44
Kian
Stumm folgte ich meinem Vater durch die Flure des Palastes. Seine Schritte waren schnell und rhythmisch. Obwohl ich größer war als er, lief er immer ein paar Meter vor mir und ich schaffte es nicht aufzuschließen.
Unser Weg führte zu Charlies Gemach. Ohne zu zögern, öffnete mein Vater die und trat ein. Ich folgte ihm.
Die Szenerie der nächsten Sekunde war überwältigend: Charlie und Austin brüllten einander an. Boris lag in Charlies Bett, Alica und Silas saßen daneben, auf je einer Seite von ihm. Und uns, meinen Vater und mich, bemerkte keiner.
Ich war perplex. Das letzte, womit ich gerechnet hatte, war Silas anzutreffen. Ich fragte mich, wie er hierhergekommen war, wie er es geschafft hatte, durch den Schutzwall zu kommen und wie ich ihm gegenübertreten sollte, nachdem er meine Versuche, ihn zu kontaktieren, so vehement abwehrt hatte.
Ich hörte Silas brummen: „Fuck, das reicht jetzt."
Kurz danach stampfte er entschlossen auf Charlie und Austin zu. Sie waren gerade dabei, einander an den Kragen zu gehen. Charlie hatte sogar schon die Krallen ausgefahren. Das hielt Silas nicht davon ab, ihn kraftvoll von Austin wegzustoßen und sich ihm in den Weg zu stellen, als er erneut auf ihn losgehen wollte.
„Ich habe genug von eurem Gestreite!", brüllte er. „Ihr hört jetzt auf, euch die Köpfe einzuschlagen und sagt mir, wie wir Boris helfen können! Wenn ich noch länger dabei zusehen muss, wie es ihm schlecht geht, fange ich an, eure hässlichen Gesichter gegen jeden verfickten Stein dieses dämlichen Palasts zu donnern, solange, bis ihr mir sagt, was verdammt nochmal hier los ist und wie wir was dagegen machen können! Danach könnt ihr euch meinetwegen in Stücke reißen!"
Auf seine Schreie folgte betretene Stille. Nur noch Boris rührte sich. Obwohl er nicht bei Bewusstsein war, konnte man deutlich erkennen, dass er litt. Man sah es daran, wie er schmerzerfüllt das Gesicht verzog, man hörte es an seinen gepressten Tönen und man spürte es, wenn man ihn ansah.
Ich vergaß, dass mein Vater neben mir stand. Er wurde plötzlich so unwichtig, als ich mir vorstelle, wie es in Silas aussehen musste.
Die leise Nennung seines Namens reichte, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Er drehte sich zu mir. Sein finsterer Blick wurde sofort weicher.
Er begann mit dem Kopf zu schütteln, ging langsam auf mich zu und deutete dabei auf Boris. „Schau ihn dir an. Ich habe keine Ahnung, was mit ihm los ist. Er hat nach Austin verlangt. Aber Charlie will ihn nicht zu ihm lassen und ich weiß einfach nicht weiter."
„Schon gut, Silas. Wir kriegen das hin."
Sein Blick haftete weiterhin auf seinem Cousin. Er sah verzweifelt aus. So als würde er jeden Moment zerbrechen. Aber das würde ich nicht zulassen, niemals.
Ich schaute zu Charlie und Austin, konnte nicht fassen, dass ihnen ihre Streitigkeiten wichtiger waren als Boris' Gesundheit. Das mussten sie in meinem Blick erkennen.
„Charlie lässt mich nicht zu ihm!", rief Austin sofort verteidigend.
„Verdammt, Austin, du kannst ihm nicht helfen!"
„Ich habe Heilkräfte, natürlich kann ich ihm helfen! Deine Eifersucht macht dich blind!"
Sie fingen wieder zu streiten an.
„Schau", Silas Blick fiel nach unten, erschöpft und kraftlos, „sie hören einfach nicht auf."
„Ich kümmere mich darum."
Mir fiel auf, dass Silas ruhiger geworden war, seit ich eingetroffen war. Sein Brustkorb hob und senkte sich etwas langsamer und seine Haltung war weniger angespannt. Als er den Blick hob, um mich anzusehen, erkannte ich sogar den schwachen Schimmer von Hoffnung in seinen Augen. Nur kurz. Dann verzog er das Gesicht. Ich folgte seiner Blickrichtung und erkannte meinen Vater, der sich über Boris gebeugt hatte und an ihm roch.
„Ist das-"
„Mein Vater."
Silas und ich tauschten einen einzigen Blick aus, ehe ich um ihn herumging und mich, sowie er vorhin, zwischen Charlie und Austin stellte. Sie verstummten erneut.
„Wisst ihr, was mit Boris los ist?"
„Ja", sagten beide einvernehmlich.
„Und wisst ihr, wie wir ihm helfen können?"
Charlie nickte. Er ging ein paar Schritte auf mich zu, legte die Hand an meinen Arm und schob mich ans andere Ende seines Gemaches. Weg von den anderen. Austin folgte uns.
„Boris trägt seit Monaten eine spezielle Art von Blutvergiftung mit sich herum. Ich dachte, es würde ausreichen, ihn von der Quelle abzuschneiden, aber das war wohl nicht genug. Wir müssen die Kontamination aus seinem Körper rausleiten und ihm neues, gesundes Blut zuführen. So reinigen wir seinen Körper quasi von innen."
„Was hat ihn vergiftet?"
Austin blickte entgeistert an mir vorbei. „Ich."
Auf die stille Frage in meinen Augen hin, schüttelte Charlie den Kopf und ich wusste, dies war die falsche Zeit, eine detaillierte Erklärung zu verlangen. Also versuchte ich, mich zunächst um die Lösung des Problems zu kümmern.
„Können wir Boris Blut von Alica geben? Silas meinte mal, sie sind Zwillinge."
Charlie nickte. "Ihr Blut riecht ähnlich. Das sollte funktionieren. Zuerst muss Boris aber den Aderlass überstehen."
„Wie kriegen wir das hin?", wollte Austin wissen.
Charlie musterte ihn. Sein Zögern war ein Beweis für seine Unentschlossenheit. Auch Austin wusste das.
„Bitte, Charlie, lass mich helfen. Ich wollte nie, dass es dazu kommt, ich hatte keine Ahnung-"
„Wir müssen diese Etage abriegeln und für guten Durchzug sorgen, sodass es hier nicht anfängt, nach Jägerfestmahl zu riechen. Wir brauchen eine Wanne für Boris' Blut und die Möglichkeit, es zu beseitigen, ohne dass jemand was davon mitbekommt. Außerdem Transfusionsbeutel, Nadeln, ein Skalpell, Haut- und Flachendesinfektionsmittel..."
Austin hörte ihm aufmerksam zu und verschwand kurz danach mit den Worten: „Ich kümmere mich darum."
Charlie und ich blieben in der Ecke zurück und ich fragte ihn, wie lange er schon davon gewusst hatte.
„Von Anfang an. Ich hatte nur keine Ahnung, dass es so schlimm wird."
„Was hat Austin damit zu tun?"
Charlie schüttelte den Kopf. „Das sollte er dir selbst sagen."
Natürlich wurmte es mich, dass ernicht mit der Sprache rausrückte. Aber meine Neugier zu befriedigen war meine geringste Sorge.
Als ich mich umdrehe, um Charlies Blick zu folgen, erkannte ich, dass Silas wieder neben Boris auf der Bettkante saß. Mein Vater stand mit verschränkten Armen neben ihm, sah auf ihn herab und unterhielt sich mit ihm.
„Sie kennen sich", flüsterte Charlie mir zu, als er meine Verwirrung bemerkte. „Vor etwa vier Jahren ist eine Horde Aufständischer über ein Camp von Soldaten ein paar Kilometer außerhalb der Stadt hergefallen. Die Patrouillen haben uns informiert und Benedict ist mit einem Trupp ausgerückt, um einzugreifen. Er hat an diesem Tag zwei Menschenjungen gerettet, die mitten auf dem Schlachtfeld gestanden sind. Das waren Boris und Silas."
„Er wusste also schon länger von ihm."
Demnach hatte es nie etwas gebracht, meinem Vater das kleine aber feine Detail, dass Silas nur optisch wahrzunehmen war, vorzuenthalten. Er wusste seit Jahren von seiner Besonderheit und seiner Familie.
Wieso hatte er sich unwissend gestellt? Wieso hatte er damals nicht mit entsprechenden Nachforschungen begonnen?
„Scheint so. Ich werde mit ihm darüber reden. Du solltest Silas und Alica anbieten, die nächsten Tage hierzubleiben. Nur im Palast und nur unter strengster Beobachtung. Sie sollten bei Boris sein dürfen. Er wird das brauchen."
Am liebsten wollte ich Charlie umarmen. Als Dank für seine Hilfe, sein Wissen und seine Unterstützung. Da er nicht der Typ für körperliche Nähe war, beließ ich es jedoch bei einem aufrichtigen verbalen Dank.
Ohne es sofort zu bemerken, setzte ich mich viel zu knapp hinter Silas auf die Bettkante. Er erschrak und ich legte, um ihn zu beruhigen, eine Hand an seine Seite.
„Keine Angst, ich bin's nur."
Er schien erleichtert, tätschelte meinen Oberschenkel und drehte sich wieder zu Boris. Mir fiel nicht auf, dass ich wieder begann, mich in meinem Starren auf ihn zu verlieren, bis der penetrante Blick meines Vaters mich wachrüttelte.
Ruckartig riss ich meine Hand von Silas los und rutschte ein gutes Stück von ihm weg. In meinem Versuch, die Offensichtlichkeit dessen, was gerade passiert war, zu überspielen, informierte ich alle darüber, was wir nun mit Boris vorhatten.
Alica erklärte sich dazu bereit, mit ihrem Blut Hilfe zu leisten. Sie forderte eine Garantie, dass es funktionieren würde.
„Es wird ihm nicht von heute auf morgen bessergehen, aber mit der Zeit", versicherte Charlie ihr.
Er erklärte unser Vorhaben genauer und räumte so einiges an Misstrauen beiseite.
Mein Vater stand eine Weile unverändert herum, bevor er wortlos den Raum verließ. Ohne zu wissen wieso oder wohin, begleitete ich ihn. Wir ließen Charlies Gemach hinter uns und wanderten durch die Flure. Er machte es mir schwer zu erkennen, was in ihm vor sich ging. Seine Blicke waren stur geradeaus gerichtet und seine Haltung war königlich, aber sonst ausdruckslos.
„Er ist mutig, das muss man ihm lassen", sagte er nach einer Zeit ohne jeglichen Zusammenhang. Dennoch war klar, dass er über Silas redete. „Dumm, aber mutig."
Mir war bewusst, dass seine Aktion auf Charlie loszugehen übel hätte enden können. Ihm selbst war das sicher auch klargewesen. Wirklich überrascht hatte es mich aber nicht.
„Er ist jemand, der alles riskiert für die Leute, die ihm am Herzen liegen. Du solltest dafür sorgen, dass du nicht dazugehörst."
Es wäre aussichtslos, meinem Vater vorzumachen, zwischen Silas und mir sei nicht mehr als Freundschaft. Er hatte meinen Blick eben genau gesehen. Selbst ein kalter Klotz wie er musste begriffen haben, was dahintersteckte. Trotzdem wollte ich mich mit irgendetwas verteidigen können. Mich und Silas.
„Ich habe ihm monatelang etwas vorgemacht. Was auch immer zwischen uns war, es hat sich erledigt."
Natürlich hatte es das nicht. Silas hatte alles Recht der Welt sauer auf mich zu sein, aber ich spürte, dass er nach wie vor genau gleich für mich empfand. Das zwischen uns war nicht einfach verschwunden und das würde es auch Zukunft nicht. Gefühle wie diese waren beständiger als jedes noch so harte Schwert. Sie waren schärfer als jede Klinge und sie bedeuteten mehr als jeder Tod. Kein Kampf, kein Schlag, nichts konnte sie brechen. Dazu waren sie zu stark. Ja, vielleicht - und an dieser Hoffnung hielt ich fest - sogar unbesiegbar.
„Das hoffe ich, um seinetwillen."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top