14
Kian
An dem Tag, als Silas das Reich verließ, saß ich lange auf meinem Fensterbrett und starrte in den Horizont. Der Himmel sah ungewöhnlich trüb aus für den Frühling, aber strahlenden Sonnenschein hätte ich nach den vergangenen Stunden ohnehin nicht ertragen.
Ich dachte ständig darüber nach, was mein Vater gesagt hatte. Ich kann dir nicht vertrauen. Wenn du nicht der Mann wirst, der du sein sollst, wirst du uns nichts als Verderben bringen.
Egal, wo ich hinging und egal was ich tat. Er stand ständig hinter mir und flüsterte mir Wiederholungen unseres Gespräches zu. Sogar, wenn ich nachts in meinem Bett lag und mich schlaflos hin und her wälzte, hörte ich seine Stimme.
„Oh, mein Schatz. Du kommst ja fertig daher", stieß meine Mutter aus, als ich ihr früh morgens einen Besuch abstattete.
Ich hatte genau die Zeit abgepasst, zu der mein Vater bereits irgendwelche Königssachen machte, meine Mutter jedoch noch in ihren Räumen anzutreffen war.
„Na komm mal her." Sie legte ihre Haarbürste auf den Tisch, den sie extra in ihrem Schlafzimmer vor das Fenster gegenüber der Tür stellen lassen hatte, weil das Licht dort morgens am besten war. So konnte sie sich im Tageslicht schminken und ein wenig Sonne tanken.
Sie breitete die Arme aus und legte sie um mich. Meine Augen fielen zu, ich ließ mich von ihr drücken und lehnte mich an sie. Mein Gesicht verschwand in ihren dunkelblonden Wellen und ich nahm den mir vertrauten Duft nach Kokos und Rosenwasser aus ihnen wahr.
„Danke", murmelte ich an ihre Schulter.
„Möchtest du mir erzählen, was los ist? Oder sollen wir über etwas anderes reden? Oder einfach ein bisschen zusammen sein?"
„Eine Mischung aus den letzten beiden wäre schön." Ich richtete mich auf, als mein Rücken zu schmerzen begann und begegnete ihrem sanften Lächeln.
„Na schön. Austin kommt gegen Mittag hier vorbei, aber davor könnten wir spazieren gehen, wenn du willst."
„Das klingt gut."
Sie drehte sich wieder ihrem Schminktisch zu und meinte, ich solle irgendwo platznehmen, während sie sich fertigmachte.
„Du brauchst doch das ganze Zeug gar nicht, Mama. Du siehst schön aus, wie du bist."
Sie lächelte. „Das ist lieb von dir. Ich schminke mich aber weniger wegen des Aussehens, sondern, weil es mich entspannt. Das ist für mich einfach ein schöner, ruhiger Start in den Tag. Kannst du ja auch mal versuchen."
Sie deutete in einer einladenden Geste auf ihre Utensilien. Da ich noch hinter ihr stand, hatte ich einen guten Blick darauf. Von den meisten kannte ich weder Name, noch Zweck oder Anwendung.
Ich stellte einen kleinen Hocker neben sie, setzte mich darauf und fragte, ob ich zusehen dürfe. Auf ihr Angebot ging ich allerdings nicht ein.
„Natürlich, mein Schatz." Sie legte ihre Hand auf meine Wange und streichelte mit dem Daumen darüber. „Ich liebe dich, weißt du das eigentlich?"
Mit einem weiten Lächeln nickte ich. „Ich dich auch."
„Dann ist ja gut." Sie gab mir ein paar Klapser auf die Stelle, die sie eben noch gestrichen hatte und griff dann zu einer blauen Dose.
„Ich fange immer mit einer Feuchtigkeitscreme an. Die benutzt dein Vater auch. Vor etwa 60 Jahren wurde die Herstellung seiner Lieblingscreme eingestellt. Er ist durchgedreht."
So sorglos wie meine Mutter das erzählte, klang es nicht halb so schlimm wie das, was ich mir darunter vorstellte, wenn mein Vater durchdrehte. Sie tat so als sei das amüsant gewesen.
„Mit der hier ist er ganz zufrieden. Du glaubst gar nicht, wie viel er wegen dieser doofen Creme gejammert hat." Sie schüttelte den Kopf, drehte die Dose auf und holte sich einen kleinen Kleks raus, ehe sie sie mir hinhielt. „Versuch mal. Die riecht angenehm. Und sie zieht schnell ein. Das war Benedict sehr wichtig. Damit bloß keiner darauf kommt, dass er Wert auf Hautpflege legt."
„Bei seinem Alter muss er das doch."
Ich tippte ebenfalls in das weiße Fett und schmierte es mir ins Gesicht. Meine Mutter massierte die Creme in kreisenden Bewegungen ein und ich machte ihr bestmöglich nach.
Sie lachte über meine Aussage. „Da hast du Recht. Bei seinem Alter sollte er aber auch wissen, wie er sich deinem Sohn gegenüber zu verhalten hat."
Ich stockte mitten in der Bewegung und blickte meine Mutter durch den Spiegel an.
Sie seufzte. „Dein Vater ist ein sehr komplizierter Mann. Ich habe Jahrhunderte gebraucht, um ihn zu durchschauen. Manchmal durchschaut er sich ja selbst nicht", erzählte sie. „Was ich damit sagen will: Er ist nicht perfekt. Und du musst es auch nicht sein."
Sie setzte, für mich wahllos, beige Punkte in ihr Gesicht und unter ihre Augen. „Das deckt Unreinheiten ab. Wir haben davon deutlich weniger als Menschen, weil ihr Hautbild viel von der Ernährung abhängen kann, aber dafür sind wir anfälliger für trockene Haut und die daraus resultierenden Pickel."
„Ich habe keine Pickel", stellte ich fest, als ich mein Gesicht in meiner Reflexion abscannte.
Meine Mutter war nach ihrem kleinen Appell nahtlos zu unserem vorigen Thema übergegangen. Ich sprang darauf an.
Was sie gesagt hatte, stand ohne großes Aber oder Warum für sich selbst. Sie wusste selbst, wie dringend ich es hatte hören müssen und genauso, dass ich aus diesem Grund zu ihr gekommen war.
Meine Mutter konnte mich immer aufheitern. Was sie gesagt hatte, nahm mir nicht nur für den Moment die Anspannung, sondern würde noch lange nachwirken und mir helfen, immer, wenn ich meinem Vater gegenüberstand.
„Du bist ein besonderes Exemplar", schmunzelte sie. „Du hattest nie welche und ich vermute, du wirst auch keine mehr kriegen. Sei froh darüber."
„Silas hat mal gesagt, er beneidet mich deshalb total."
„Ehrlich?" Sie klopfte die Punkte mit dem Finger ein und nahm sich eine etwas größere Flasche mit einem dunkleren Beigeton. „Das schmiere ich mir jetzt auf mein gesamtes Gesicht, damit alles ein bisschen ebener aussieht. Und dann arbeite ich es mit diesem angefeuchteten Schwamm ein. Es macht richtig Spaß dabei zuzusehen, wie das dann alles Form annimmt. Pass gut auf."
Ihre Begeisterung ging auf mich über, als ich erkannte, was sie meinte. Dennoch blieb ich mit den Gedanken bei unserem Thema. Bei meinem Thema. Silas.
„Ja. Er hat mich gefragt, ob ich wenigstens früher Akne hatte und meinte, er hätte sehr drunter gelitten, dass es bei ihm eine Zeit lang sehr schlimm war."
„Oh, der arme. Sowas kann sehr am Selbstbild eines jungen Menschen nagen."
„Weißt du noch wie bei dir es war, als du menschlich warst?"
Sie schüttelte den Kopf, lehnte sich etwas zurück und betrachtete ihr Werk im Spiegel. „Was meinst du, passt das so?"
„Sieht gut aus."
„Okay, dann der nächste Schritt. Na wo haben wir es denn?"
„Was suchst du?" Ich beugte mich über den Tisch, um besser in ihre Kisten und Schubladen sehen zu können. So als hätte ich auch nur die geringste Ahnung, was ich da vor mir hatte.
„Ein transparentes Puder... Ach da ist es ja."
Bevor sie es aufdrehte, musterte sie mich mit zu Schlitzen verengten Augen. „Nein, Make-up brauchst du auch nicht. Du bist wirklich eine Naturschönheit, das habe ich gut hinbekommen."
Ich grinste über ihr Eigenlob und versuchte, mir nicht zu viel auf ihr Kompliment einzubilden. Sie war meine Mutter, sie musste mich doch schön finden.
„Ich habe überlegt, meine Haare wachsen zu lassen. Bei Silas sieht das-" Ich stockte.
Meine Mutter beobachtete mich durch den Spiegel und begann das Puder unter ihren Augen zu verteilen. „Seine Frisur steht ihm gut. Aber deine Haare dürfen wegen der Hofetikette nicht viel länger sein als was du gerade auf dem Kopf hast."
„Charlie hat längere Haare als ich."
„Charlie ist kein Prinz."
Meine aufrechte Haltung bekam einen kleinen Knicks. „Manchmal wünschte ich mir, ich wäre auch kein Prinz."
Dass ich es tatsächlich gewagt hatte, diesen Gedanken auszusprechen, so genuschelt es auch war, merkte ich zunächst nicht. Ich spielte an den Pinseln vor mir herum und überprüfte, wie sich ihre Haare auf meiner Haut anfühlten. Dabei stellte sich fest, dass sich einige davon sehr gut zum Malen eignen würden.
„Kennst du die Geschichte des Goldenen Prinzen?"
„Noch nie gehört."
Meine Mutter schlug mir auf die Hand und machte mir klar, dass ich ihre Pinsel nicht angrabschen sollte, wenn ich nicht vorhatte, sie danach ordentlich zu reinigen, nahm sich dann den größten davon und wischte damit in ihrem Gesicht herum.
Ich klemmte meine Hände in meinem Schoß ein, um nicht in Versuchung zu kommen, beobachtete sie weiter beim Schminken und lauschte ihrer Erzählung.
„Es geht um ein Königreich, dem, schon bevor es überhaupt existiert hat, ein mächtiger Prinz vorhergesagt wurde. Dieser Prinz, so hieß es damals, würde ein Herz aus Gold besitzen. Er würde pures Licht in sich tragen und der Welt den Frieden bringen.
Als die Königin schwanger war, feierte das gesamte Reich und erwartete die Ankunft des Prinzen vorfreudig. Ihr Bauch wuchs schnell, und sie brachte zwei wunderschöne Jungen zur Welt. Sie hatte geglaubt, den goldenen Prinzen sofort identifizieren zu können, aber sie blickte auf zwei ganz normale Babys. Diese Babys wuchsen. Sie wurden zu Kindern, zu Jugendlichen und zu Erwachsenen.
Der ältere, William, wünschte sich nichts mehr als der Goldene Prinz zu sein. Er wollte seinen Vater mit Stolz erfüllen und arbeitete, seit er denken konnte, hart für diesen Traum.
Der jüngere, Eric, hat sich nie für den Thron interessiert. Er hat sich selbst in der Natur gefunden, jeden Tag draußen verbracht und mit den Jahren gelernt, dass er sich nicht nur eins mit ihr fühlte, sondern es auch tatsächlich werden konnte. Er hatte eine bemerkenswerte Kraft. Es reichte eine Berührung, ein Strich über das Fell eines Tieres und er konnte seine Gestalt annehmen.
Lange behielt er dieses Geheimnis für sich. Wenn es ihm im Palst zu viel wurde, dann verschwand er im Wald und lebte ein anderes Leben.
Eines Tages, als er in Gestalt eines Hirschs angegriffen wurde, wurde sein Geheimnis gelüftet. Am nächsten Morgen erklärte der König ihn zum Goldenen Prinzen.
Es konnte nicht anders sein. Eric war besonders. William nicht.
Der Ältere tobte. Sein Leben lang war er der Überzeugung gewesen, er würde letztendlich für seine Mühen belohnt und zum Kronprinzen erklärt werden. Er hat seinen Bruder für einen verantwortungslosen Träumer gehalten und verstand nicht, wie dieser ihm den Platz streitig machen konnte.
Eric versuchte lange, seinen Vater davon zu überzeugen, dass er nicht der richtige war, um ihm auf den Thron zu folgen. Der König, jedoch, war die Zeiten des Krieges leid. Für ihn zähle nur, dass die Legende endlich erfüllt werden konnte und die Kämpfe ein Ende finden würden.
Eric versuchte also sein Bestes, um in eine Form zu passen, die angeblich für ihn bestimmt war. Dabei kam es ihm so vor als könne er sich weder in sie hineinquetschen, noch sie annähernd ausfüllen.
Nach Jahren des Versuchens und Scheiterns, lernte er eine Frau kennen. Er verliebte sich in sie, wusste aber, dass ihre Liebe in seinem Leben keinen Platz finden würde. Also vereinbarten sie, gemeinsam zu verschwinden.
In der Nacht ihrer Flucht schien alles ganz normal zu sein. Sie trafen sich wie immer an ihrem geheimen Ort und wanderten durch die Wälder. Diesmal wollten sie aber über die Grenzen des Bekannten hinausgehen. Im Ungewissen verschwinden und nie mehr zurückkommen.
William hatte schon lange von ihrer Affäre gewusst. Er hatte selbst ein Auge auf Erics Geliebte, Anouk, geworfen und konnte nicht akzeptieren, dass Eric alles bekam, was er sich wünschte, und es wagte, sich nur das Beste auszusuchen und ihm als zweite Wahl den Rest zu überlassen.
Es kam zu einem Kampf. William und Eric schlugen aufeinander ein und Anouk versuchte sie voneinander zu trennen. Am Morgen lagen sie alle drei tot da."
„War Eric der goldene Prinz?", wollte ich sofort wissen. Die Geschichte konnte unmöglich so enden.
Meine Mutter zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Es ist ja nur eine Geschichte."
„Eine ziemlich dramatische Geschichte."
„Also gefällt sie dir nicht?"
Ich schüttelte sofort den Kopf. „Bist du verrückt? Ohne ein glückliches Ende kann ich niemals damit abschließen. Das wird jetzt für immer in meinem Kopf rumspuken."
„Du kannst dir ein anderes Ende überlegen", schlug sie vor. „Dann musst du aber auch die Geschichte ein bisschen abändern."
„Mh." Ich überlegte. Es fiel mir nicht schwer, mich in Erics Lage hineinzuversetzen. Ich ging einen ähnlichen Weg ging wie er. Ich wusste, dass es zumindest in der Theorie, die Möglichkeit gab, eine andere Richtung einzuschlagen. „Eric hätte versuchen können, darum zu kämpfen, dass seine Liebe anerkannt wird und William den Thron einfach überlassen."
„Warum glaubst du hat er das nicht gemacht?"
„Angst", sagte ich sofort. Da musste ich nicht lange überlegen. „Vielleicht hatte er auch ein schlechtes Gewissen, weil so viele Leute auf ihn gebaut haben und er nicht der war, den sie erwartet oder gebraucht haben."
Meine Mutter schloss die Augen, legte den Kopf zurück und sprühte sich etwas auf das Gesicht. Danach lächelte sie mich zufrieden an. „Bist du bereit für einen Spaziergang?"
„Was hältst du denn von der Geschichte?", wollte ich von ihr wissen.
„Ich finde sie sehr traurig. Aber man kann viel daraus mitnehmen und das sollte man auch. Sonst endet man vielleicht genauso."
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