46

Kian

Nachdem ich mich von den Strapazen des Tages reingewaschen hatte, gesellte ich mich zu Silas. Er saß auf dem Fensterbrett, sein Kopf lehnte an dem weißen Holz des Rahmens, sein Blick hatte sich am Horizont festgesetzt und ein Buch lag geschlossen in seinem Schoß.

„Wie fühlst du dich?", fragte ich ihn leise.

„Platt. Aber ich glaube nicht, das ich schlafen kann."

„Soll ich dir von dem Buch erzählen?" Ich deutete auf den Roman, den er sich aus meinen Regalen genommen hatte.

Er ließ seinen Blick über das Cover wandern und schüttelte den Kopf. „Ich will es selbst lesen, sobald ich mich konzentrieren kann. Aber du darfst mir sagen, was dein Lieblingsbuch ist."

„Oh nein, ich muss mich entscheiden? Bitte zwing mich nicht dazu!"

„Ich würde dich niemals zu etwas zwingen."

Wir sahen einander an und ich wusste, es gab nichts mehr zu sagen. Worte wurden überflüssig. Versprechen waren bedeutungslos. Taten zählten.

Ich stellte mich näher an ihn heran. Vermutlich sogar etwas zu nah. Aber ich wollte bei ihm sein. Ich wollte ihn spüren. Ich wollte, was ich nicht haben konnte.

Er schloss die Augen und lehnte seinen Kopf an mich, wurde immer ruhiger je länger wir so verblieben. Bald legte ich die Arme um ihn und drückte ihn an mich. Dadurch gab ich ihm den Halt, nach dem er verlangte und nahm mir die Nähe, nach der ich mich sehnte.

Lächelnd blickte ich auf seinen schwarzen Haarschopf herab. Auf mein fragendes Flüstern seines Namens reagierte er nicht. Er war eingeschlafen. Und ich war glücklich.

Das Geschehen der gesamten Welt spielte sich nur noch hier ab. Alles außerhalb meines Gemaches zerfiel zu Staub. Es gab keine Leute mehr, keine Forderungen, keine Zeit. Nur uns.

Silas brummte unzufrieden, als ich ihn vorsichtig in meinem Bett ablegte. Ich hatte nicht riskieren wollen, ihn aufzuwecken, keinesfalls. Aber Nackenschmerzen wollte ich ihm auch nicht zumuten.

„Bleib bei mir", murmelte er, noch während ich meine Arme von ihm nahm, und tastete blind um sich.

Ohne eine Sekunde darüber nachzudenken, schob ich mich hinter ihm auf die Matratze und legte die schwere Decke über uns. Silas murrte verschlafene Laute und drehte sich, um mich anzusehen, konnte seine Augen aber nicht offenhalten.

„Du bist müde."

„Ich will nicht schlafen."

Wir nutzten nicht einmal die Hälfte meines Bettes. So konnte ich die Wärme seines Körpers spüren.

„Ich kann dich aufwecken, wenn es Neuigkeiten gibt."

„Nicht deswegen. Ich will", er seufzte, „ich will das hier nicht verpassen...Mit dir hier zu sein." Er legte die flache Hand an meiner Brust ab, ehe er seinen Kopf daran schmiegte. „Ich mag nicht einschlafen und dann die Augen öffnen und diese Zeit mit dir nicht genutzt haben."

Ich musste lächeln. „Okay. Dann bleiben wir wach."

Silas schlug die Augen auf. Dankbarkeit sah mir entgegen, Freude und Zuneigung.

„Erzähl mir was", forderte er dann.

„Was denn?"

Silas überlegte. Dabei schlich sich ein verschmitztes Grinsen auf seine Lippen: „Ein Geheimnis."

Ich schmunzelte. Alle Sorgen und Ängste waren verschwunden. Meine Gedanken hatten sich meinen Gefühlen unterworfen und ließen sich von meinem Herzen beherrschen. Es war ein absolutistischer Machthaber. Es wusste genau was es wollte und tat alles, um es zu bekommen. Kein Argument war stark genug, ihm zu widersprechen. Selbst die Logik hatte begriffen, dass ihr Kampf verloren war, und zog sich in voller Demut zurück.

„Ich habe dich damals Wald ewig beobachtet. Wenn ich nicht über eine Wurzel gestolpert wäre, hätte ich dich wohl nie angesprochen."

„Ich wusste es!", stieß Silas triumphierend hervor. „Ich bin mir total paranoid vorgekommen, aber als ich dich gesehen habe, war mir klar, dass du mich gestalkt hast."

„Ich habe dich zu informationszwecken beobachtet."

„Das sagen alle Stalker."

„Kennst du dich damit etwa aus?"

„Natürlich. Hast du die meterlange Schlange von liebeskranken Verehrern hinter mir etwa übersehen?"

„Scheint so."

Silas begann zu kichern. „Man könnte fast meinen, du bist eifersüchtig, so süß wie du jetzt schmollst."

„Ich schmolle nicht. Und süß bin ich auch nicht."

Er sah mich belustigt an. „Dagegen eifersüchtig zu sein sagst du nichts?"

Ich zuckte bloß mit den Schultern.

Seine Lider fielen müde herab, doch seine Lippen verweilten zu seinem breiten Lächeln geformt.

„Du bist wunderschön", hörte ich mich murmeln. Es klang ungläubig. Ich konnte nicht fassen, dass Träume wohl doch Realität werden konnten. „Ich habe inzwischen bestimmt schon über hundert Skizzen von dir gemacht, aber ich finde keine sieht dir auch nur ansatzweise ähnlich. Irgendwas fehlt immer. Aber ich habe es auch nie zu Stande gebracht, sie wegzuschmeißen. Deshalb stapeln sie sich in meinem Schreibtisch. Wenn das jemand sieht, denkt er ich bin total besessen von dir."

Ein süßer Rotton hatte sich auf seine Wangen gelegt. Sein Lächeln reichte mittlerweile bis zu seinen Ohren. Ein weiterer Anblick, den ich zu gern auf Paper festhalten würde.

„Vielleicht bist du das."

„Vielleicht."

Mein Blick schoss von seinen Lippen zu seinen Augen, als er sie langsam öffnete. Er legte seinen Kopf ein wenig näher zu mir und rutschte mit dem Körper nach.

„Was ist, wenn wir einschlafen und du mich ausversehen berührst?"

„Das wird nicht passieren."

Dafür war ich zu achtsam. Ich würde nicht schlafen, wenn und auch nur die geringste Wahrscheinlichkeit bestand, ihn zu gefährden. Lieber erfror ich auf dem kalten Steinboden.

„Und was ist, wenn ich will, dass du mich berührst?"

Er führte meine Hand, noch während er das sagte, am Unterarm zu sich, sodass sie auf seiner Hüfte zum Liegen kam. Sein intensiver Blick machte mich unglaublich nervös. Ich glaube, ich hielt sogar den Atem an. Und ich wartete. Solange, bis er meine Hand weitersteuerte. Diesmal so, dass sie auf seinem Hintern landete.

„Willst du das auch?", fragte er, noch leiser als zuvor.

Mein energisches Nicken brachte ihn erneut zum Kichern.

Wie meine Hand begonnen hatte, von seinem Hintern zu seinem Oberschenkel zu streichen – und wieder zurück – hatte ich nicht mitbekommen. Ich wusste nicht, wer von uns dies initiiert hatte. Ich wusste nur, dass es mir gefiel.

Seufzend schloss er die Augen. „Das ist schön."

„Hey, nicht einschlafen", flüsterte ich.

„Mach ich nicht. Ich genieße."

Erfreut setzte ich die Bewegungen fort, eine ganze Weile lang. Ich tat dabei nichts Anderes als zuzusehen, wie er dalag und lächelte. Dennoch schlichen sich störende Gedanken in mein Bewusstsein. Gedanken, für die kein Platz in diesem Bett war.

Silas schien zu bemerken, wie ich versuchte, sie zu vertreiben. Er öffnete er die Augen und fragte mich, ob ich über etwas reden wolle.

„Ich habe über dich und Benjamin nachgedacht", gestand ich, konnte ihm dabei aber nicht in die Augen sehen. Es war seltsam darüber zu reden, obwohl er zuvor nie ein Wort darüber verloren hatte.

„Ich war nicht bereit, dir von ihm zu erzählen. Ich habe es gerade erst geschafft, mich wegen meines Vaters zu öffnen und das mit Ben... Das... war kompliziert."

„Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst. Deshalb regt es mich so auf, was die Presse da abzieht. Es ist, als würden die alle ihre Menschlichkeit abschalten, wenn es darum geht, Schlagzeilen mit sensiblen Themen zu machen. Das macht mich so wütend."

Ich klang nicht wütend, sondern frustriert. Ich hatte mir vorgenommen, Silas zu schützen und auf ganzer Linie versagt.

„Mich auch", stimmte er leise zu. „Aber daran können wir nichts ändern. Wir haben nur Einfluss darauf, wie wir damit umgehen."

Ich seufzte. „Du hast ja recht."

Kurz war es still zwischen uns. Dann begann er an dem Stoff meines Oberteils herumzuzupfen und ich bemerkte, dass er sich etwas von mir entfernt hatte.

„Willst du gar nichts dazu sagen? Zu den ganzen Bildern und dem, was ich alles angestellt habe?"

„Was soll ich dazu sagen wollen? Es gibt sicher Tausende, von denen man ähnliche Bilder und Geschichten gefunden hätte. Wenn man sich genügend Mühe macht, findet man sowas leicht. Ich verstehe nur nicht, wie die Leute daraus ernsthaft so ein großes Ding machen können und sich komplett weigern zu sehen, was dahintersteckt."

Silas' Nicken hielt mich davon ab, mich in Rage zu regen. Mit dem Zeigefinger zeichnete er undefinierbare Muster auf meine Brust, während er mir davon erzählte, dass Boris zu Kriegszeiten spätestens nächsten Monat vom Bund eingezogen worden wäre, um zum Soldaten ausgebildet zu werden. Er selbst ein halbes Jahr später.

„Das Gleiche ist auch mit Ben passiert. Wir wussten von klein auf, dass es mal soweit sein wird und wir haben es bei Leuten aus der Schule mitbekommen, aber als der Tag dann kam, hat es uns den Boden unter den Füßen weggerissen. Ben hat immer so getan, als würde es ihn nicht interessieren. Als würde er hingehen, seine fünf Jahre ableisten und dann nachhause kommen als sei nichts gewesen. Ich glaube, er dachte, es wäre leichter für seine Familie, wenn niemand merkt, dass er nicht für etwas kämpfen will, an das er nicht glaubt. Aber bei unserem Abschied war allen klar, dass das nur Show war", er schnaubte. „Es hat mich kein Bisschen schockiert zu erfahren, dass er sich kurz vor seinem ersten Einsatz umgebracht hat. Ich meine, klar war ich traurig... aber nicht überrascht. Oder ich war schon zu abgestumpft von dem Tod meines Vaters, um es noch wahrnehmen zu können."

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