen auf ablehnende Art und Weise.

Charlie entging nicht wie genervt Victoria davon war. Sie erhob sich von ihrem Thron, lüpfte ihre lange Leinenhose etwas nach oben und schritt die Treppen herab.

Sie lief auf Tom zu und musterte ihn. Währenddessen wagte er keiner zu sprechen. Nicht, bis sie es tat.

„Du musst dich nicht fürchten. Hier bist du sicher." Sie lächelte ihn zuversichtlich an. Und Charlie stellte mal wieder fest, wie perfekt sich Benedict und Victoria ergänzten.

„Ich habe keine Angst um mich", antwortete Tom. „Ihr könnt mit mir machen, was Ihr wollt."

„Für wen verlangst du dann Schutz?", wollte Victoria wissen. Sie ging einmal um Charlie und Tom herum. In ihrem Blick ließ sich nicht erkennen, wonach sie suchte. Aber sie schien es gefunden zu haben.

„Für meine Freundin. Und unser ungeborenes Kind."

„Wie stellst du dir das vor?"

Tom räusperte sich. „Euer Reich ist der sicherste Ort auf dieser Welt. Ich bin bereit alles zu tun, damit Ihr sie hier aufnehmt."

Victoria nickte verstehend. Sie drehte sich, um zu ihrem Gefährten zu sehen.

Benedict saß da wie eine Statue, regungslos und eiskalt. Aber Victoria erkannte selbst darin eine Aussage.

„Vor wem braucht deine Freundin Schutz?", fragte sie dann weiter. „Und was hat sie getan, um in Gefahr zu schweben?"

Tom schüttelte sofort den Kopf. „Sie hat gar nichts getan, außer sich in mich zu verlieben. Ich bin es, der sie in Gefahr bringt." Er atmete tief durch. „Alvar wird die als Druckmittel sehen, sobald er mitbekommt, dass sie mein Kind in sich trägt. Außer Euch kann niemand sie vor ihm verteidigen."

Benedict rutschte auf seinem Thron zurück. Charlie war sich sicher, dass weder er noch Kian wussten, dass das eine ihrer Gemeinsamkeiten war. Sie taten das immer, wenn sie nach Erdung suchten. Nach Halt.

„Was hast du mit Alvar zu tun?"

Tom wechselte einen schnellen Blick mit Charlie. Darin versicherte der Vertraute des Königs ihm, dass er es aussprechen sollte. Ihm würde nichts passieren. Benedict tat zwar immer kaltherzig und gefährlich, aber er war nicht wie Alvar. Er war nicht bösartig.

„Ich arbeite für ihn. Ich sollte die Familie Jachan im Auge behalten."

Nun erhob sich Benedict. Bei ihm sah das nicht halb so elegant und kontrolliert aus wie Victoria. Nein, er sprang auf und trampelte die Treppen herab.

„Was weiß er über sie?"

„Nichts, das Ihr nicht auch wisst. Und mehr werde ich euch nicht sagen, ohne versichert zu bekommen, dass Ihr für Amelie und unser Kind sorgen werdet."

„Du stehst hier in meinem Palast und wagst es ernsthaft, mich zu erpressen?"

Bevor Benedict Tom erreichen konnte, stellte Victoria sich dazwischen. Benedict hätte sie um rempeln müssen, um an ihr vorbei zu kommen. Victoria tat so als hätte sie das nicht bemerkt und lächelte Tom beruhigend an.

„Lieber Tom, ich gebe dir mein Wort, dass wir deine Freundin und dein Kind schützen werden, wenn du uns erzählst, was du weißt."

Tom sah von Benedict zur Königin. „Kian hat gesagt, dass ich Euch vertrauen kann. Und ich vertraue ihm."

Danach blickte er zurück zum König und berichtete ihm, was er Charlie und Kian berichtet hatte. Diesmal ohne Filter und Lücken. Denn diesmal kannten alle Anwesenden die Wahrheit.

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