6
Kian
Autos fanden ihren Weg auf den Parkplatz, Schüler drängelten sich aus den Bussen, stellten ihre Fahrräder ab oder waren, sowie wir, zu Fuß gekommen. Ihre Wege und Richtungen waren verschieden, das Ziel aber das gleiche: Die Schule.
Unser Haus in der Stadt war nicht weit davon entfernt. Austin sprach sich dennoch dafür aus, ebenfalls mit dem Auto fahren, damit er morgens länger schlafen konnte.
„Alternativ könntest du darauf verzichten, morgens eine Stunde im Bad zuzutun", meinte Charlie genervt.
„Oh, entschuldige, dass ich auf mein Äußeres achte. Kann nicht jeder so fünf Mal gestorben und erwacht ankommen wollen wie du."
Dass Austin auf sein Äußeres achtete, war eine Untertreibung. Er war nahezu besessen davon. Sein Oufit musste immer stimmen, genauso wie seine Haare und sein Schmuck. Sonst ging es nicht nur mit seinem Selbstbewusstsein bergab, sondern auch mit seiner Stimmung. Und alle anderen hatten dann darunter zu leiden.
„So gemein zu sein war doch nun wirklich nicht nötig. Du siehst toll aus." Maddy warf Austin einen warnenden Blick zu und streichelte Charlie tröstend über den Arm.
Ausgeschlossen, dass er Austins Worten die geringste Bedeutung schenkte. Nach Austins Erwachen vor zehn Jahren hatte Charlie ihn unter seine Fittiche genommen. In dieser Zeit waren sie immer wieder aneinandergeraten. Danach rauften sie sich jedes Mal schnell wieder zusammen. Maddy wusste das. Sie vertrug nur keine Streitereien oder schlechte Stimmung. Sie suchte immer nach dem Positiven und fand Licht, egal wie dunkel es zu sein schien. Das bewunderte ich an ihr.
Als mir auffiel, dass viele der Schüler nicht direkt ins Gebäude gingen, sondern sich davor in Gruppen versammelten, fragte ich Charlie nach der Uhrzeit.
„Zehn nach Sieben", antwortete er nach einem kurzen Blick auf seine Uhr. „Wir haben noch zwanzig Minuten bis zur ersten Stunde."
„Ich habe doch gesagt, wir sind viel zu früh losgelaufen!" Austin verschränkte die Arme, schüttelte den Kopf und grummelte vor sich hin.
„Wir könnten die Zeit nutzen und uns mit ein paar Menschen unterhalten", schlug Maddy vor. Ihr Blick glitt lächelnd über den Hof. Ich erkannte Vorfreude darin. Enthusiasmus, den die Menschen nicht teilten.
Sie sahen immer wieder tuschelnd zu uns, aber ihr Auftreten konnte kaum distanzierter sein. Ich war froh, nicht hören zu können, was sie sagten.
„Auf mich wirken sie nicht so als seien sie scharf darauf, mit uns zu reden."
„Leute, bei der Uhrzeit kein Wunder. In zwei bis drei Stunden sieht das sicher ganz anders aus."
„Also ich bin dafür, dass wir Austin heute um acht Uhr ins Bett stecken. Sein Geheule löst das Verlangen in mir aus, seine Selbstheilungskräfte an ihre Grenzen zu treiben." Anna lächelte Austin bei ihrer Aussage betont freundlich an. Dieser schnaubte.
„Wenigstens habe ich Selbstheilungskräfte."
„Ohne die wärst du bei deinem Talent sicher schon ausgeblutet."
Durch einen leichten Schlag auf meinen Arm, erlangte Charlie meine Aufmerksamkeit zurück. Er nickte hinweisend zum anderen Ende des Hofes. Es dauerte keine Sekunde, bis ich sah, was er mir zeigen wollte: Silas und seine Begleiter, die direkt auf uns zusteuerten, verfolgt von erstaunten Blicken.
„Die sehen so aus als würden sie zu uns kommen."
Austins Schlagabtausch mit Anna fand ein jähes Ende, seine verschränkten Arme lösten sich langsam und sein gesamter Körper verlor an Anspannung.
Es musste seltsam aussehen, wie wir dastanden und nichts weiter taten als den Dreien erwartungsvoll dabei zusahen wie sie sich zu uns bewegten. Man könnte meinen, wir hätten auf sie gewartet.
Silas erkannte mein Starren. Er zupfte an seinem Oberteil herum, hielt dem Blickkontakt aber stand.
Fragen schossen mir ins Bewusstsein.
Was kann er von uns wollen?
Warum hat er keine Angst?
Komme ich seltsam rüber?
Mag er uns vielleicht sogar?
Mag er mich?
Je näher er kam, desto deutlicher wurde das Grün seiner Augen. Es passte gut zu seinen dunklen Haaren und dem hellen Teint. Er sah exakt so aus, wie ich mir Schneewittchen immer vorgestellt hatte. Und ich hatte sie mir verdammt hübsch vorgestellt.
Es hätte mich verwirren sollen, so über ihn zu denken. Es hätte sich befremdlich anfühlen sollen, ihn so gerne anzusehen. All das hätte mich abschrecken sollen und mich dazu bringen, mich von ihm fernzuhalten. Doch das Gegenteil war der Fall.
„Guten Morgen." Er löste seinen Blick von mir, um auch meine Freunde anzusehen.
Bis heute weiß ich nicht, ob die Zeit tatsächlich kurz stillgestanden hatte, oder ob es mir nur so vorgekommen war. Manchmal wagte ich es zu glauben, wenn er bei mir war, war nichts unmöglich.
„Gleichfalls."
Silas sah mich an. „Ich wollte dich fragen, ob du ein Handy oder ein Festnetztelefon hast, auf dem ich dich erreichen könnte. Ich bin dabei was zu planen und das geht deutlich einfacher, wenn ich das nicht nur in der Schule mit dir besprechen kann."
„Äh...ja."
Ich konnte mir nicht erklären, warum ich so überfordert reagierte. Das war alles andere als königlich. Mein Vater wäre enttäuscht, könnte er mich so sehen.
„Ja? Also gibst du mir deine Nummer oder soll ich sie erraten?", hakte er nach kurzer Zeit nach.
Wortlos zog ich mein Telefon hervor, um nach der Nummer zu suchen und sie ihm zu zeigen. Er tippte sie ab, hob dann sein Handy hoch und sagte: „Bitte lächeln."
Ohne mir die Möglichkeit zu geben zu reagieren, schoss er ein Foto.
„Hei, ich habe noch gar nicht gelächelt!"
Sein Grinsen brannte sich in mein Gedächtnis. Selbst Jahre später war ich dazu im Stande, detailliert zu beschreiben, wie er an diesem Tag ausgesehen hatte. Er trug eine helle Jeans, die aus mehr Löchern bestand als Stoff. Dazu einen braunen Gürtel mit rostiger Schnalle, die sofort erkennbar war, da er sein viel zu großes weißes Shirt vorne in die Hose gesteckt hatte. Über dem Shirt lag ein Flannelhemd, in einem beige-grauen Muster und in seinem Kragen hing eine Sonnenbrille mit braunen Gläsern. An seinem linken Daumen hatte er einen silbernen Ring und am rechten Ohr ein Piercing. Seine Haare sahen nicht so aus als seien sie in letzter Zeit gekämmt worden und dennoch schien jede Strähne sorgfältig dort platziert worden zu sein, wo sie sich befand.
Ihn nicht anzusehen, stellte sich als wahre Herausforderung dar. Ich fragte mich, wie er sich auf einem unserer Bälle machen würde, wenn er dem Dresscode folgte. Wenn er eine anständige Hose trug, ein passendes Hemd und eine maßgeschneiderte Korsettweste. Wenn er in einer Menge aus Hunderten von Erwachten stand und aufgrund seiner Größe komplett darin unterging. Wenn er nur anwesend wäre. Er würde mir auffallen. Er würde mir auffallen und mein Blick würde den gesamten Abend über an ihm kleben und ich würde es hassen, nicht zu ihm gehen zu dürfen. Ich würde dasitzen, auf meinem Thron, und mir ausmalen, wie ein Gespräch zwischen uns ablaufen würde. Und nachts läge ich dann in meinem Bett und würde bereuen, nicht alles versucht zu haben, um mit ihm in Kontakt zu treten. Ich würde mir vorstellen, eine zweite Chance zu bekommen und ihm ebendieses Lächeln zu entlocken, das er trug, als er mir das Bild zeigte, das er von mir geschossen hatte.
„Ich weiß, aber der Blick ist doch süß."
Der Blick war alles andere als süß. Ich sah total hilflos aus oder noch schlimmer – verträumt.
Meine Antwort bestand aus einem unzufriedenen Brummen.
„Du wirst dieses Foto löschen müssen, Silas." Charlie machte einen kleinen, aber bedrohlichen Schritt auf ihn zu.
Ich hob den Blick, um mir anzusehen, wie Silas überrascht die Augenbrauen hochzog und dann zwischen Charlie und mir hin- und herschaute. „Oh ist das ein Prinzending? Darf man keine Bilder von ihm haben?"
Das Stückchen Normalität, das diese Situation bis eben innegehabt hatte, war vergangen. Aber ich wäre kein Prinz, könnte ich es mir nicht zurückerobern. „Behalte das Bild."
Charlie schien die Bitte, mir diese Kleinigkeit zu erlauben, in meinem kurzen Seitenblick zu ihm zu erkennen und stimmte durch ein leises Seufzen zu.
„Na schön. Aber du darfst es ohne das Einverständnis des Königshauses nicht veröffentlichen."
„Keine Sorge, Datenschutz liegt mir sehr am Herzen."
Maddy nutzte die darauf entstehende Stille, um Silas zu fragen, was er geplant habe.
„Eine Party. Mal sehen, ob das was wird."
Ich war noch nie auf einer Party gewesen. Gerade bei großen Festen hatte ich mein Gemach nur verlassen dürfen, wenn Charlie oder meine Eltern bei mir gewesen waren. Da war wenig Raum für eigene Erfahrungen gewesen. Ich hatte noch nie mit anderen getanzt und gefeiert und schon gar nicht mit Leuten in meinem Alter.
„Brauchst du Hilfe?", wollte Austin wissen. Schockierend, wenn man bedachte, dass er sich nicht darum riss, Aufgaben im Reich zu übernehmen, sondern sich solange davor drückte, bis es an einen anderen übergeben wurde.
„Naja, vielleicht. Wir haben uns überlegt, uns den Schlüssel vom Direktor „auszuleihen", um in der Sporthalle zu feiern. Wir wissen nur noch nicht, wie wir darankommen."
„Oh, das klingt spannend. Ich bin sowas von dabei." Austin rieb sich voller Tatendrang die Handflächen aneinander.
„Okay, dich mag ich", beschloss Boris mit einem breiten Grinsen. Das verging ihm schnell.
„Nein, du bist nicht dabei, Austin", Charlie warf ihm einen strengen Blick zu. „Wir werden den Frieden nicht für jugendliche Fehltritte aufs Spiel setzen."
Sofort sackten Austins Schultern nach unten und Silas nickte verstehend. „Das dachte ich mir schon fast. Aber zur Party kommt ihr trotzdem oder?"
„Auf jeden Fall", antwortete Maddy sofort.
„Und wenn wir bei irgendwas helfen können, das uns nicht in Schwierigkeiten bringt, dann melde dich gerne jederzeit." Hinweisend hielt ich mein Handy hoch.
Nachdem Silas und seine Begleiter weg waren, schloss sich meine Gruppe zu einem Kreis zusammen.
„Kein normaler Mensch geht so sorglos auf uns zu, das erlebe ich gerade zum ersten Mal", sagte Charlie. „Und dann noch die Tatsache, dass ich weder seinen Geruch noch seinen Herzschlag wahrnehmen kann... Irgendwas stimmt mit ihm nicht."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top