15

Silas

Im Grunde konnte es mir egal sein, wie ich die Schule abschloss. Die einzige Prüfung, die ich bestehen musste, war die der ADGD. Dennoch wollte ich, nachdem ich 12 Jahre in der Schule gesessen war, auch ein Endzeugnis vorweisen können. Am besten so, dass Boris sich nicht darüber lustig machen konnte, weil er so viel besser abgeschnitten hatte als ich.

Mit jeder Prüfung, die ich hinter mich brachte, fiel mehr Druck von mir ab. Ich hatte ein gutes Gefühl und beschloss daher für mein letztes Fach nicht ganz so viel zu büffeln. Stattdessen saß ich am Abend vor der Prüfung auf dem Sofa und schaute Fern. Gleichzeitig hatte ich ein Buch auf dem Schoß liegen und spielte an meinem Handy.

Bis auf den Fernseher war es still um mich herum. Ich hörte das Klicken der Tür, als ein Schlüssel darin umgedreht wurde ohne Probleme und eilte in den Flur.

Alica wischte sich die Schuhe am Teppich ab.

„Hei, was machst du hier?", fragte ich sie überrascht.

Sie zog die Augenbrauen hoch. Mir hatte man deutlich angehört, dass ich mich darüber freute sie zu sehen. Ihr ging es bei mir nicht so. „Ich wohne hier."

„Ja, schon..."

Sie ging an mir vorbei, lief den Flur entlang und machte sich auf den Weg in den Keller.

„Ich habe noch Brokkoli übrig!", rief ich ihr hinterher.

Ich hatte mal wieder viel zu viel zu essen gemacht und würde mich tagelang nur noch davon ernähren müssen.

Alica liebte Brokkoli. Ich hoffte, sie würde das Angebot annehmen und sich ein wenig mit mir hinsetzen.

Da ich mir nicht sicher war, ob sie mich gehört hatte, folgte ich ihr in den Keller. Ich hörte ein Poltern, einen leisen Fluch und wusste sofort, in welche Richtung ich musste.

„Cousinchen? Ich habe noch Brokko-woah."

Hingegen meiner Vermutung, wühlte sie nicht in Boris' Robotern rum. Der ohnehin schon große Raum hatte durch das Einreißen der rechten Wand eine neue Dimension erhalten. Früher waren rechts von der Tür eine Reihe voll Regale gestanden, nun befand sich doch ein weiteres Zimmer.

Ich schlüpfte durch das ovale Loch und sah mich mit großen Augen in dem Raum dahinter um.

Alica wühlte in einer Kiste, sodass es schepperte und krachte. In der Mitte stand ein großer Tisch aus dunklem Stein. Eine Schreibmaschine befand sich darauf, neben einer kleinen Laterne. Darum herum lagen verschiedene beschriebene Papiere und aufgeschlagene Bücher. Die Sprache der Schrift konnte ich nicht entziffern.

Es war kalt. Und dunkel. Das kleine Fenster knapp unter der Decke reichte bei weitem nicht aus, um den Raum komplett zu beleuchten. Vor allem, weil der riesige Schrank davor die meisten Sonnenstrahlen verschluckte.

„Was zum Teufel ist das alles?", hauchte ich überwältigt, während ich das Emblem an der Wand fixierte. Wirklich etwas darauf erkennen konnte ich nicht.

„Unser Erbe."

Alica warf mir einen kurzen, neutralen Blick zu und widmete sich wieder ihrer Kiste. Sie war nicht halb so schockiert wie ich. Sie war hier nicht reingestolpert und hatte sich stauend umgesehen. Nein, sie war hierhergekommen und suchte nach etwas. Sie hatte davon gewusst.

Auf der Suche nach einer Erklärung öffnete ich den imposanten Schrank neben mir. Ich hatte so etwas wie Fotoalmen oder Videokassetten erwartet. Vielleicht sogar die Schriften, von denen meine Oma so viel redete. Nicht aber, dass mir eine Axt daraus entgegenkommen würde.

Alica riss mich zurück, bevor ich auch nur daran denken konnte zu reagieren.

„Mann, kannst du nicht aufpassen?!", schnauzte sie, während die Klinge am Boden abprallte, dort, wo zuvor mein Fuß gestanden hatte.

„Konnte ich doch nicht wissen, dass das Teil rausfliegt."

Sie schnaubte und hob die Axt auf, um sie zu den anderen Waffen, Schwertern und Dolchen zu räumen.

„Du fasst hier nichts mehr an, kapiert? Bevor du volljährig bist, darfst du eigentlich nicht mal hier drin sein."

Ich verdrehte die Augen. „Jetzt tu mal nicht so auf erwachsen. Erklär mir lieber was es mit dem ganzen Scheiß auf sich hat. Wie lange weißt du schon davon?"

„Eine Weile." Sie drehte den Schlüssel im Schloss des Schranks und steckte ihn sich danach ins Dekolleté. „Damit du nicht auf dumme Ideen kommst."

Ich verzog das Gesicht. „Keine Sorge, daran will ich nicht mal denken." Der arme Schlüssel. „Hat Oma den Raum einmauern lassen, damit wir nicht davon erfahren?"

Sie ging um mich herum und räumte die Kiste in das Eck, aus der sie sie gezogen hatte. „Nein, das war Opa. Er hat sein Jägerdasein an den Nagel gehängt und Oma wollte damit auch nichts zu tun haben."

„Hat sie dir das erzählt?" Ich konnte es nicht fassen. Ich bettelte meine Oma an, um auch nur das kleinste Stückchen Information zu bekommen und Alica servierte sie alles auf dem Silbertablett. „Das ist so unfair."

Ich folgte Alica auf Schritt und Tritt. Diesmal die Treppen nach oben.

„Ich bin halt ihr Liebling", meinte sie bloß.

Und tatsächlich musste ich ihr zustimmen. Nach all den Jahren voller Diskussionen darum, wen Oma an meisten mochte, war das war der beste Beweis dafür, dass Alica unangefochten auf Platz eins stand. Ihr hatte sie alles offenbart. Ihr hatte sie vertraut. Mir gegenüber tat sie meistens noch immer so als sei alles beim Alten.

„Okay, jetzt warte mal bitte." Im Flur schloss ich durch ein paar Schnelle Schritte zu meiner Cousine auf, um mich vor sie zu stellen und ihr dadurch den Weg zu versperren. Ich würde nicht zulassen, dass sie jetzt einfach wieder verschwand, ohne mich überhaupt richtig angesehen zu haben.

„Was ist?", wollte sie genervt wissen. Ihr Blick sprang zwischen der Tür und mir hin und her.

„Warum gehst du mir aus dem Weg?"

Sie verdrehte die Augen. „Tue ich nicht. Ich habe es nur eilig."

„Nein, du gehst mir aus dem Weg. Schon seit Monaten. Am Anfang dachte ich, du musst erstmal alles sacken lassen und kommst dann schon auf mich zu, aber langsam glaube ich, du willst am liebsten gar nichts mehr mit mir zu tun haben. Was hab ich dir denn getan? Wie kann ich es wieder gut machen?"

Sie musterte mich lange, ohne zu einer Antwort anzusetzen. Ich sah sie in dieser Zeit flehend an und hoffte, sie würde endlich mit der Sprache rausrücken. Viel mehr als sie bitten mit mir zu reden, konnte ich nicht tun.

„Was interessiert es dich überhaupt?", wollte sie schließlich wissen. „Du gehst doch bald eh weg."

„Das heißt aber nicht, dass ich dich verlieren will."

Sie presste die Lippen aufeinander.

„Alica, du, Boris und Oma... Ihr seid das wichtigste für mich. Das ändert sich nicht, egal wo ich bin oder was ich mache."

„Du und Boris", schnaubte sie.

„Was ist mit uns?" Ich sah sie eindringlich an, im Versuch, ihrem Blick mit meinem aufzufangen. Es klappte.

„Ihr seid scheiß Lügner, okay?! Ich dachte die letzten zwei Jahre über, du hättest eine Sozialphobie entwickelt oder so, ich habe recherchiert, wie man dir helfen kann und ich habe mir Sorgen gemacht und versucht, für dich da zu sein. Aber nein, du hörst Gedanken. Und Boris? Der hat Schlafprobleme, die in Wahrheit Visionen von der Zukunft sind, die ihn so sehr belasten, dass er sich jahrelang mit allem möglichen Zeugs vollballert und dadurch fast umbringt. Und das nur, weil ihr eure großen Klappen nicht aufbekommen habt. Also komm mir nicht jetzt nicht mit Familie. Wenn ich dir wichtig wäre, hättest du mir erzählt, was abgeht."

Ich schluckte hart und nickte. Aber sie war noch nicht fertig.

„Ich bin so sauer. Und ich habe verdammt nochmal Angst." Sie presste die Lippen zusammen, ihr Blick fiel herab und sie schüttelte leicht den Kopf.

„Wovor hast du Angst?", hauchte ich leise. Ich stellte mich näher zu ihr, um sie in den Arm zu nehmen und stellte erleichtert fest, dass sie meine Nähe zuließ.

Sie wollte nicht Antworten. Und das war okay. Ich konnte auch für sie da sein, ohne zu wissen, was in ihr vor sich ging. Solange sie es nur zuließ.

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