9
Silas
Wer auch immer beschlossen hatte, unsere Doppelstunde Sport auf Mittwochmorgen zu legen, musste entweder seit Ewigkeiten nicht mehr sportlich aktiv gewesen sein oder extrem sadistisch veranlagt. Ich würde eine grausame Entscheidung treffen müssen:
- Entweder die Pause fürs Duschen opfern, vorausgesetzt unser Sportlehrer entließ uns rechtzeitig.
- Oder den ganzen Tag unangenehm riechen und verzweifelt mit einer halben Dose Deo dagegen ankämpfen.
Der einzige Grund, den Tag nicht schon am Morgen zu verfluchen, war mein lieber Cousin. Er verhielt sich komisch seit letzem Abend, redete kaum mit mir und dachte krampfhaft darüber nach, über etwas Unauffälliges nachzudenken.
Die meisten der Jungs waren bereits umgezogen und hingen jetzt am Handy oder unterhielten sich über das bevorstehende Semester, als wir die Kabine betraten.
Boris, Alica und ich hatten für die Oberstufe exakt dieselben Fächer gewählt und uns eingebildet, so würden wir zusammen in den Kursen landen. Natürlich war das nicht passiert. Das war das erste Halbjahr, in dem ich mit Boris Sport hatte. Die perfekte Gelegenheit, ihn in seine Schranken zu weisen.
Als älterer Cousin war er von klein auf stärker, schneller und besser gewesen als ich. Mittlerweile war ich etwas größer als er und konnte auch sonst gut mithalten. Es kratzte an seinem Ego, dass ich meinen Spaß daran hatte, mich mit ihm zu messen. Dabei sah ich nur gute Chancen und ergriff sie. Ich wusste, worin ich ihn schlagen konnte und nur darauf ließ ich mich ein. Boris hatte das Problem, dass er in allem der Beste sein wollte. Es war es nicht gewohnt zu verlieren und wusste nicht damit umzugehen.
Die unterschiedlichen Einflüsse unserer Väter spielten in diesem Punkt sicher eine Rolle. Meiner hatte immer gemeint: „Gib dein Bestes, das ist vollkommen genug."
Onkel Anton war der Meinung gewesen, ein Sohn müsse sich die Liebe und Anerkennung seines Vaters verdienen. Und das hat Boris nie.
„Silas!" Er zischte meinen Namen voller Abscheu.
Ich war so verpeilt gewesen, dass ich nicht mitbekommen hatte, wie er seine Sporttasche geöffnet und seine Überraschung zu Gesicht bekommen hatte.
„Ja?", fragte ich unschuldig.
„Wo ist meine Sporthose?"
„Keine Ahnung. Meinst du die?" Ich nahm die Hose aus meiner Sporttasche und zeigte sie ihm. Er griff danach, doch ich ließ sie nicht los.
„Gib sie her!"
„Vergiss es!"
Mit einem kräftigen Ruck konnte ich sie ihm entreißen, sprang auf und flüchtete um die Bänke in der Mitte der Umkleide herum.
„Silas!" Der wütende Klang meines Namens aus seinem Mund war Musik in meinen Ohren. „Wenn ich dich erwische!"
„Was dann?", lachte ich.
„Dann bist du sowas von fällig!"
Er jagte mich sechs Runden um die Bänke. Unsere Mitschüler schauten belustigt dabei zu und zogen ihre Schultaschen an sich heran, weil wir immer wieder darüber stolperten. In meiner siebten Runde erkannte ich die Erwachten mit perplexem Blick in der Tür stehen und Boris, der gerade mit Vollgas in Austins Arme rannte. Ich nutzte die Gelegenheit, mich umzuziehen und hatte somit gewonnen.
„Bist ja ganz schön stürmisch, Kleiner." Austin hatte seine Hände an Boris Oberarmen und stellte ihn wieder aufrecht hin.
„Ich bin nicht klein", brummte mein Cousin.
Er war klein. Wie vieles andere konnte er sich auch das nicht eingestehen.
Mein Blick landete auf Kian. Er lächelte leicht und deutete zu meinem Platz, bevor er fragte, ob er sich neben mich setzen durfte. Ich nickte.
Er widersprach, was ich mir unter einem Prinzen vorgestellt hatte, einfach in allem. Statt mit einem Tritt die Bank leerzuräumen und sie für seine zu deklarieren, fragte er freundlich und bedankte sich dann sogar. Das mochte ich. Es machte ihn bodenständig und... nahbar.
„Silas, komm schon, gib mir meine Hose zurück!"
Boris ließ sich zu uns auf die Bank plumpsen und bettelte mich an. Er hatte erkannt, dass Drohungen und Jagd ihn nicht weiterbrachten. Doch auch Mitleid bekam er von mir nicht.
„Vergiss es. Die steht mir so gut, schau doch mal."
Frustriert kniff er die Augen zusammen und knurrte mich an. Selbst, ohne seine Gedanken zu hören, wusste ich, dass er es bereute, sich mit mir angelegt zu haben. Er war der ungeduldigste Mensch auf diesem Planten und somit dazu verdammt, sich immer wieder selbst zu verraten, wenn er etwas im Schilde führte. Ich hatte kein Problem damit, auf den passenden Zeitpunkt zu warten, wenn das Resultat vielversprechend klang. Das war mein fairer Vorteil in diesem Streichkrieg.
„Ich hasse dich."
„Ich dich auch."
Desinteressiert checkte ich an meinem Handy das Wetter für den Nachmittag. Alica hatte mich am Morgen gefragt, ob wir an den See gehen wollten. Aus Reflex hatte ich zugesagt. Seitdem befand ich mich auf der Suche nach einem Ausweg, der sie nicht enttäuschte. Schlechte Wetteraussichten wären ein idealer Vorwand gewesen.
„Hey", Kian tippte mit dem Zeigefinger an meine Schulter, bevor ich eine Lösung für mein Dilemma finden konnte. „Wieso hat Boris gesagt, dass er dich hasst?"
Ich folgte seinem Blick zu meinem Cousin, der mit verschränkten Armen dasaß und finster an die andere Seite des Raums starrte. Es war beängstigend, wie ähnlich er seinem Vater sehen konnte, wenn er so drauf war.
„Er hasst mich nicht. Er ist nur beleidigt."
Ich sah in Kians Blick, dass er es nicht verstand. Als ich zu einer weiteren Ausführung ansetzte, hallte die Stimme unseres Sportlehrers durch die Umkleide: „Raus mit euch! Die Stunde hat schon lange angefangen!"
Die meisten von uns blieben immer so lange wie möglich in der Kabine, um nicht Gefahr zu laufen, von ihm angesprochen zu werden. Er war als Gesprächspartner bestenfalls so ungern gesehen wie ich. Nur, dass ich nicht ständig anzüglich über Mädchen redete und Jungs dazu aufforderte, ihre Körper zu beurteilen. Wenn sogar pubertäre Vollidioten wie meine Mitschüler das für unpassend hielten, musste das schon etwas zu bedeuten haben. Die machten nämlich sonst alles mit.
Zwar hatte David ihn gemeldet, nachdem er seine Freundin sehr offensichtlich angestarrt und sich über ihren Hintern geäußert hatte und deshalb durfte er nicht mehr über die Mädchen reden, sie weiterhin zu unterrichten war aber anscheinend legitim.
Ich hoffte, er würde sich dieses Jahr zurückhalten. Wenn es um Alica ging, gab es nur einen sehr schmalen Grad, der Boris von einem neckenden Bruder zu einem beschützerischen Bodyguard machte. Daran änderte auch seine Größe nicht viel.
„Hast dich für die Jeans entschieden", stellte ich fest, als wir im Türrahmen aufeinandertrafen. Er hatte Alicas Tennisrock, den ich von meiner Sporttasche in seine verfrachtet hatte, also nicht als die Alternative gesehen, die er für mich vorgesehen hatte.
„Ich rede nicht mehr mit dir, falls du es noch nicht mitbekommen hast."
Da keiner von uns stehenbleiben wollte, rammten wir uns gegenseitig in die Seite, als wir durch die Tür liefen. Danach fasste ich mir an die schmerzende Stelle meiner Schulter, konnte Boris aber nur grinsend hinterhersehen, während er sich möglichst weit von mir entfernt zu Marc gesellte.
„Also, was ist passiert?", flüsterte Kian mir wenig später ins Ohr.
Obwohl seine Stimme leise, ja fast schon sanft war, erschrak ich mich beinahe zu Tode. Ich war weder davon ausgegangen, dass er weiter mit mir reden wollen würde, noch, dass er sich dazu so nah hinter mich stellte, dass ich spüren konnte, wie sein Atem an meinem Hals entlangfegte.
Ich schluckte, traute meiner Stimme nicht genug, um auch nur darüber nachzudenken, wie ich ihm antworten sollte und zischte ihm daher bloß ein abweisendes „Psst!" zu, ohne ihn anzusehen.
Er blieb für einen kurzen Moment regungslos stehen und entfernte sich dann genauso unauffällig, wie er sich angeschlichen hatte. Plötzlich merkte ich, wie kalt es selbst im Sommer morgens noch sein konnte. Wie hart der Boden unter mir eigentlich war. Und wie schwer mein Körper. Kurz hatte ich vergessen, dass so etwas wie eine Gravitation existierte. Nur die Entfernung zu ihm erinnerte mich daran.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top