41

Silas

Als Kind sieht man die Welt ganz anders. Man muss erst lernen, dass hinter Worten wie Vertrauen, Liebe und Freundschaft umfassende Konstrukte stecken, die unglaublich viel Macht über unser Leben und unsere Beziehungen innehaben.

Ich hätte Tom nicht als einen Freund von mir bezeichnet. Trotzdem war es schwer zu übersehen, dass er bei jeder Gelegenheit, die sich ihm bot, für mich da war.

Er hatte meine Diskussion mit den Sekretärinnen darüber, ob ich alleine nachhause laufen durfte, nachdem ich mich krankgemeldet hatte, mitbekommen und angeboten, mich in der Pause zu fahren, um sicherzustellen, dass ich heil ankam. Mit dem Einsatz seines Charmes erreichte dieser Typ alles.

Kians Geständnisse hatten mich zutiefst erschüttert und ich sah es als mein gutes Recht an, mich in meinem Bett zu verkriechen. Ich saß also bei Tom im Auto und sah verloren aus dem Fenster. Auf seine Frage, ob ich darüber reden wolle, was wirklich los sei, antwortete ich nicht.

Dass er mir das mit den Kopfschmerzen nicht abkaufte, war klar. Ich hatte nicht mal versucht es glaubhaft rüberzubringen. Mir fehlte die Kraft dazu. Ich wollte nur noch nachhause. Nichts tun, nichts sagen, nichts denken, nichts fühlen.

„Amelie wird mir den Arsch aufreißen, wenn sie hiervon erfährt", plauderte Tom vor sich hin. „Ich werde ihr einfach sagen, dass es dir halt nicht gut ging. Sie tut zwar immer so als würde sie dich am liebsten tot sehen, aber sie hat dich schon noch ganz gern."

Das mit Amelie und mir... Das war der Inbegriff von kompliziert gewesen. Sie verliebt in mich, ich verliebt in ihren Bruder, ihr Bruder wahrscheinlich nur verliebt in sich selbst.

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, mich zukünftig aus Drama rauszuhalten. Den Rückzug anzutreten, wenn es schwer wurde, weil ich gelernt hatte, dass es sich nicht lohnte zu kämpfen. Warum ich das mit Kian über Bord geworfen hatte, warf und immer wieder werfen würde, konnte ich mir selbst nicht erklären.

„Geht's Boris eigentlich besser? Er sieht echt nicht gut aus zurzeit. Letzte Woche in Musik ist er eingepennt und hat auf den Tisch gesabbert. Ein Glück, dass Frau Peters ihn so mag. Bei jedem anderen Lehrer hätte das einen Verweis gegeben und wochenlange Putzarbeiten."

Das einzige, was ich auf Toms Aussagen erwiderte, war ein Dank fürs nachhause Bringen, bevor ich ausstieg, die Tür zu seinem Auto zuknallte und ins Haus schlürfte. Ein letzter Blick zu ihm verriet mir, dass er wartete, bis ich die Haustür geöffnet hatte und mit einem letzten Winken wegfuhr.


Es war 11 Uhr an einem Montagmorgen. Oma war dementsprechend überrascht, mich schon zu sehen. Ich hatte den Plan gehabt, mich sofort in mein Zimmer zu verziehen und zu versuchen alles, was heute passiert war, solange zu verdrängen, bis ich es vergessen hatte. Doch als sie mir gegenüberstand und mich besorgt musterte, konnte ich nicht sagen, dass alles gut war und ich nur alleine sein wollte. Denn ja, ich wollte allein sein, aber nein, es war nicht alles gut. Nichts war gut.

„Kian hat mir was erzählt. Über unsere Familie."

Meine Oma zog die Augenbrauen hoch und schaute mich fragend an.

„Er hat gesagt, wir sind Nachfahren von Jägern."

„Ach hat er das?"

Die Reaktion meiner Großmutter verdeutlichte mir, wie absurd das klang. Sie lachte sogar darüber. Ja wirklich, sie stand mit mir im Flur, trocknete an ihrer Schüssel herum und lachte.

„Ein schönes Schauermärchen hat er dir da aufgetischt. Er wollte dich wohl ein bisschen ärgern, mein Schatz."

„Nein, er meinte es ernst. Er hat gesagt, wir riechen nach Jägerblut und... Zumindest der Teil muss stimmen."

Obwohl ihre Schüssel schon lange trocknen war, rubbelte sie weiter daran herum, um einen imaginären Fleck zu beseitigen.

„Wieso denkst du das?"

Ich hatte nie vorgehabt, jemandem davon zu erzählen, dass ich die Gedanken von anderen Menschen hörte. Boris hatte es damals durch Zufall erfahren und selbst alle Schlussfolgerungen formuliert. Ich wollte es nicht aussprechen. Ich konnte nicht.

„Weil er Recht hat. Zumindest damit, dass ich etwas kann, das normale Menschen sicherlich nicht können."

„Hat er gesagt, dass er das weiß?"

Ihr plötzlich intensiver Blick scheuchte mich mit dem Rücken an die Eingangstür. Ich presste mich so fest daran, als hätte ich vor, ein Teil von ihr zu werden und schluckte panisch, bevor ich antwortete.

„Er hat nur gesagt, dass er mit dem Inneren Kreis darüber gesprochen hat und die vermuten, dass wir Kräfte haben. Sie wollen ausfinden, ob wir eine Gefahr für uns oder andere darstellen."

„Und tust du das?"

Die Frau, die mir gegenüberstand, hatte schlagartig nichts mehr mit meiner Oma gemein. Ihr Blick war ungewohnt ausdruckslos und ihre Stimme hart.

Sofort schüttelte ich den Kopf. Ich hatte mich unter Kontrolle. Und ich wusste nicht, ob ich die Wahrheit gesagt hätte, wenn es anders gewesen wäre.

„Na dann ist doch gut."

Sie warf mir ein sorgloses Lächeln zu, nahm ihr immerwährendes Summen auf und verschwand in der Küche.

Ich verblieb an Ort und Stelle und versuchte zu begreifen, was gerade passiert war. All das konnte nur ein Traum sein. Ein verwirrender, unschöner, mehr als kreativer Traum, aus dem ich bald aufwachen würde und darüber lachen, was ich mir für einen Schwachsinn zusammengereimt hatte.

Ich folgte meiner Oma in die Küche und sah dabei zu, wie sie in gewöhnlich guter Laune die Spülmaschine ausräumte. Sie ging einfach zum Alltag über, tat so als hätte ich sie nicht damit konfrontiert, dass sie uns unser Leben lang etwas vorgemacht hatte.

„Du wusstest es, oder?"

Meine Stimme klang schwach, flehend. Alles, was ich wollte, war die Wahrheit. Ich wollte wissen, wer ich war, wieso ich Gedanken hören konnte und ob mein Vater davon gewusst hatte.

„Oma!"

Endlich sah sie mich an.

„Du wusstest, dass wir Jäger sind, oder?"

Sie richtete sich auf. Ein leichtes Seufzen wich von ihren Lippen und sofort bereute ich es, die Stimme erhoben zu haben.

„Wir sind keine Jäger."

„Lüg mich bitte nicht an", hauchte ich verzweifelt.

Dass sie nie mit uns über unsere Herkunft gesprochen hatte, konnte ich noch verstehen. Vielleicht hatte sie es für irrelevant gehalten oder auf einen passenden Zeitpunkt gewartet. Aber, nach allem, was ich heute erfahren hatte, auch noch von ihr belogen zu werden, konnte ich nicht verkraften.

„Ich lüge dich nicht an, Liebling. Wir sind keine Jäger."

Womöglich war es die Verzweiflung, die mich dazu veranlasste, ihr zu glauben. Der Wunsch, dass, was sie sagte, der Wahrheit entsprach. Die Hoffnung, all das abhaken und vergessen zu können. Aber nur ihr Wort reichte mir dazu nicht aus. Nicht mehr. Ich musste es verstehen. Ich brauchte logische Schlüsse, um gegen diese Flut an Gefühlen in mir anzukommen. Ich brauchte irgendwas, das mir half, nicht unterzugehen.

„Aber die Kraft-"

„Die Kraft macht dich genauso wenig zu einem Jäger wie die Tatsache, dass deine Vorfahren es waren. Jäger bist du nur mit abgeschlossener Ausbildung. Und so eine hast du nicht."

„Was bedeutet es überhaupt Jäger zu sein? Ist das was Schlechtes? Sind Jäger die Bösen?"

„Das musst du für dich selbst entscheiden."

„Wie soll ich das entscheiden, wenn ich nichts darüber weiß? Ich habe vor zwei Stunden das erste Mal davon gehört."

„Warte ab", sagte meine Oma und nahm ihre Aufräumtätigkeiten wieder auf. „Sobald du 18 bist, wirst du Zugang zu den Schriften bekommen. Dann kannst du dir einen Eindruck machen und entscheiden, ob du diesen Weg gehen möchtest."

„Mann, Oma, ich will nicht warten! Ich will jetzt Antworten!"

„Diese wirst du von mir aber nicht bekommen."

Selbst mein tiefes Durchatmen, das eher nach einem frustrierten Knurren klang, änderte nichts an ihrer Haltung. Dabei hatte ich noch so viele Fragen. Ich wollte wissen, warum sie es uns verheimlicht hatte. Und ob sie sonst noch irgendwas wusste. Zum Beispiel, was ich mit meiner Kraft anfangen und wie ich damit umgehen sollte. Aber ich war zu zornig und zu enttäuscht, um weiter nachbohren, daher ließ ich sie in der Küche weiter unschuldige Hausfrau spielen, während ich mich in meinem Zimmer verzog und Boris und Alica schrieb, dass wir dringend reden mussten, sobald sie zuhause waren. Ich wollte es ihnen sofort erzählen. Alles. Ich wollte wissen, was sie dazu zu sagen hatten. Ich wollte Unterstützung und Halt und Hoffnung. Aber alles, was ich bekam, war Chaos.

Ein Blick auf Social Media und ich wünschte mir die Steinzeit zurück. Was da durch die Medien ging, war der absolute Horror. Irgendwer hatte sich die Mühe gemacht, in meiner Vergangenheit herumzuwühlen und meine Geschichte mit Ben Stück für Stück zu rekonstruieren. Da waren Bilder von Amelie und mir als Kleinkinder beim Spielen in ihrem Garten. Bilder von Boris und mir beim Fußball und Bilder von Ben und mir beim Küssen. Die hatte bis dato nicht mal ich zu Gesicht bekommen.

Nicht nur, dass mich das in der ganzen Welt outete, nein, es wurde auch noch direkt in den Dreck gezogen und das nur, um Kian schlecht dastehen zu lassen. Welcher herzlose Mistkerl das auch zu verantworten hatte, er sollte in der Hölle schmoren.

Scheiß egal, ob meine Oma sich weigerte, offen mit der Wahrheit umzugehen, Boris durchdrehte und Alica seit Monaten Geheimnisse hatte. Die drei waren meine Familie. Alles, was mir wichtig war. Die Welt konnte von mir halten, was sie wollte, solange sie hinter mir standen.

Die einzige Person, der ich mich erklären wollte, war Kian. Ich hatte nie gewollt, dass er auf diese Weise von den Dingen erfuhr, die ich so sehr bereute. Ich hätte derjenige sein sollen, der ihm das in Ruhe und vor allem im Privaten erklärte. Aber sowas wie Empathie kannten Presseleute nicht. Die zerrissen alles, was ihnen eine gute Schlagzeile bot, regelrecht in der Luft und bereicherten sich daran, ohne darüber nachzudenken, was sie den Betroffenen damit antaten.

Ich konnte mir vorstellen, wie es Bens Familie gehen musste. Seinen Eltern und Amelie. Und ich hatte Angst vor Kians Reaktion, vor allem aber davor, welche Konsequenzen das Könighaus für ihn daraus ziehen würde.

Ich wurde als fehlgeleitet und gebrochen dargestellt. Als Rebell. Wennman nach Schlagworten wie Verantwortungslosigkeit, Enttäuschung, oder Drogensuchte, war mein Gesicht der erste Treffer. Die Artikel über mich und total aus der Luft gerissene Thesen darüber,ob ich Kian schon auf die dunkle Seite gelockt hatte, wurden von Sekunde zuSekunde mehr. Und es gab nichts, das ich dagegen tun konnte.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top