17

Silas

Am Tag nach unserer Matheprüfung hatte ich Boris angerufen und ihn gebeten, mich an Charlie weiterzureichen. Wie ich es Tom versichert hatte, hatte ich für einen Gesprächstermin zwischen ihm, Charlie und Kian gesorgt – zwei Wochen später, bei mir zuhause.

Ich hatte meine letzte Prüfung gerade beendet und schlendete auf den Hof. Von dort aus sah ich Tom auf der Treppe zu meiner Haustür sitzen.

Er nickte mir zu und fragte: „Kommst du aus der Schule?"

„Ich hatte grade meine letzte Prüfung", bestätigte ich.

„Und wie lief es?" Er folgte mir ins Haus und musterte mich interessiert.

„Ganz gut. Ich bin aber froh, dass es jetzt vorbei ist."

„Geht mir genauso." Er stellte seine Schuhe ordentlich neben meine und trabte mir weiter nach. Diesmal in die Küche.

„Ich war total nervös, deshalb konnte ich es nicht abwarten, herzukommen. Wenn du willst, setze ich mich ruhig in eine Ecke und tue so als wäre ich nicht da."

„Ach, rede keinen Schwachsinn." Ich winkte ab.

Er war schon angespannt genug, auch ohne, dass ich ihm vorhielt, mich mit seinem Timing überrascht zu haben.

Ich bot ihm etwas zu essen und zu trinken an und unterhielt mich mit ihm über unsere Prüfungen und weitere Schritte. Bis zu unserer Abschlussfeier waren wir in den Komitees verplant, um den Ball vorzubereiten. Danach, sagte Tom, wisse er jedoch noch nicht, wie es für ihn weitergehen solle.

„Was ist mit deiner Sportuniversität?"

Er schüttelte den Kopf. „Damit kann ich jetzt nichts anfangen. Vielleicht in ein paar Jahren, wenn alles etwas... entspannter ist."

Ich wollte schon seit Wochen erfahren, was hinter seiner Bitte steckte. Heute war es endlich so weit, glaubte ich.

Dass ich Kian sehen würde, versuchte ich noch zu verdrängen. Ich hatte keinen Grund, deshalb aufgeregt zu sein. Kian war schließlich nicht meinetwegen hier. Vermutlich würde er mich nicht ansehen oder mit mir reden, sowie davor auch.

Wenigstens waren wir diesmal in meinem Zuhause und ich konnte ihn rausschmeißen, wann immer es mir passte.

„Was hast du mit deinem Leben vor?", hakte Tom nach, während er den Apfel annahm, um den er gebeten hatte, und herzhaft hineinbiss.

„Ich werde Soldat."

Er hielt mitten in der Kaubewegung inne und schaute mich aus großen Augen an. Das Stück, das er kaum zerkleinert hatte, schluckte er gequält herunter.

„Wir haben keine Wehrpflicht mehr."

„Ich habe meine eigenen Verpflichtungen." Ich verschränkte die Arme und versuchte, ihm durch meinen Blick klarzumachen, dass das nichts war, worüber ich mit mir diskutieren ließ.

Mir war klar, dass ich nicht in das Bild eines Soldaten passte. Vor einem Jahr hätte ich jeden, der mir gesagt hätte, dass ich diesen Weg freiwillig gehen würde, für verrückt erklärt. Nun konnte mich nichts davon abbringen. Meine Zukunft stand fest.

„Du machst das aber nicht, weil dein Vater Soldat war?" Er ließ mir gar keine Zeit zu antworten. „Weil, wenn ja, dann ist das total hirnverbrannt. Du siehst doch, wie schwer es gerade ist, den Frieden aufrecht zu erhalten. Kaum jemand erkennt die neue Verfassung an und niemand erklärt sich bereit für weitere Schritte zur Integration. Der Krieg kann genauso schnell wiederkommen, wie er aufgehört hat."

„Deswegen will ich vorbereitet sein. Mich verteidigen können. Und alles, was mir lieb ist."

„Oh nein." Tom schüttelte wild den Kopf. Er packte mich an den Schultern und schüttelte mich durch. „So läuft das in der Realität nicht, Silas! Du wirst sowieso nichts mehr haben, das dir lieb und teuer ist, wenn die mit ihrer Gehirnwäsche mal fertig sind. Die machen dich zu ihrem Tötungsinstrument und-"

„Woher willst du das denn wissen?"

Erst in diesem Moment fiel mir auf, wie wenig ich eigentlich über Tom wusste. Er war in der neunten Klasse auf unsere Schule gewechselt. Warum, hatte nie jemand gesagt. Auch woher er gekommen war, war nie ein Thema gewesen. Es hatte niemanden interessiert.

Ich schob seine Arme von mir. Wir hielten Blickkontakt.

Tom schien nicht so, als würde er beabsichtigen, auf meine Frage zu antworten. Ich hatte vor, ihn solange auffordernd anzusehen, bis er nachgab. Dieser Plan hätte perfekt aufgehen können. Wäre da nicht die Türklingel gewesen, die nach meiner Aufmerksamkeit verlangte.

Ich will nicht sagen, ich hätte versucht, Kian, Charlie und Tom bei ihrem Gespräch zu belauschen, aber es kann tatsächlich sein, dass ich sehr nah an der Tür gestanden war und mein Ohr dagegen gepresst hatte.

Sie saßen im Esszimmer am Tisch und besprachen, was auch immer sie zu besprechen hatten und ich stand im Flur und wartete darauf, dass sie mich reinließen.

Sie konnten nicht ernsthaft von mir verlangen, mich damit zufrieden zu geben, dass sie in meinem Haus ein geheimes Treffen veranstalteten und mich weder daran teilhaben ließen noch mich über den Inhalt aufklärten. Ich war, allein körperlich, nicht in der Lage, so viel Verständnis aufzubringen. Dazu stand ich viel zu sehr unter Spannung, schon seit Monaten.

Nachdem ich frustriert festgestellt hatte, dass ich durch die Tür nichts erfahren konnte, war ich eine halbe Ewigkeit davor hin und her gelaufen. Ich schaffte es nicht, still zu stehen oder mich mit irgendetwas anderem zu beschäftigen als damit, was in diesem Raum vor sich ging.

Irgendwann, die Uhr auf meinem Handy versuchte mir weißzumachen, es sei nur eine halbe Stunde gewesen, schob sich der Riegel aus dem Schloss der Tür und Charlie öffnete sie mir.

Ich sah erwartungsvoll zu ihm hoch, aber er setzte nicht an, etwas zu sagen. Also schob ich mich an ihm vorbei und ging zu Tom und Kian.

Kian saß Tom gegenüber und tippte energisch auf seinem Handy herum. Tom hatte den Blick auf dem Tisch zwischen ihnen und kratzte mit dem Daumennagel die oberste Lackschicht ab.

„Kann mich jetzt auch endlich jemand einweihen?"

„Das hat mit dir nichts zu tun." Kian machte sich nicht einmal die Mühe aufzusehen, bevor er sprach. Er schlug weiter fanatisch mit den Daumen auf seinen Bildschirm ein.

Ich öffnete gerade den Mund, um ihn zu antworten, da sprang er auf, nahm einen Anruf entgegen und stürmte auf den Flur.

Ich schnaubte und wandte mich an Tom. „Ich sterbe gleich vor Neugier."

Sein Mund schmunzelte und ich war mir sicher, er wollte belustigt wirken. Aber das schaffte er nicht. Er sah erschöpft aus. „Kian hat schon Recht. Es hat mit dir nichts zu tun."

„Außer, dass ihr das in meinem Esszimmer besprochen habt?"

„Wofür ich dir unendlich dankbar bin."

Ich blickte in seinen Augen hin und her und mir war klar, dass er nicht mehr dazu sagen würde. Kian konnte ich ohnehin vergessen und Charlie redete prinzipiell nicht, wenn er nicht gerade jemandem das Leben retten oder ihn belehren musste. Ich war also gezwungen, mich mit meiner Unwissenheit abzufinden. Fürs erste.

„So sind wir zumindest quitt", seufzte ich und ließ mich neben Tom nieder.

Er zog die Augenbrauen zusammen und legte fragend den Kopf schief. „Wie quitt? Wofür solltest du in meiner Schuld stehen?"

Kurz war ich ebenso verwirrt wie er. Ich wusste nicht, ob er den noblen Samariter geben wollte, der keinen Dank annahm, oder ob er vergessen hatte, was er für mich getan hatte.

„Für alles, was du für mich getan hast", erklärte ich. „Du warst immer nett zu mir. Du hast oft versucht, die Leute in der Schule davon abzuhalten, auf mir rumzuhacken, du hast mich betrunken nachhause gefahren, mir immer geholfen, wenn ich dich um etwas gebeten habe und auch, wenn ich dich nicht gebeten habe."

Ich war bereit, noch vieles mehr aufzuzählen. Noch wusste ich nicht, ob ich Liste ein Ende haben würde. Wie Tom abwehrend die Hand hob, hielt mich davon ab, es herauszufinden.

„Dafür bist du mir zu nichts verpflichtet. Das war selbstverständlich."

Ich schüttelte den Kopf. Vielleicht war er doch ein nobler Samariter. „Nicht jeder würde das so sehen."

„Du würdest dasselbe für mich tun."

Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Ich wusste ja nicht einmal, ob das stimmte. Aber es konnte mir nur zuträglich sein, ihn in dem Glauben zu lassen.

Charlie war Kian zwischenzeitlich gefolgt und hatte sich hörbar, leider aber nicht verständlich mit Kian unterhalten. Nun teilte er Tom mit, dass sie losmussten.

Tom nickte. Noch während er sich erhob, zog er mich in seine Arme und drückte mich fest. „Ganz egal, wie das Ganze noch ausgeht, ich werde dir nie vergessen, was du getan hast."

Er schob mich wieder von sich und nahm mein Gesicht in die Hände. Sie waren kalt und seine Handflächen feucht. Er zitterte. Ihn lächeln zu sehen, besorgte mich sehr viel mehr als dass es mich beruhigte.

„Verdammt, Tom." Ich drückte ihn an der Brust von mir weg. „Hör auf so zu tun als würden wir uns nie wiedersehen."

Er lächelte bloß und ging an mir vorbei.

Ich drehte mich um, um ihm zu folgen, erstarrte aber, als ich Kians verhärteten Gesichtsausdruck sah. Tom wollte an ihm vorbei, aber Kian bewegte sich kein Stück und starrte mich an, so als könne er meine gesamte Existenz durch seinen Blick beenden.

„Pass auf, dass du dich nicht an diese Fratze gewöhnst. Wäre schade um dein hübsches Gesicht."

Kian kniff die Augen zusammen und ich schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln.

Dann schnaubte er, ging einen Schritt zur Seite und entließ Tom in den Flur. Charlie folgte ihm und Kian warf mir einen letzten Blick zu, bevor er ebenfalls verschwand.

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