34
Kian
Meine Mitschüler unterhielten sich über die bevorstehenden Ferien und planten eine Party nach der anderen. Ich hatte mehrere Einladungen erhalten, doch ausnahmslos Absagen verteilt. Ich hatte keine Zeit und ich wusste, dass ich mich dort nicht wohlfühlen würde. Ich mochte ruhige Gesellschaft und tiefgründige Gespräche lieber. Sowie mit Silas.
Die Praxisstunden des Kunstunterrichts sahen immer gleich aus: Alle brüllten wild durcheinander, sprangen durch das Klassenzimmer und benahmen sich wie Wilde und die Lehrerin zog sich in den Nebenraum zurück, da sie von der Lautstärke Kopfschmerzen bekam und ihre Bemühungen, etwas dagegen zu unternehmen, keine Wirkung zeigten.
Silas war der Einzige, der nicht spontan zu einem wildgewordenen Affen mutierte. Er saß stumm neben mir, meistens hörte er Musik, und zeichnete.
Am liebsten wollte ich alleine mit ihm sein. Nur Stille um uns herum, das Gefühl von Ruhe in meinem Bauch und Flattern in meinem Herzen. Ich wollte ihn ansehen, stundenlang. Mir jeden Nanometer seines Äußeren einprägen, seine Gesichtsform identifizieren, seine Züge verinnerlichen und lernen, wo sich jede seiner Sommersprossen befand. Und dann, wenn ich wieder zuhause war, und nachts nicht schlafen konnte, wollte ich ein perfektes Abbild von ihm zu Papier bringen und es ansehen, jedes Mal, wenn ich mich einsam fühlte. Ich dachte sogar darüber nach, es meiner Mutter zu zeigen. Ich wollte von ihr hören, wie hübsch er sei und dass sie ihn gerne kennenlernen wollte. Er sollte mein Reich sehen und mit mir erkunden dürfen.
Ich kannte mich nur mit der Geographie aus. Den Fakten wie vorhandene und schwindende Ressourcen, Grenzen, gefährliche Bereiche, Einwohnerzahl, Nutzen und Funktion des Schutzwalls... Doch ich wollte es sehen. Erleben. Jede Straße, jedes Haus, jede Ecke, jeden Baum, ja jeden verdammten Grashalm. Und so wie ich Silas kannte, würde er gern an solch einer Expedition teilnehmen.
Ich musterte ihn von der Seite. Er saß gebeugt über dem Tisch und bemalte sein Blatt so, dass ich kaum etwas davon sehen konnte. Sein Gesicht war von seinen schwarzen Wellen bedeckt. Alles, was ich erkannte, war seine Zungenspitze, die aus seinem Mundwinkel ragte, sowie immer, wenn er hochkonzentriert an etwas arbeitete.
Ich tippte seine Schulter an. Er hob den Kopf und nahm einen Kopfhörer aus dem Ohr.
„Brauchst du was?"
„Ich wollte mit dir reden. Ist dir jetzt oder nach der Stunde lieber?"
„Jetzt geht auch." Sein Blick huschte zu meiner Zeichnung. Er beugte sich zu mir, um sie sich genauer ansehen zu können. „Wow, woher kannst du das so gut?"
„Ich hatte fast 10 Jahre Zeichenunterricht."
„Krass. Wie wär's, wenn wir Bilder tauschen und ich deine 15 Punkte kassiere?"
Das brachte mich zum Schmunzeln. „Können wir machen. Dann sind wir quitt."
Ich schob mein Blatt auf seine Seite des Tisches und seines auf meine. Wenn ich hier und da ein paar Optimierungen vornahm, sah ich keinen Grund, dem nicht auch die Bestnote zu geben.
„Aber die Burger will ich trotzdem!"
„Selbstverständlich", lächelte ich.
Unser verabredetes Treffen wollte ich mir unter keinen Umständen nehmen lassen. Ich konnte es jetzt schon kaum erwarten, in der Zweisamkeit mit ihm abzuschalten, herumzualbern, über tirgendwelche Sachen zu reden oder ihm mein Herz auszuschütten.
Sobald er in der Nähe war, setzte sich das Chaos in meinem Inneren zur Ruhe, der Sturm meiner Gedanken und Gefühle legte sich und die Zeit schien aufzuhören, mir davon zu rasen. Dann ging es nicht mehr darum, von einer Verpflichtung zur nächsten zu hetzen und möglichst viel möglichst schnell zu erreichen. Nein, dann ging es um das Leben. Darum, wie mein Herz schlug, wenn er auf mich zukam. Darum, wie mein Atem stillstand, wenn er lachte. Und darum, wie die Welt aufhörte sich zu drehen, wenn ich auf seine Lippen sah.
Alles, was ich sah, war er. Und alles, was er sah, war ich. Beinahe so als gäbe es gar nichts anderes als uns.
„Ich wollte dich eigentlich fragen, was du davon hältst, mal zu mir nachhause zu kommen. Also in das Reich meines Vaters. Es gibt echt vieles, das ich dir da zeigen will und-"
„Ich würde gerne mitkommen."
Erst, als er mich unterbrach, merkte ich, wie schnell ich gesprochen hatte. Ein Wunder, dass das Stottern ausgeblieben war. Jetzt, nachdem er zugestimmt hatte, atmete ich erleichtert durch und nickte lächelnd. „Das freut mich."
„Darf ich dann dein Zimmer sehen? Ich muss schauen, ob das genauso lieblos eingerichtet ist wie das in eurer Villa. Wenn ja, weiß ich nicht, ob ich noch was mit dir zu tun haben will. Das ist nämlich echt krank."
Sofort fragte ich mich, ob ihm meine Einrichtung gefallen würde. In der Villa war ich meist nur zum Schlafen, daher interessierte mich das Ambiente nicht wirklich. In meinem Gemach dagegen war ich aufgewachsen, hatte bis auf wenige Stunden Tag und Nacht darin verbracht. Nur meine Bücher hatten dafür gesorgt, dass ich nicht den Verstand verloren hatte. So hatte ich auf meine Art doch das ein oder andere Abenteuer erlebt und war manchmal ganz froh gewesen, mit dem Zuschlagen der Seiten wieder in vertrauter Umgebung anzukommen.
„Was erwartest du denn von dem Gemach eines Kronprinzen?"
„Keine Ahnung. Deshalb werde ich es ja inspizieren."
„Oje." Ich lachte und Silas schaute mir grinsend dabei zu.
Als die Schulglocke das Wochenende und somit auch die Ferien einläutete, bat er mich, ihm mitzuteilen, wenn ich Neuigkeiten dazu hatte. Es schien so, als würde er sich darauf freuen. Das wiederum freute mich.
„Machst du in den Ferien was anderes außer Prinzenkram?", fragte er mich, während wir unsere Sachen zusammenpackten. Das Klassenzimmer hatte sich innerhalb weniger Sekunden geleert. Unsere Mitschüler rannten in die Ferien. Silas und ich, dagegen, hatten keine Eile.
„Mal sehen. Bald sollte die vorläufige Form der Verfassung durch sein. Während die dann nochmal eingehend geprüft und überarbeitet wird, habe ich, denke ich, etwas mehr Zeit. Möchtest du dann Burger essen?"
„Du solltest erstmal deine neu gewonnene Freizeit genießen. Schreib mir einfach spontan, wenn du Lust hast. Oder wer weiß, vielleicht sehen wir uns zufällig im Wald." Keck zwinkerte er mir zu.
„Ich habe keine Zeit mehr für solche Ausflüge. Und du solltest nicht alleine außerhalb der Stadt sein. Wenn du da auf jemanden triffst, der nicht so freundlich belästigt wie ich, kann das unschön enden."
„Du meintest doch selbst, es ist ruhig da, seit der Krieg vorbei ist."
„Ruhig bedeutet nicht gleich ungefährlich." Ich sah ihn bittend an. „Ich werde dafür sorgen, dass sowas in Zukunft möglich ist, ohne ein Risiko einzugehen. Aber dafür brauche ich noch ein bisschen Zeit. Gibst du mir die?"
Für einen Moment glaubte ich, er würde ablehnen und rein aus Trotz die nächsten Stunden im Wald verbringen. Umso mehr erleichterte es mich, dass er nickte.
„Meinetwegen. Aber nur, weil ich an dich glaube."
Vor dem Klassenzimmer wartete Maddy auf mich und ein paar Meter weiter standen Anna und Charlie.
„Die Menschen machen ein riesen Ding aus den Ferien... Wurdet ihr auch zur Party bei Goldie eingeladen?"
Einvernehmlich schüttelten Anna, Charlie und ich den Kopf. Maddy zeigte sich überrascht davon.
„Oh komisch. Er meinte aber, ich darf Begleitung mitbringen."
Allein durch ihren Blick fragte sie mich, ob ich diese Begleitung sein wollte. Und die Antwort war ein klares Nein. Partys waren nichts für mich. Schon gar nicht welche bei einem arroganten Mobber zuhause.
„Ich mag Goldie nicht."
„Wieso nicht? Ich finde ihn witzig."
„Er macht sich ja auch täglich zum Clown für dich", meinte Anna genervt. „Man muss nicht immer alle mögen, Maddy. Für normale Leute gehört ein bisschen Antipathie zum Leben dazu."
Als wir in der Villa ankamen, bat Charlie mich um ein Gespräch unter vier Augen. Während Anna hochging, um ihre Sachen zu packen, da sie die Ferien im Reich verbringen wollte, verschwand Maddy im Garten und Charlie und ich zogen uns im Wohnzimmer zurück.
„Ich habe keine Lust, noch weiter über die Sache mit dem Bild zu diskutieren. Das haben wir lange genug durchgekaut."
Ich sah Charlie bittend an, damit er es endlich auf sich beruhen ließ. Seine Erklärungen, dass er nicht für meine Sicherheit sorgen konnte, wenn ich ihn anlog, hatten mich nicht nur begreifen lassen, was für eine schwache Aktion es von mir gewesen war, ihm nicht zu sagen, dass ich noch in der Stadt war, sondern mir auch ein schlechtes Gewissen gemacht. Es hätte tatsächlich alles Mögliche passieren können. Nicht nur mir, sondern auch Silas.
„Darum geht es nicht." Er rieb seine Handflächen aneinander und sah mich dabei ernst an. „Es geht darum, was du im Inneren Kreis gesagt hast. Wegen Silas und seiner Großmutter."
„Okay?"
Ich zog die Augenbrauen zusammen, verwundert darüber, warum er jetzt erst damit rausrückte. Das letzte Gespräch im inneren Kreis war schon Tage her.
„Deine Eltern und ich sind uns darüber einig, dass du gerade den besten Zugang zu den Jachans hast. Es wäre also gut, wenn du es schaffst, über Silas an seine Großmutter ranzukommen und alles über sie rauszufinden, was geht. Nach den Aufzeichnungen endet ihre Linie bei ihrem Mann, Markus Jachan. Sie ist eine gebürtige Silver, also ebenfalls Erbin einer Jägerfamilie. Doch es sind keine Nachkommen von ihnen verzeichnet. Es macht uns Sorgen, dass ausgerechnet sie durch das System gerutscht sein sollen."
Silas zu hintergehen, gefiel mir nicht. Ich kam mir schmutzig dabei vor. Aber es war nötig. Zum Schutz meines Volkes und vielleicht auch zu seinem eigenen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top