5
Silas
Für mich gab es nichts Naheliegenderes als eine Party zu veranstalten, um der Integration auf die Sprünge zu helfen. Ich rechnete fest damit, dass auf Feiern alle gut gelaunt waren, mit der richtigen Menge an Alkohol locker wurden und die Offenheit für neue Bekanntschaften stieg. So konnte man Dinge finden, die einen verbanden, statt nur darauf zu achten, was einen unterschied.
Alica stand mir bei der Planung sofort zur Seite, Boris aber zeigte sich zunächst kritisch.
„Glaubt ihr, irgendjemand wird zu einer Integrationsparty auftauchen?"
„Deshalb nennen wir sie ja nicht so."
Anlässe hatten wir genügend. Eine Art Schulstart-Party, bevor wir in den Klausurenphasen des letzten Schuljahres versanken, ein vorgezogener Abistreich, eine „Friedensparty" oder ein namenloses Besäufnis, das keinesfalls weniger Anhänger finden würde. Genau das erklärte ich meinem Cousin. Weder Logik noch Moral überzeugten ihn. Nur der Vorschlag, seine Band in das Programm aufzunehmen. Diese kleine Not-Manipulation identifizierte er sofort.
„Du bist so eine miese kleine Ratte."
Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen und ich sah Bilder von seinen Auftritten, die sich von seinem Kopf in meinem wiederspiegelten. Ja, ich könnte schwören, seine Vorfreude sogar zu spüren.
„Musik haben wir also schon mal."
Alica, der Inbegriff für Feuer und Flamme, setzte einen Haken auf ihre Liste und schaute mich dann fragend an. „Wie sieht es mit der Location aus? Eine große Halle wäre gut. Es sollten um die hundert Leute reinpassen, am besten noch mehr."
Ich war dankbar um jede Hilfe. Mir fehlte es an Erfahrung in Sachen Partyorganisation. Die letzten Jahre meines Lebens hatte ich ins Stubenhocken investiert. Partys hatten ohnehin ausnahmslos illegal stattgefunden und immer unter der Gefahr, „Vampire" anzulocken.
Früher hatte ich Boris und seine Freunde oft begleitet. Obwohl ich immer der Jüngste dort gewesen war, hatte ich mich gut amüsiert. Ein Teil von mir vermisste diese Zeit. Die Zeit, in der es mein größtes Problem gewesen war, nach dem Tanzen nicht allzu sehr zu müffeln, wenn mein Schwarm sich zu mir stellte und mich durch ein einziges Grinsen vergessen ließ, wie man atmete. Dieser Teil von mir vermisste auch ihn.
„Wir könnten den Schlüssel zur Sporthalle klauen und da Party machen."
„Willst du dir echt noch mehr Ärger mit dem Dauland aufhalsen? Der hat jetzt schon genug von dir."
Alica betrachtete ihren Bruder kritisch. Er war wenige Minuten älter als sie, aber das hatte sie noch nie davon abgehalten, die Rolle der verantwortungsbewussten großen Schwester zu übernehmen.
Bei der Erwähnung unseres Direktors schnaubte Boris. Er konnte ihn mindestens genauso wenig leiden wie ich. Ich sah in ihm einen herrischen Mistkerl, der krampfhaft versuchte, seinen Schülern seine dubiosen Werte und Überzeugungen aufzudrücken. Boris hatte persönlichere Gründe. Dauland hatte oft vergeblich versucht, ihn zu zügeln. Er hatte es mit falschem Verständnis probiert, mit Strafen und Strenge, über Gespräche mit unserer Oma... Aber nichts hatte sich verändert. Bis seine Frustration mittels einer undurchdachten Äußerung überhandgenommen hatte: „Bei einem Kind wie dir kann man als Mutter ja nur krank werden. Dein Vater hätte dir deinen fehlenden Respekt schon vor langer Zeit einprügeln sollen."
Niemand hatte geahnt, wie tief das Boris getroffen hatte. Im Gegensatz zu mir hatte er nicht das Glück gehabt, einen verständnisvollen und einfühlsamen Papa zu haben. Alles, was Onkel Anton in der Lage war an Liebe zu geben, hatte Alica bekommen. Seine Zeit investierte er hauptsächlich in seine Arbeit und die Forschungen, die er betrieb. Das Geld floss in die Behandlung seiner Frau und für Boris waren dann nur noch Aggressionen übrig gewesen und unmöglich zu erfüllende Ansprüche.
Wenige Jahre, nachdem Anton Alica und Boris bei Oma untergebracht hatte, um sich gänzlich seiner Arbeit zu widmen, war ich dazugekommen. Boris und ich hatten viel über meinen Vater geredet, gerätselt, wie es ihm wohl gerade ging und wann er zurückkehren würde. Wir hatten das Ende des Kriegs herbeigesehnt, um wieder Zeit mit ihm verbringen zu können. Aber, wenn Boris' Vater zur Sprache gekommen war, dann war er immer ganz still geworden. Ich war mir sicher, ich hatte ihm deshalb versprechen müssen, niemals mit ihm oder sonst wem über seine Gedanken zu reden. Denn diese klangen ganz anders als nach betretener Stille und verletztem Stolz.
„Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich verspüre das dringende Bedürfnis, dem Dauland den Schlüssel zu klauen und ihm einen richtig schönen, großen, stinkenden Haufen auf den Schreibtisch zu setzen."
Es war klar, dass es dabei weniger um den Schlüssel ging als um Boris' Abneigung zu unserem Direktor. Aber die Botschaft dahinter gefiel mir. Das war eine Form des Ausdrucks, also quasi Kunst. Darüber konnte man sich als Direktor doch freuen.
„Direkt auf die Stirn wäre auch nicht schlecht", stimmte ich meinem Cousin grinsend zu.
„Ihr seid ekelhaft", stellte Alica klar. „Ihr werdet nirgendwo eure Haufen hinterlassen."
„Es müssen ja nicht unbedingt unsere sein."
Wegen Diskussionen wie solchen fühlte ich mich bei den beiden am wohlsten. Boris und Alica waren die einzigen Personen auf dieser Erde, die mich ehrlich zum Lachen bringen konnten.
Erst, als Oma dazu stieß, schwankten wir zu weniger fäkalienreichen Themen. Sie wackelte zum Sofa und ließ sich mit einem erschöpften Seufzen neben mir nieder. Ich musterte sie besorgt. Sie war schon lange nicht mehr bei bester Gesundheit, aber ich bildete mir ein, es würde jeden Tag ein kleines Bisschen schlechter werden.
Als Boris schließlich von der Bitte des Direktors erzählte, wurde sie hellhörig.
„Du bist also der Integrationsbeauftragte, weil der werte Herr Dauland seinen Job nicht gebacken bekommt? Sollst du demnächst auch noch unterrichten?"
Ihre Reaktion überraschte mich nicht. Sie hatte eine Gabe dafür Menschen einzuschätzen und an Dauland hatte sie noch nie ein gutes Haar gelassen.
„Dann lernt er vielleicht mal was."
Oma schmunzelte und tätschelte meine Hand. „Ich bin mir sicher, du bekommst das deutlich besser hin als diese Pappnase es könnte. Übernimm dich nur nicht, du ehrgeiziges Bienchen."
Boris unterdrückte ein Lachen, so krampfhaft, dass ihm ein ekelhaftes Grunzen entkam. Ich ignorierte es.
Ich mochte das Gefühl von Omas Hand auf meiner. Ihre Haut war zwar dünn und faltig, aber auch erstaunlich weich. Obwohl sie immer ein wenig zitterte, verband ich mit ihren Händen Stärke.
Nur ein paar Monate nach der Geburt meines Vaters war mein Opa verstorben. Meine Oma hatte also ein Kleinkind und ein Baby zu versorgen gehabt, während um sie herum der Krieg getobt hatte. Sie hatte Onkel Anton und meinen Vater alleine aufgezogen und ihnen, und auch uns, ein tolles Umfeld geboten. Ihre nun so schwach und gebrechlich wirkenden Hände hatten uns die Tränen weggestrichen, wenn wir traurig gewesen waren, uns im Stolpern abgefangen, als wir laufen gelernt hatten und uns festgehalten, wenn wir nicht hatten schlafen können. Für mich war diese Frau eine Heldin.
Etwa eine Stunde später zogen Boris und ich uns um und widmeten uns dem Bau unserer Hütte. Oder dem, was einmal eine Hütte werden sollte. Obwohl wir im Haus mehrere ungenutzte Zimmer hatten, die wir umbauen wollten, hatten wir uns letztes Jahr auf ein kleines Gartenhaus versteift, an dem wir seitdem arbeiteten. Boris hatte den Plan, in ein paar Jahren dort einzuziehen, um als minimalistischer Musiker zu leben, aber weiterhin alle Vorteile einer kochenden und Wäsche waschenden Oma nutzen zu können. Bis dahin konnte ich die Hütte als Rückzugsort nutzen, um ganz für mich zu sein, fern von den Gedanken und Sorgen anderer und ohne dafür im Wald umhertigern zu müssen.
Da es für Oma nicht in Frage gekommen war, Bäume aus dem Garten zu fällen, müssten wir uns darum kümmern, sie und nervige Sträucher zurecht zu stutzen. Boris sägte gerade ohne die Aussicht auf Erfolg an einem Ast herum.
„Dieses beschissene Holz ist hartnäckiger als mein Lebenswille."
Ich musterte seine Versuche abschätzig, während ich die Leiter sicherte, auf der er stand. Meine Vorschläge, die Säge anders zu halten, hatte er von sich gewiesen. Er wollte lieber riskieren, sich entweder die Hand abzusägen oder bis in zehn Jahren noch hier zu stehen. Mich übernehmen zu lassen kam nicht in Frage.
Es ging bereits auf den Abend zu. Die Sonne knallte noch immer auf uns herab und die Luft war trocken und stickig. Boris und ich trugen nur noch Arbeitshosen, Schuhe und Handschuhe, da es mit Oberteil nicht mehr auszuhalten gewesen war. Das Risiko eines Sonnenbrands nahm ich gerne in Kauf, um dieses eklige Gefühl eines vollgeschwitzten, klebenden Shirts nicht ertragen zu müssen.
Nach einer Weile des vergeblichen Sägens und Beschwerens stieß Alica dazu und überreichte jedem von uns eine gekühlte Flasche Wasser.
„Ich habe auch noch das hier dabei." Sie holte ein Eis hinter ihrem Rücken hervor. Vanille, überzogen mit knackiger Schokolade. Mein Lieblingseis. „Ist das letzte", fügte sie grinsend hinzu. „Wer mich überzeugt, bekommt es."
Boris und ich tauschten einen kurzen Blick aus und stürzten uns im nächsten Moment wie hungrige Geier auf sie. Erschrocken warf sie das Eis in die Luft, flüchtete zurück ins Haus und überließ uns unserem Kampf.
Boris griff in den Bund meiner Hose, um mich daran zurückzuziehen. Ich rammte ihn dafür kräftig mit der Schulter, sodass er zu Boden fiel. Von da aus kickte er gegen meine Kniekehle und ich knallte frontal ins Gras. Nur eine Sekunde später schlug das Eis neben mir auf dem Boden ein und war dahin.
Sofort begannen wir zu streiten. Wir redeten den ganzen Abend nicht mehr miteinander. Ja, es war absurd, was der Verlust dieses Eises mit uns anrichtete. Nichts bewies besser, dass es noch Momente gab, in denen wir trotz aller Probleme auf dieser Welt, und speziell in unseren Leben, normale Kinder waren, für die es wenige Minuten lang nichts Wichtigeres gegeben hatte als der Verzehr eines kostbaren Eises.
Damals hatten wir diesen Luxus nicht zu schätzen gewusst. Rückblickend macht genau das Erinnerungen wie diese umso wertvoller.
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