45
Silas
Es vergingen Stunden, bis Charlie mit der Behandlung anfangen konnte. In der Zeit stellte er alles auf den Flur, was er nicht gebrauchen konnte und holte alles rein, was er brauchte. Als er damit fertig war, sah sein Gemach aus wie ein Krankenzimmer. Richtig trostlos. Das einzige, was diesem Bild einen Abbruch tat, war das Piano mitten im Raum.
Alica saß in einem gepolsterten Sessel, während Charlie ihr Blut abnahm. Er hatte sie darüber aufgeklärt, dass er mehr brauchte als bei einer herkömmlichen Blutspende zugelassen, überwache ihre Kondition aber mit seinem Gehör und stelle so sicher, sie nicht in Lebensgefahr zu bringen.
„Wieso sieht es so aus als wüsstest du genau, was du da tust?"
„Ich habe einige Male Medizin studiert", antwortete Charlie, mit konzentriertem Blick auf Alicas Arm. „Sowohl an menschlichen Universitäten als auch bei uns."
„Nicht unbedingt, was ich mit der Ewigkeit anfangen würde, aber okay."
Auf die Frage, wie alt er sei, antwortete er nicht. Stattdessen klärte er sie darüber auf, dass sie sich in nächster Zeit etwas schwach fühlen würde und sie eine Weile sitzen bleiben solle, damit ihr Kreislauf nicht nachgab. Den Sessel, in dem sie saß, schob er zum Bett, damit Alica wieder näher bei Boris und mir sein konnte.
„Es ist seltsam", meinte sie nach einem langen Blick auf ihren Bruder. „Er wirkt irgendwie friedlich."
Ich nickte. „Er ist ruhiger geworden. Vielleicht hat er mitbekommen, dass wir eine Lösung haben."
Die Tür öffnete sich ständig, wenn Austin reinkam und neue Sachen brachte. Diesmal hatte er Maddy im Schlepptau. Sie informierte sich über Boris' Lage, entschuldigte sich dafür, dass sie nicht früher hatte da sein können und fragte, wie sie sich nützlich machen konnte.
Nach meinem Anruf hatte es nur wenige Minuten gedauert, bis Charlie vor unserer Tür gestanden hatte. Er hatte sich Boris angesehen und beschlossen, ihn mitzunehmen. Natürlich hatten wir sofort protestiert und uns geweigert, ihn alleine zu lassen. Charlie das schnell eingesehen und uns dazu aufgefordert, ihm zu folgen. Ich wusste, dass wir in den Wald gegangen waren, aber daran, wie wir von dort in den Palast gekommen waren, konnte ich mich nicht erinnern.
Charlie uns gerade ein weiteres Mal, was genau er mit Boris vorhatte, als Kian sich still zu mir setzte.
Ich wusste nicht, was ich mit ihm anfangen sollte. Zurücklächeln, ihn abweisen, von ihm wegrutschen. Also tat ich nichts und hörte Charlie weiter zu.
„Ich brauche dann jetzt etwas Ruhe, um weiter zu machen. Kian und Maddy bringen euch raus."
Die beiden waren dazu bereit, Charlies Kommando umgehend zu folgen. Alica und ich nicht.
„Was, wenn du plötzlich Lust auf Blut bekommst?" Alica verschränkte entschlossen die Arme. „Wer hält dich dann davon ab, ihn auszusaugen?"
„Ihr könntet das ohnehin nicht. Abgesehen davon habe ich seit Jahrhunderten kein Menschenblut mehr getrunken und auch absolut kein Verlangen danach."
Meine Cousine und ich sahen einander an und beschlossen einvernehmlich, dass das nicht reichte, um das Feld zu räumen. Charlie erkannte das.
„Ich will genauso wie ihr nur das Beste für Boris. Deshalb brauche ich meine ganze Konzentration und mich dabei von euch misstrauisch beäugen lassen zu müssen, ist eindeutig kontraproduktiv. Ihr könnt in ein paar Stunden wieder zu ihm."
Mein Verstand meldete sich zu Wort. Er machte mir klar, dass es am besten wäre zu tun, was Charlie verlangte. Er wollte Boris helfen. Seinem Gefährten, für den er alles stehen und liegen gelassen hatte, als er erfahren hatte, dass es ihm nicht gut ging. Seinem Gefährten, der im Glauben der Erwachten einen Teil vom ihm war. Den schönsten und wertvollsten Teil, den man verehren, lieben und schützen sollte. Den Teil, der einen lebendig machte.
Charlie würde Boris nichts tun. Dafür war er ihm zu wichtig.
Mit einem Nicken zur Tür deutete ich Alica unseren Rückzug an. Gleichezeitig machte ich Charlie klar, dass wir in der Nähe bleiben würden.
Es fiel mir unglaublich schwer, auch nur die Augen von Boris zu nehmen. Geschweigedenn mich von der Bettkante zu erheben und ihm den Rücken zuzudrehen. Das Gefühl, ihn hilflos zurückzulassen, fraß sich durch meine Organe und lieferte sich einen erbitterten Kampf gegen die schwache Zuversicht, dass Boris bei Charlie tatsächlich gut aufgehoben war.
„Möchtest du dich hinlegen?", bot Maddy Alica an, während sie sie auf dem Weg zum Flur stützte.
Meine Cousine war blass und wirkte erschöpft. Ich war froh um Maddys Angebot und vor allem darüber, dass Alica es nach einem kleinen Zögern annahm.
Sie tastete sich mit einer Hand an dem kalten Gemäuer neben sich voran und ließ sich an der anderen von Maddy stützen. Als sie dann in hinter einer Tür nur wenige Meter weiter verschwanden, schoss mein Blick hoch zu Kian.
„Mein Gemach ist gleich gegenüber. Du kannst dich darin ausruhen, wenn du möchtest."
Ich seufzte. „Ich kann mich, glaube ich, gerade nicht ausruhen."
„Okay, aber du könntest dir meine Dekoration anschauen."
Es war absurd. Ein paar Sekunden mit ihm, ein einziger Satz, und er brachte mich zum Lachen. Dieses Lachen sprengte den Berg an Anspannung in mir. Und es endete in Tränen.
„Das würde ich gerne", murmelte ich, mit gesenktem Blick und im Versuch, mir unauffällig die salzige Flüssigkeit von den Wangen zu streichen.
„Komm mit."
Ich spürte Kians Körper neben mir. Er legte seine Hand an meinen Rücken und wies mir die Richtung.
Wir gingen wenige Schritte, dann öffnete er eine Tür und trat mit mir in sein Gemach. Ich konnte nichts davon erkennen. Meine Tränen ertränkten meine Sicht. Ich merkte nur, dass es dunkel wurde und ich erkannte einen weißen Stoff vor mir, der sich über eine breite Brust spannte. Wenige Sekunden später lehnte ich dagegen und hatte zwei Arme um mich, die mich fest, aber behutsam daran drückten.
Kian sagte nichts. Er stand nur da und hielt mich fest, obwohl ich nicht darum gebeten hatte und obwohl ich nicht darum gebeten hätte. Er wusste, was ich brauchte und er gab es mir ohne etwas dafür zu erwarten. Keinen Dank, keine Anerkennung, keine Gegenleistung. Er war nach wie vor der, in den ich mich verliebt hatte. Ein ruhiger, freundlicher, mitfühlender junger Mann mit einem großen Herzen. Und nur er konnte diese Situation erträglich machen.
„Es ist in letzter Zeit so viel Scheiß passiert." Meine Stimme zitterte.
„Ich weiß", flüsterte er zurück. „Es tut mir leid, dass das alles so gekommen ist."
Ich mochte es, wie seine große Hand über meinen Rücken strich und er mich ganz nah bei sich hielt. Meine Finger entspannten sich und mir fiel mir auf, wie fest ich sie in den Stoff seines Pullovers gekrallt hatte. Nun lagen sie flach da, auf seiner Brust, und ich wollte sie nie wieder wegnehmen oder auch nur daran denken, jemals wieder irgendwo anders zu sein als hier. Ich fühlte mich sicher und geborgen. Ich konnte herunterfahren. Loslassen.
„Mir tut es leid, dass ich dich ignoriert habe. Ich war überfordert und sauer und ich musste darüber nachdenken, ob ich dir glauben will, dass du mich magst."
Ich schniefte trocknete meine Wange durch eine kleine Bewegung meines Kopfs an seinem Pullover ab.
„Und wie hast du dich entschieden?"
„Natürlich will ich nicht", es klang deutlich zickiger als beabsichtigt. „Aber ich tu's trotzdem."
Dass meine Tränen langsam versiegten, war kein Grund, uns voneinander zu lösen. Es ging nicht nur ums Trösten, sondern auch darum Zuneigung zu zeigen und die Gelegenheit zu nutzen, kurz zusammen zu sein. Uns selbst und einander wahrzunehmen und alles, was das in uns auslöste.
Ein kräftiges Klopfen an der Tür ließ mich aufschrecken. Kian schob mich hektisch an den Schultern von sich weg und ich blickte verwirrt zu ihm hoch.
„Euer Vater hat Euch etwas zu essen bringen lassen!"
Er atmete erleichtert aus und begann zu nicken, während er auf die geschlossene Tür sah. „Danke, Carla. Lass es bitte draußen stehen!"
Als er mich wieder an sich drücken wollte, wendete ich mich aus seinem Griff und ging einen Schritt zurück. „Was dachtest du, wer da kommt?"
„Mein Vater. Er hat mir vorhin sehr deutlich gemacht, dass wir uns nicht nahestehen sollten."
Meine Augen kniffen sich zusammen. „Einfach so oder wegen der schlechten Presse?"
„Wegen allem", seufzte er. Sein Blick fiel auf den Boden. „Mein Vater will dem Volk Stabilität signalisieren. Dafür wird er bald meine Verlobung verkünden."
Wieder brachte er mich zum Lachen. Diesmal alles andere als erleichternd. Mein Kopf schüttelte sich. Ich wollte unendlich viele Dinge sagen, doch mir entkam kein Wort.
„Meine Mutter will schon länger, dass ich Maddy zur Frau nehme. Ich soll sie nach meiner Rückkehr heiraten. Aber das ist alles nur zum Schein und mein Vater hat selbst gesagt, hinter verschlossenen Türen darf ich machen was ich will."
Wieso versuchte er, dabei aufmunternd zu klingen?
Glaubte er ernsthaft, das machte es irgendwie besser?
„Kian", ich hauchte seinen Namen fassungslos, „das kannst du doch nicht mit dir machen lassen."
Die Vorstellung, wie er jemanden heiratete, den er nicht aus freien Stücken heiraten wollte, brach mir das Herz. Es sähe anders aus, sei er in Maddy verliebt. Doch das war er nicht. Er war in mich verliebt.
„Ich habe keine Wahl. Mein Vater will es so."
„Ist doch egal, was dein Vater will! Das ist dein Leben!"
„Mein Leben gehört ihm." Er hatte noch nie so belehrend geklungen, wenn er mit mir gesprochen hatte. Mich noch nie so autoritär angesehen. „Er ist der König. Er entscheidet und ich tue, was er will."
„Ist es denn gar nicht wichtig, was du willst?", hauchte ich mit schwacher Stimme.
Kian vorzuschreiben, mit wem er sein Leben verbringen sollte, ging zu weit. Der König hatte kein Recht dazu. Obwohl ich mir sicher war, dass er sich einen Scheiß für meine Meinung interessierte, wollte ich nichts lieber, als ihm das ins Gesicht zu sagen. Es stand Kian zu, alleine Entscheidungen zu treffen. Er würde nie etwas leichtsinnig tun und schon gar nichts, das seinem Reich oder seinen Eltern auch nur ansatzweise schaden konnte. Er hatte es verdient, ein klein wenig Glück für sich zu beanspruchen.
Kian ging an mir vorbei, öffnete die Tür und holte den Wagen, der davorgestanden hatte, rein. „Du solltest etwas essen. Falls du bestimmte Wünsche hast, kann ich sie weitergeben."
Ich antwortete bloß mit einem Kopfschütteln, schenkte dem Wagen mit allerhand gut duftenden und lecker aussehenden Gerichten, keine Beachtung.
„Ich stelle dir für die Dauer deines Aufenthalts mein Gemach zur Verfügung. Dann bist du so nah bei Boris wie es geht. Du kannst solange hierbleiben, wie du willst. Wenn du irgendetwas brauchst, wendest du dich an mich, Maddy oder Austin. Hinter dieser Tür befindet sich ein Ankleidezimmer und hinter dieser ein Badezimmer. Fühl dich wie zuhause."
„Wieso klingt das so als würdest du mich gleich allein lassen?"
Sein Gemach war kein einzelnes Zimmer, sondern eher ein riesiges Apartment. Allein sein Bett war größer als alles, was ich jemals gesehen hatte. Aber all das interessierte mich nicht. Auch die Dekoration war mir egal. Ich wollte nur nicht, dass er ging.
„Ich dachte, du braucht etwas Zeit für dich."
Sofort schüttelte ich den Kopf. Es wunderte mich selbst. Ich wollte mich zwar zurückziehen und mit nichts mehr konfrontiert werden, doch ich konnte mir gerade nichts Schlimmeres vorstellen als alleine zu sein. Ich brauchte Kian als Ablenkung und als Trost und als Halt. Ich brauchte ihn. Alles, was er mir gab und alles, was er mir nicht geben durfte.
„Soll ich hierbleiben?"
Ich kam mir erbärmlich dabei vor, sofort willig zu nicken.
„Möchtest du ein Bad nehmen?"
Ich sah auf meine mit Boris' Blut verschmierten Finger und nickte erneut. Kian hatte sich keine Sekunde darüber beschwert, dass ich seinen Pullover damit eingesaut hatte.
„Komm."
Ich folgte ihm in sein Badezimmer, und sah mich staunend darin um. Für mich kam das einem kleinen Thermalparadies gleich. Er hatte sogar eine Massageliege dort stehen.
Kian fasste in ein Becken und wischte sich die nasse Hand am Oberteil ab. „Sollte schön warm sein."
Er erklärte mir, dass es sich bei dem kleinen Bassin um einen übergroßen Boiler handelte. Dieser passte das Wasser, das konstant aus einer Wand in die Wanne fiel, der gewünschten Temperatur an. Ich bestaunte den kleinen Wasserfall und versuchte, mich zu entscheiden, ob ich all das für absolut übertrieben oder einfach nur genial hielt.
„Ich hole dir frische Sachen zum Anziehen. Handtücher sind da drüben. Schau mal, ob dir die Temperatur passt."
Ich trat an ihn heran, um meine Hand ebenfalls überprüfend ins Becken zu halten. Das Wasser war sehr warm. In diesem Moment genau das richtige. Ich konnte mir nichts Besseres vorstellen, als darin vor mich hinzukochen.
„Passt so, denke ich."
Durch seine Aussage war deutlich geworden, dass ich hierbleiben sollte, während er Klamotten holen ging. Trotzdem folgte ich ihm Schritt für Schritt, diesmal ins Ankleidezimmer. Kian schaute mich kurz verwirrt an, lächelte dann aber verstehend.
Ich durfte mir in seinem riesigen Kleiderschrank etwas zum Anziehen raussuchen. Er erzählte mir, für die Sachen, die er zu einem bestimmten Anlass tragen musste, hatte er eine extra Garderobe mit Hemden, Hosen, Schuhen, Korsettwesten und Mänteln.
„Du lebst in einem Märchen", murmelte ich vor mich hin.
„Das würde bedeuten, ich bekomme ein Happy End."
Aus seinem Mund klang das wie ein Ding der Unmöglichkeit. Und ich hatte nichts, womit ich widersprechen konnte.
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