13
Silas
Bevor ich zu meiner Oma gezogen war, hatte ich mit meinem Vater in einem kleinen Apartment in der Innenstadt gewohnt. Er hatte diese Wohnung geliebt, und all die Erinnerungen, die er daran hatte.
Auf dem Sofa aus rotem Samt hatten er und meine Mutter sich das erste Mal geküsst. An der Wand dahinter hingen hunderte von Bildern von ihnen. Auf dem langen Balkon, der aufgrund der vielen Pflanzen, eher einem Dschungel glich, hatte meine Mutter um die Hand meines Vaters angehalten. Sie hatten das Kinderzimmer gemeinsam in einem fröhlichen Gelbton gestrichen und primär weiß eingerichtet. Einige der Möbelstücke hatte meine Mutter selbst gemacht.
Die Badewanne war ein Ort großer Freude und Traurigkeit für meinen Vater gewesen. Dort war ich geboren und meine Mutter gestorben. Dort hatte er mich als Baby im Arm gehalten und versprochen, dass er mich immer beschützen würde.
Meine Oma hatte mir das erzählt. Sie war dabei gewesen, hatte die Geburt begleitet und bereits bevor ich auf der Welt gewesen war, gewusst, dass meine Mutter sie nicht überleben würde. Sie hatte viel Blut verloren und war schnell so schwach geworden, dass sie es kaum geschafft hatte, ihren Wehen entgegenzupressen.
Während meine Oma mich gewaschen und in ein Handtuch gewickelt hatte, hatte mein Vater meiner Mutter gutzugeredet, über ihre nassgeschwitzten Haare gestrichen und ständig wiederholt, wie sehr er sie liebte.
Meine Mutter hatte ihn angelächelt, als sie starb. Oma hatte gesagt, selbst, als sie später im Sarg gelegen hatte, hätte man noch gesehen, dass sie in ihren letzten Momenten glücklich gewesen war.
Ich war ewig nicht mehr in der Wohnung gewesen. Manchmal vergaß ich, dass es sie überhaupt gab. Das Haus meiner Großeltern war mein Zuhause. Der Ort, an dem ich mich zurückziehen wollte, wenn ich traurig war. Der Ort, an dem ich mich ins Bett fallen ließ und mich angekommen fühlte.
Alleine dort zu sein wurde schnell zur Gewohnheit. Niemand empfing mich am Küchentisch, niemand blockierte die Bäder und niemand platzte ungefragt in mein Zimmer. Niemand war da.
Oft, nachdem ich mir etwas zu essen bestellt hatte, und realisierte, dass ich alleine diese Mengen nicht verschlingen konnte, stellte ich mir vor, Alica, Boris und meine Oma würden bei mir sitzen. Wir würden uns necken, diskutieren, streiten, quer über den Tisch spucken und versuchen, die anderen anzuschwärzen, damit sie zur Hausarbeit gezwungen wurden.
Dabei war ich mir sicher, dass ein Szenario wie dieses nicht mehr möglich sein würde. Dazu war einfach zu viel passiert. Wir hatten uns voneinander entfernt, hatten Geheimnisse und Pläne, die anderen nicht beinhalteten.
Ich konnte keinen bestimmten Zeitpunkt festmachen, an dem das passiert war. Vermutlich hatte es sich über Monate hingezogen, ohne, dass ich es bemerkt hatte.
Wenn ich darüber nachdachte und begriff, wie einsam ich mich dann fühlte, schaute ich auf meine Hand und stellte mir vor, sie würde in Kians liegen. So wie er es bei unserem Abschied gesagt hatte: Stell dir vor, dass ich neben dir liege, wenn du einschläfst und dass ich deine Hand halte, wenn du dich einsam fühlst.
Diese Erinnerungen kamen mir so vor als stammen sie aus einem anderen Leben. Nun konnte ich nicht mehr damit rechnen, spontan von Oma mit meiner heißgeliebten Lasagne überrascht zu werden oder Nächtelang mit Boris und Alica irgendwelche Knobelspiele zu spielen.
Ich wusste weder, ob ich etwas dagegen tun konnte noch ob ich das überhaupt wollte. Vielleicht war es Zeit, mit der Vergangenheit abzuschließen. Nach vorne zu sehen.
In weniger als einem Monat würde ich bei der ADGD sein. Meine Anfrage, Boris mitzubringen, hatten sie abgelehnt. Mit knappen 1,72 war er angeblich zu klein für ihre Anforderungen. Glauben konnte ich das nicht. Ezra war immerhin auch nicht viel größer.
Ben hatte mir im Geheimen mitgeteilt, dass es mehr mit seinem Charakter zu tun hatte als mit seiner bescheidenen Körpergröße. Vor allem in Kombination mit meinem. Er hatte es zwar nicht ausgesprochen, aber im Grunde hatte er mir klargemacht, dass die Dynastien uns schon seit Jahren beobachteten und dementsprechend einiges an Eindrücken gesammelt hatten. Unsere Konkurrenzkämpfe seien gut angekommen. Unsere Insubordination und die Tatsache, dass wir uns gegenseitig anstachelten und nicht merkten, wann wir es übertrieben, eher weniger.
Sie hatten einen von uns aufnehmen wollen und mit mir hätten sie die sichere Wahl getroffen, meinte Ben. Ich sei, im Gegensatz zu Boris, ein kalkulierbares Risiko.
Was Alicas Kraft war und ob die ADGD auch Interesse an ihr hatte, konnte Ben mir nicht sagen. Aber er versicherte mir, sich umzuhören.
Meine Aufnahmeprüfung würde in 27 Tagen stattfinden. Ben hatte am selben Morgen eine Zwischenprüfung in Kampf und Umgang mit Waffen.
Er hatte versucht mir gut zuzureden und gesagt, die Herausforderung bestünde hauptsächlich darin, sich bewusst zu machen, warum man sich für diesen Weg entschieden hatte. Er hatte mir vorgeschlagen, mir Ziele zu überlegen und mich so selbst zu motivieren.
Wir hatten stundenlang über unsere Gründe, der ADGD beizutreten, diskutiert und waren zu dem Fazit gekommen, dass wir einen großen Punkt teilten: Wir waren es leid, uns hilflos zu fühlen. Nur zusehen zu können, wenn etwas passierte und weder großes Wissen noch besondere Fähigkeiten zu besitzen.
Uns war klar, dass wir die Welt nicht ändern konnten. Genauso wenig wie andere Leute und ihre Einstellungen und Taten. Aber wir konnten lernen, uns dagegen zu wehren.
An einem frühen Mittwochmittag saß ich mit Tom, Marc und Boris in unserem Esszimmer. Der Tisch war unter unseren Büchern und Unterlagen kaum zu erkennen und die unsichtbaren Fragezeichen, die in der Luft schwebten und uns immer wieder an die Stirn knallten, ließen uns allmählich verzweifeln.
In der Schule hatten wir Boris' Abwesenheit durch einen spontanen Drogenentzug erklärt. Das hatte keinen überrascht und wir waren so nah an der Wahrheit geblieben wie möglich. Obwohl er Monate an Unterricht verpasst hatte, war er derjenige, der uns den Stoff beibrachte, damit wir in unserer Abschlussprüfung am nächsten Tag nicht komplett versagten.
„Ich muss irgendwo abschreiben. Es gibt keine andere Möglichkeit", beschloss Marc nach einer Stunde. „Ich kann ja nicht mal die Grundlagen. Wofür braucht man den Scheiß auch?"
„Wenn du den Scheiß anwenden kannst, ist er schon ganz nützlich. Schau mal da zum Beispiel." Mein Cousin blätterte durch das Mathebuch und blieb an einem Bild hängen, um Marc seine Erklärungen zu veranschaulichen.
Ich beendete die Übungsaufgabe, die wir zusammen begonnen hatten, selbstständig und schnaufte dann tief durch.
Keine Ahnung, ob mein Ergebnis richtig war. Wahrscheinlich nicht. Aber der Versuch zählte.
„Ich gehe mir was zu trinken holen. Wollt ihr auch?"
„Cola", warf Boris mir abgelenkt zu.
„Für mich stilles Wasser bitte." Marc lächelte kurz in meine Richtung, widmete sich aber sofort wieder meinem Cousin.
„Ich helfe dir", meinte Tom, als ich ihn fragend ansah und folgte mir in die Küche.
„Ich hätte das auch allein geschafft. Aber danke." Ich stellte vier Gläser auf den Tresen und holte Wasser und Cola aus dem Kühlschrank. „Was willst du?"
„Nichts. Ich wollte was unter vier Augen mit dir klären."
Langsam ließ ich die Wasserflasche in meiner Hand auf die Ablage sinken. „Was denn?"
Hatte ich etwas falsch gemacht? Wieso wirkte er so ernst? War er sauer, weil Boris Amelie bei uns Hausverbot erteilt hatte? Dafür konnte ich doch nichts.
Ich wurde nervös. Seit ich wieder hier wohnte, hatte ich mehr Kontakt zu Tom gehabt als zu meiner eigenen Familie. Er hatte mir essen vorbeigebracht, wenn seine Mutter zu viel gekocht hatte und hatte mich zum Einkaufen gefahren, damit ich nicht fünf Mal gehen musste, um mir einen ordentlichen Vorrat anzulegen.
Nach seinem Wissensstand hatten wir eine Wohnung in der Nähe von Boris' Klinik gemietet, in der wir nun die meiste Zeit waren. Ich hatte behauptet, mir sei es dort zu eng geworden und ich wäre deshalb wieder hierhergekommen. Boris hatte angeblich Ausgang, weil er so weit sauber war, und sein soziales Netzwerk aufrechterhalten sollte. Bisher hatte keiner an diesen Behauptungen gezweifelt.
„Ich brauche deine Hilfe." Tom lehnte sich gegen den Kühlschrank. Er wich meinem Blick aus. „Ich muss mit Charlie und Kian reden. Könntest du das organisieren?"
Als ich nicht antwortete, sah er vorsichtig zu mir und überprüfte meine Reaktion.
Ich stand einfach nur da, musterte ihn und fragte mich, was ich sagen sollte. Ich war nicht Kians Sekretärin. Ich war nicht einmal sein Freund. Ich wollte kein Treffen mit ihm vereinbaren, weil Tom irgendetwas von ihm brauchte und ihn dazu womöglich um einen Gefallen bitten müssen.
Was konnten Kian und Charlie schon für Tom tun? Er hatte davor nie großartig Kontakt zu ihnen gehabt.
„Ich würde das nicht fragen, wenn ich einen anderen Weg wüsste. Aber ich habe echt keine Ahnung, was ich machen soll."
„Worum geht es denn?"
Er biss sich kurz auf die Lippe. Seine Schultern hatte er hochgezogen und seine Blicke wieder gesenkt. „Ich will sie bitten, ein gutes Wort beim König für mich einzulegen."
„Echt jetzt?" Mein ungläubiges Lachen verlor sich schnell, als Tom entschieden nickte.
„Ich brauche möglichst bald eine Audienz bei ihm. Es ist wirklich dringend."
„Willst du mir nicht sagen worum es geht?"
Er schüttelte den Kopf. „Lieber nicht."
Ich schnaufte tief durch. Dieses Gespräch war genauso anstrengend wie stundenlanges Pauken über mysteriösen Ziffern und Zeichen.
„Und dir kann niemand sonst helfen?"
Erneutes Kopfschütteln.
Ich zuckte mit den Schultern. „Dann bleibt mir wohl keine andere Wahl. Ich werde sehen, was ich tun kann."
Er schloss die Augen und ließ die Luft gepresst von seinen Lippen weichen.
„Du hast keine Ahnung wie dankbar ich dir grade bin." Er machte einen großen Schritt zu mir und nahm mich in den Arm.
In meiner Überraschung erstarrte ich. Als ich begriff, dass das ein Zeichen seiner Dankbarkeit sein sollte, klopfte ich ihm überfordert auf den Rücken.
„Schon gut."
Ich löste mich schnell von ihm, versuchte, ihm ein zuversichtliches Lächeln zukommen zu lassen und konnte nur hoffen, dass er nicht erkannte, wie viel Mühe mich das kostete.
Ich hatte den Hof vor zwei Wochen verlassen. Seitdem hatte ich Kian weder gesehen noch mit ihm gesprochen.
Ich hatte mich jedes Mal, wenn ich an ihn gedacht hatte, selbst ermahnt und versucht, es nicht wieder so weit kommen zu lassen. Solange ich etwas zu tun hatte, hatte es gut funktioniert. Ich hatte mich ablenken können.
Nun schwebte Toms Bitte wie ein Damoklesschwert über mir. Ich nahm mir vor, es schnellst möglich hinter mir zu bringen, um dann wieder zu meinem kianlosen Alltag übergehen zu können.
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