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Silas
Manche Veränderungen kommen so plötzlich und unverhofft, dass sie einem den Boden unter den Füßen wegreißen. Man verliert einen geliebten Menschen und auf einmal ergibt nichts mehr Sinn.
Andere schleichen sich langsam ein und man bemerkt sie erst, wenn man sich an früher zurückerinnert und erkennt, dass nun alles anders ist.
Noch vier Monate zuvor hatte meine größte Herausforderung daraus bestanden, jeden Tag hinter mich zu bringen. Ich hatte mich für einen durchschnittlichen Jugendlichen gehalten, einen Bilderbucheinzelgänger, der nichts mit sich anzufangen wusste und dem eine unbesondere Zukunft als namenloser Niemand in der Masse bevorstand. Ich hatte nicht damit gerechnet, mich in den Prinzen der Erwachten zu verlieben und schon gar nicht damit, dass dieser ähnliche Gefühle für mich hegen würde.
Aber es war passiert. Ich hatte erfahren, dass die Menschheit, fehlgeleitet von Vorurteilen, viel zu gerne Krieg führte, hatte gelernt, dass es keine Vampire gab, sondern nur unsere Unfähigkeit, Verständnis für etwas Fremdes aufzubringen. Etwas, das uns Angst machte. Ich wusste nun von Druiden und Jägern und, dass meine Familie und somit auch ich Teil davon war. Zugleich hatte ich unendlich viele offene Fragen und niemanden, der sie mir beantworten konnte.
Ich konnte nichts tun, um Boris zu helfen. Er musste sich erholen und Charlie übernahm den Rest. Trotzdem wollte ich bei ihm sein. Mir sein blödes Gesicht anschauen. Sichergehen, dass alles wieder gut werden würde.
Nach meinem Klopfen an Charlies Tür, ertönte ein leises: „Herein."
Charlie war Boris bisher keine Sekunde von der Seite gewichen war. Es sah so liebevoll aus, wie er neben ihm saß und ihm konzentriert das getrocknete Blut von den Wangen wischte. Der Umstand, dass Boris nicht redeten konnte, machte es Charlie deutlich leichter, für ihn da zu sein.
„Ich wollte nicht stören."
„Tust du nicht. Ich bin gleich fertig."
Boris lag ruhig da. Er schwitzte nicht mehr, er verzog sein Gesicht nicht mehr, er krampfte nicht mehr. Es wirkte so, als würde er schlafen.
Es war schwer zu glauben, dass er in ein paar Wochen wieder der Alte sein sollte. Dass er mir wieder Streiche spielen, auf die Nerven gehen und mich in den Wahnsinn treiben sollte. Aber ich wünschte mir nichts mehr als das.
„Ich habe gehört, wie du dich mit Benedict angelegt hast", meinte Charlie nach einiger Zeit zusammenhangslos. Er erhob sich von der Bettkante und deckte Boris sorgfältig zu. „Er ist grade in einer schwierigen Situation. Wenn du den Bogen überspannst, kann es schnell unschön für dich und deine Familie werden."
Ich zog die Augenbrauen hoch. „Versuchst du mir zu drohen?
„Ich versuche, dich zu warnen", widersprach Charlie mit ernstem Blick. „Ich kann für Boris' Sicherheit garantieren, solange er als mein Gefährte gilt, aber nicht für eure. Tu dir selbst einen Gefallen und lerne, in manchen Situationen den Mund zu halten."
Obwohl Charlies Direktheit mich eiskalt erwischte, sah ich den Sinn hinter dem, was er sagte. Für Kian war es sicher auch alles andere als angenehm, wenn ich mich mit seinem Vater in die Haare bekam.
Charlie setzte sich auf den Sessel, den er gestern für Alica herangeholt hatte und überließ mir den Platz bei Boris auf dem Bett.
Mir fiel auf, wie kalt er war. Gestern hatte er noch am ganzen Körper geglüht. Nun war er blass und eisig. Besorgt deckte ich ihn weiter zu.
Die Zeit verging unendlich langsam. Ich verstand nicht, wie Charlie es schaffte, rund um die Uhr bei Boris zu bleiben und so geduldig zu sein. Mir reichten ein paar Minuten und ich wollte die Wände hochrennen. Gleichzeitig war ich so müde, dass es mir schwerfiel, die Augen offenzuhalten. Charlie bemerkte das.
„Du kannst dich zu ihm legen, wenn du magst."
Ich schüttelte den Kopf. Boris und ich hatten oft zusammen im Bett geschlafen. Er trat mich jedes Mal, klaute mir die Decke und kuschelte sich im Schlaf an mich ran. In dieser Reihenfolge. Ich würde nicht zur Ruhe kommen können, wenn das fehlte. Wenn er fehlte.
„Ich gehe in Kians Gemach."
Ich war nicht scharf darauf, alleine zu sein, aber ich hoffte, wenn ich schlief, dann würde ich davon wenig mitbekommen.
Ich schleppte mich auf den Flur. Aus dem Augenwinkel erkannte ich Kian auf mich zukommen. Sein Hals war voller Blut und sein Shirt ebenso.
„Was ist passiert?", fragte ich ihn alarmiert.
„Ich habe mit meinem Vater trainiert."
Ich folgte ihm in sein Badezimmer. Selbst, als er sich auszog, hörte ich nicht auf, ihn zu mustern, um festzustellen, wo er sich verletzt hatte.
„Austin hat mich geheilt." Er warf sein Shirt auf den Boden und stützte sich danach mit den Händen an seinem Waschbecken ab, den starren Blick im Spiegel.
„Hat dein Vater es dir erzählt?"
Er nickte und schüttelte kurz danach den Kopf. „Ich kann nicht fassen, dass ich so blind war, nicht zu bemerken, wie meine eigene Mutter im Sterben liegt. Und wie Austin das jahrelang vor mir geheim halten konnte. Ich dachte immer, er steht auf meiner Seite."
„Er durfte es dir nicht sagen." Ich ging langsam auf ihn zu, vorsichtig.
So hatte ich ihn noch nie erlebt. Ich wusste nicht, wie er reagieren würde, wenn ich ihm zu nahekam. Vielleicht wie eine Raubkatze, die unter dem Gefühl bedroht zu werden anfing auszuschlagen. Oder wie ein Fass, das unter zu viel Druck explodierte.
„Er hat sein Bestes getan, um zu versuchen, sie zu heilen. Aber sie wissen nicht, was mit ihr los ist, deshalb-"
„Ich weiß das!"
Ich zuckte zusammen.
Jede Faser seines Körpers war angespannt. Jede Zelle schien zu brüllen. Er richtete sich auf und drehte mir den Rücken zu, raufte sich dabei die Haare.
„Deshalb wollte sie, dass ich so schnell heirate", murmelte er. „Sie wollte dabei sein und sich sicher sein können, dass ich eine gute Frau zur Königin mache."
„Du klingst so als sei schon alles verloren. Meine Oma kann ihr bestimmt helfen. Sie kennt sich aus mit Kräutern und esoterischem Zeugs. Wir waren als Kinder nie lange oder ernsthaft krank, weil sie uns immer wieder sofort auf die Beine gebracht hat."
„Meine Mutter hat keine einfache Grippe, Silas." Er drehte sich zu mir, sein Blick voller Trauer, obwohl er doch so wütend klang. „Und deine Oma ist auch nicht hier, um sie zu heilen, sondern, um sie solange am Leben zu halten, bis ich mit einer Heilung zurückkomme."
„Wie meinst du das?"
Es war nicht leicht gewesen, überhaupt etwas in Benedicts gedanklichem Chaos zu verstehen. Offensichtlich war ein wichtiger Teil an mir vorbeigegangen.
Kian klärte mich darüber auf, dass diese Jayna einige Krankheiten, Epochen und Seuchen auf rätselhafte Weise überlebt hatte. Über die Gerüchte, die sich deshalb unter alten Erwachten um sie und ihr Reich rankten und darüber, dass Kians Vater es für die letzte Chance seiner Mutter hielt. Während er mir all das erzählte, verlor er zunehmend an Anspannung. Sein Zorn ließ nach und seine Trauer nahm Überhand.
„Ich werde nicht zulassen, dass sie stirbt. I-ich... Ich kann sie nicht v-verlieren."
Er presste die Lippen fest zusammen, genauso wie seine Augen. Eine Träne rannte seine Wange hinab.
Ich war mir nicht sicher, ob er beschlossen hatte, so lange zu kämpfen, bis er eine Lösung gefunden hatte oder ob er die Hoffnung bereits aufgegeben hatte. Aber egal, was es war, er musste da nicht alleine durch.
Ich holte ein Handtuch aus dem Schrank, wickelte seinen nackten Oberkörper darin ein und schlang die Arme darum. Durch seine geknickte Haltung, konnte er seinen Kopf an meiner Schulter ablegen. Er krallte seine Finger an meine Seiten und hielt sich daran fest.
„Du musst auf sie aufpassen, wenn ich weg bin", flehte er. „Geh mit ihr spazieren, bring ihr Blumen aus dem Garten, und rede mit ihr über Bücher oder Musik. Sorg dafür, dass sie nicht allein ist. Bitte."
Schon nach seinem ersten Satz hatte ich begonnen zu nicken.
„Das werde ich. Und ich werde netter zu deinem Vater sein und ich werde mir alles merken was passiert und wenn du zurückbist, erzähle ich es dir, sodass es so ist als wärst du die ganze Zeit dabei gewesen."
„Und denk an mich", fügte er leise hinzu. „Stell dir vor, dass ich neben dir liege, wenn du einschläfst und dass ich deine Hand halte, wenn du dich einsam fühlst. Schreib alles auf, was du mir sagen willst, damit du nichts vergisst."
„Versprochen."
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