8
Kian
Nach meinem Gespräch mit Silas hatten wir in einvernehmlicher Stille durch die Gitter runter auf den Pausenhof gesehen. Es war schwer gewesen, meinen Blick immer wieder von ihm loszureißen. Ich war mir sicher, dass er das bemerkt hatte. Trotzdem hatte es nicht so gewirkt als würde er sich unwohl fühlen. Und ich war froh, dass er keine Angst vor mir hatte, aber die Frage wieso, ging mir dennoch nicht aus dem Kopf.
Es war mir so normal vorgekommen, neben Silas zu sitzen. So leicht. So als gäbe es nichts, das ich falsch machen könnte. Nichts zu verlieren. Umso härter hatte mich die Realität getroffen, als diese wenigen aber wertvollen Minuten vorbei gewesen waren.
Ein Klopfen an meiner Zimmertür riss mich aus meinen Gedanken. Ich hatte mich schon vor einiger Zeit fertiggemacht und grübelte seitdem vor mich hin. In Anbetracht dessen, dass ich in weniger als einer Stunde meine Eltern besuchen und an einer Ratssitzung teilnehmen sollte, eindeutig über die falschen Themen.
„Hey. Charlie meint, ihr müsst dann jetzt los." Austin steckte seinen Kopf durch einen schmalen Spalt der Tür. Er schien sich unser kürzlich vergangenes Gespräch über Privatsphäre tatsächlich zu Herzen genommen zu haben.
„Ich komme gleich."
Seit Charlie mich dafür getadelt hatte, in der Pause verschwunden zu sein, hatte er nicht mehr mit mir geredet. Das war seine Art, mir zu zeigen, dass ich es grandios verbockt hatte.
Ich wusste, dass ich bei ihm zu bleiben hatte. Dass ich vorsichtig sein musste und dass niemand erfahren durfte, dass ich essen konnte. Ich war leichtsinnig gewesen und zu allem Überfluss hatte ich ihm auch noch ins Gesicht gelogen. Niemand außer Silas und mir wusste, dass ich die Pause mit ihm verbracht hatte. Auch, wo ich gewesen war, hatte ich nicht offenbart. Silas hatte gesagt, das sei sein Platz. Wohl sowas wie sein sicherer Ort. Den hatte ich ihm nicht nehmen wollen, indem ich andere davon wissen ließ. Also hatte ich behauptet, ich hätte mich verlaufen und sei eine Weile durch das Schulhaus geirrt. So war ich zumindest zum Teil bei der Wahrheit geblieben.
Charlie kannte mich besser als mir lieb war. Uns war beiden klar, dass ich ihm etwas verheimlichte. Das machte er durch die Distanz, die er aufbaute, deutlich, während ich versuchte unwissend zu spielen.
„Ist alles okay?" Austin musterte mich, während ich auf ihn zuging. Er hielt mich auf, drehte mich um und zog meine Korsettweste kräftig zu.
Ich hasste dieses Teil. Es war eng, unbequem, ich bekam schlecht Luft und jedes Mal, wenn ich es trug, hatte ich Gefühl, niemals der sein zu können, für den es gemacht war – der perfekte Prinz.
Austin drehte mich wieder, überprüfte den Sitz meines Outfits und schaute mich dann auffordernd an, um eine Antwort zu bekommen.
„Ja, alles in Ordnung", seufzte ich und zupfte unzufrieden an mir herum. Es war ein Fehler gewesen, mich vor meinen Terminen beim Schneider zu drücken. Das hatte ich jetzt davon.
Austin strich mit gespielt nachdenklichem Blick meine Haare zurecht. „Bist wohl müde. Wir sollten zukünftig erst später in die Schule gehen."
Ich atmete tief durch und sah ihn genervt an. Nach nur wenigen Sekunden musste ich sein blödes Grinsen erwidern und verdrehte daher die Augen.
„Wenn wir uns eingelebt haben, kannst du später nachkommen. Aber so, dass du noch pünktlich bist, okay?"
„Du bist der beste."
Zufrieden legte er einen Arm um mich und zog mich mit runter.
Es war mir schon immer schwergefallen, Austin gegenüber konsequent zu sein. Er war mein bester Freund. Es gefiel mir nicht, bei jeder Gelegenheit den Prinzen raushängen lassen zu müssen. Mir war klar, dass er sich nicht davor scheute, das hin und wieder auszunutzen. Dennoch bestand unsere Beziehung aus einem gesunden Verhältnis von Geben und Nehmen. Ich erlaubte ihm, später zur Schule zu kommen, er hörte auf, mir die Ohren vollzujammern und alle waren glücklich. Bis auf Charlie. Der war nie glücklich.
Er betrachtete mich kritisch, als ich unten ankam, und brach sein strafendes Schweigen, um mich zu fragen, ob die Weste nicht etwas klein sei.
„Das ist die größte, die ich habe. Ich brauche einen Termin beim Schneider."
Dass ich das Teil nicht tragen wollte, musste ich nicht mehr erwähnen. Die Debatten darüber hatte ich jedes Mal, wenn es an der Zeit gewesen war, mir ein Neues anfertigen zu lassen, verloren.
„Kannst du dich darum kümmern?", wollte Charlie von Austin wissen.
„Ja, klar. Ich spiele gerne die Sekretärin."
Wir ließen den Gestank nach Ironie im Flur zurück, als wir uns auf den Weg machten. Bis zur Stadtgrenze liefen wir in lockerem Spaziergang-Tempo. Wir wollten keine Aufmerksamkeit auf uns ziehen.
Die Menschen suchten schon seit Jahrhunderten nach dem Reich meines Vaters. Ihnen war nicht klar, dass sie es nicht finden konnten. Zumindest nicht, solange sie nicht wussten, wie es geschützt war und wie man einen solchen Schutz brach.
Einige Kilometer von der Stadt entfernt erhöhten wir die Geschwindigkeit. Charlie war schon lange weg, als Austin sich darüber beschwerte, dass er noch nicht bereit gewesen sei. Ich lachte darüber und begleitete ihn an den Rand des Flusses, wo er mir sein Handy überreichte, bevor er hineinsprang.
„Und, bereit?"
Ich bekam keine Antwort. Zumindest nicht verbal. Stattdessen sah ich, wie die Wasseroberfläche aufbrach, als Austin sich knapp darunter bewegte und nach wenigen Metern durch das kühle Nass schoss.
Am vereinbarten Treffpunkt empfingen uns Bedienstete meiner Eltern. Charlie musste kurz vor uns angekommen sein. Er ließ sich gerade seinen Umhang anlegen. Suchend sah ich mich nach Austin um und erkannte, wie er aus dem Fluss stieg. Mit einer Hand zog ich ihn über das Ufer. Dabei spürte ich, wie er zitterte.
„Das war... erfrischend.", scherzte er mit bebender Unterlippe, während unaufhörlich Wassertropfen von ihm perlten.
Ohne großartig nachzudenken nahm ich Ludwig meinen Mantel ab und hüllte Austin darin ein. Alle Anwesenden kannten mich lange genug, um zu wissen, was ich von unnötigen Regeln hielt, also sagte keiner etwas dazu, dass ich Austin einen Mantel umgelegt hatte, den er nicht tragen durfte, und ich sah keinen Grund, mich zu rechtfertigen.
„Komm mit zum Palast und zieh dich um, bevor du zum Schneider gehst." Ich steckte Austin sein Handy in den Umhang und suchte in seinem Blick nach Bestätigung.
Charlies angestrengtes Seufzen ignorierten wir beide. Er musste es leid sein, mir die Vorschriften und Traditionen einprügeln zu wollen, gegen die ich mich so krampfhaft wehrte. Ich war der Überzeugung, es musste eine andere Möglichkeit geben zu herrschen. Eine Möglichkeit, mit seinem Volk auf Augenhöhe zu bleiben. Natürlich war Autorität für einen König wichtig. Aber Respekt und Vertrauen genauso. Darauf basierte wahre Loyalität und das war es, was ein König brauchte. Das bot ihm langfristig Rückhalt und Stärke.
Sobald ich einen Fuß auf den Hof setzte, hallte die Verkündung meiner Ankunft durch den Palast. Das was sowas wie ein Hinweis für Ethan, dass jemand Wichtiges da war, den er im Namen des Königs empfangen sollte. Je näher er uns kam, desto mehr Verwirrung zeichnete sich in seinem Gesicht ab.
„Wünscht Ihr, dass Euch ein neuer Mantel gebracht wird?"
„Nein, danke. Ich bin sicher, wir werden im Rat bereits erwartet."
Austin verabschiedete sich durch einen vielsagenden Blick von mir, ehe er sich auf den Weg in sein Gemach machte.
Auch Charlie und ich schritten durch die belebten Flure. Jede Person, die in mein Blickfeld trat, machte Halt, verbeugte sich und wartete, bis ich außer Sichtweite war, ehe sie sich wieder rührte.
„Versuch diesmal, etwas mehr Sicherheit auszustrahlen. Schau nicht so oft zu deinen Eltern oder zu mir, formuliere deine Antworten nicht wie Fragen und mache dich deiner Position bewusst. Du bist der Prinz. Nutze das."
Nachdem meine letzte Teilnahme an einer Ratssitzung gewaltig schiefgelaufen war, hatte ich mich geweigert zu essen, zu schlafen, zu lernen und zu trainieren, bis ich jeden Fehler an meinem Auftreten, auf den meine Eltern und Charlie mich aufmerksam gemacht hatten, beseitigt hatte. Ich hatte Tage und Nächte damit verbracht, verschiedene Szenarien einer Ratssitzung durchzuspielen, Antworten, Fragen und Verhaltensweisen vorzubereiten und mich selbst solange unter Druck gesetzt, bis ich zufrieden gewesen war.
Meine Mutter hatte es für überflüssig gehalten. Sie war der Meinung gewesen, ich bräuchte eben ein wenig Übung. Noch ein paar Sitzungen, dann würde das von allein reibungslos verlaufen. Ich hätte das Königsein im Blut. Doch ich hatte nichts dem Zufall überlassen wollen. Ich wollte selbstbewusst und überzeugt auftreten können. Wie ein richtiger Prinz. Ein Prinz, der respektiert wurde und diesen Respekt verdiente.
Wir hielten vor dem Ratssaal. Die Wachen stießen die Türen auf und Ethan kündigte uns an, ehe wir eintraten. Ich erkannte sofort in den Blicken meines Vaters, dass es ihm nicht behagte, mich nicht in voller Montur zu sehen. Meine Mutter dagegen schmunzelte sogar ein wenig darüber. Sie saßen auf ihrem Podest und der Rat war wie gewohnt in einem Halbkreis vor ihnen an ihren Tischen versammelt. Nur noch Charlies Platz war leer.
So gut wie alle Blicke lagen auf mir. Nachdem ich mich auf meinem Thron niedergelassen hatte, ließ ich mir Zeit, um durch ein Handzeichen zu verdeutlichen, dass die Begrüßung vorbei war. Alle Mitglieder des Rates standen vor mir und ich sah jedem von ihnen für einen Moment in die Augen, um ihnen klarzumachen, dass ich der Prinz war und sie mir zu gehorchen hatten. Dann hob ich die Hand und sie ließen sich auf ihren Stühlen nieder.
Polster. Eins der Dinge, die ich ändern wollte, wenn ich König war, war mein Thron. Ich wollte einen Thron mit Polstern. Einen Thron, auf dem ich gerne saß.
Mein Blick fiel auf die wild durcheinanderliegenden Unterlagen auf den Tischen des Rates. „Wie ich sehe, habt Ihr bereits angefangen."
„Du hattest ein gutes Timing. Wir haben alle Themen, die dich nicht interessieren, soeben abgehakt."
Das war beinahe ein erleichterndes Ausatmen wert. Ich musste mich an den ganzen bürokratischen Mist des Prinzseins erst noch gewöhnen. Viel leichter fielen mir Diskussionen über Teile der Verfassung oder alle möglichen Vorschläge zur erfolgreichen Interaktion mit den Menschen. Sowas war spannend. Damit konnte man etwas bewirken. Bürokratie war einfach nur ätzend.
„Wenn ich mich nicht irre, steht heute die Besprechung der Verhandlungen um die Verfassung auf dem Plan. Gibt es dazu Neuigkeiten?"
Ich sah von meinem Vater hinab zu den Tischen des Rates und in all ihre verschlossenen Gesichter.
Der Ratsvorsitzende erhob sich, um zu sprechen. „Bislang stellen sich nur Probleme bei der Vereinbarung der Häufigkeit und Menge des abzugebenden Menschenbluts."
„Welche Probleme?"
Meine Augen kniffen sich zusammen. Die Wirkung dieses misstrauischen Blickes interessierte mich jedoch nicht. Dem Rat eine gute Gesinnung vorzuheucheln war überflüssig. In meiner ersten Sitzung hatten sie sehr deutlich gemacht, dass ich in ihren Augen nur ein Kind war, das eine Macht besaß, die ihm nicht zustand. Für sie würde ich nie mehr sein, selbst, wenn mein Hintern einmal auf dem gepolsterten Königsthron saß.
„Es gibt zu wenige Menschen und einen zu hohen Bedarf an ihrem Blut."
„Wir brauchen ihr Blut nicht, um zu überleben."
Beim letzten Mal hatte ich zu leise und zu undeutlich gesprochen und dadurch gehemmt gewirkt. Das war diesmal nicht der Fall. Meine Stimme klang fest. Kein Zittern, kein Stottern, nicht der Hauch von Unsicherheit.
„Machen wir aus Menschenblut ein Luxusgut. Wir beschränken den Zugang dazu und verteilen es auf Anfrage strukturiert in gleichen Mengen und regelmäßigen Abständen an das Volk."
Die Mitglieder des Rates verfielen in leise, aber nicht minder angeregte Diskussionen. Diese Zeit nutzte ich, um zu meinen Eltern zu sehen. Mein Vater hielt den Blick stur nach vorne gerichtet, während meine Mutter mir ein liebevolles Lächeln zuwarf. Nach der Sitzung wollte ich unbedingt unter vier Augen mit ihr reden. Sie konnte bestimmt eine Umarmung vertragen. Vermutlich hatte mein Vater wieder Tage und Wochen mit irgendwelchen Studien und Planungen zugetan und dabei kein Wort mit ihr gewechselt.
Charlie befand sich unter den Ratsmitgliedern, doch er beteiligte sich nicht an den Gesprächen. Das machte er nie. Er saß immer nur da und hörte zu, obwohl alle wussten, dass er genug zu sagen hatte.
Nach einiger Zeit meldete sich August, der Ratsvorsitzende, wieder zu Wort. „Das wird das Problem nicht lösen. Wir brauchen ihr Blut zwar nicht, um zu überleben, aber es ist alles, was uns lebendig fühlen lässt. Das dem Volk zu nehmen ist unverantwortlich."
„An dem Problem per se können wir momentan aber nichts ändern. Das haben wir durch den Krieg selbst zu verantworten. Sofern Euch also keine Möglichkeit einfällt, durch die sich Menschen oder ihr Blut in kürzester Zeit stark vermehren können, bleibt uns nichts Anderes übrig als uns an die Begebenheiten anzupassen. Mit der Zeit wird es dann wieder mehr Menschen geben und somit auch mehr von ihrem Blut. Doch dafür müssen sie stark und gesund bleiben."
Wieder ein Tuscheln.
„Wenn wir das Alter für die Blutabnahme herabsetz-"
„Nein."
„Aber so-"
„Nein!" Die Wiederholung dieses Wortes klang noch schneidender als zuvor. Das Echo meiner Stimme hallte drohend durch den Saal. „Wir werden kein Blut von Kindern annehmen. 18 ist schon ein zweifelhaftes Alter, um damit zu beginnen. Die Körper von Kindern und Jugendlichen machen im Verlauf des Erwachsenwerdens bereits genug durch, gerade in der Pubertät. Das steht nicht zur Debatte."
Grade die Älteren weigerten sich einzusehen, dass der Weg zu einer friedvollen Einigung aus Kompromissen bestand. Sie waren es gewohnt, sich zu nehmen, was sie wollten. Sie waren gierig und eigennützig und die Menschen und vor allem ihr Wohlbefinden waren ihnen schlichtweg egal. Manchmal fragte ich mich sogar, ob nicht einige von ihnen, wie sie gerade vor mir saßen, insgeheim zu den Aufständischen gehörten. Wundern würde es mich nicht.
Ich verstand, dass es um mehrging als das pure Überleben. Dass es um Gefühle ging und darum sich selbst, dieWelt und alles, was sie bot, mit dem richtigen Blut anders wahrzunehmen.Schöner wahrzunehmen. Dass mein Körperanders funktionierte als der der anderen meiner Art bedeutete nicht, dass ichdie Bedeutung ihrer Existenzgrundlagen außer Acht lassen würde, nur, weil siemich nicht im selben Maße betrafen. Ich war dennoch ihr Prinz. Und ichversuchte einen Weg zu finden, der für alle vertretbar war. Einen Weg zumFrieden und nicht zur Unterdrückung. Sonst wäre es nur eine Frage der Zeit, bisder nächste Krieg ausbrach.
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