31
Kian
Austin war wie immer optimal gestylt. Obwohl ich mir vorstellen konnte, dass er die letzten Nächte wenig Schlaf bekommen hatte, sah er nicht ansatzweise müde aus. Ich war größer als er und schleppte oft zahlreiche Blicke hinter mir her, doch neben ihm kam sogar ich mir unscheinbar vor. Nun erkannte ich, dass das nie an seinem Aussehen gelegen hatte, sondern an seiner Ausstrahlung. Etwas, das nun fehlte.
"Wir müssen gleich los, Kian."
Ich nickte Charlie zu. Es war ein seltsames Gefühl zu wissen, dass ich heute nicht in der Schule sein würde. Falls Silas nicht da wäre, würde ich es definitiv bemerken. Ob es ihm bei mir genauso ging, wusste ich nicht. Ich wünschte es mir. Dass ihm mein Fehlen auffiel und er sich nach mir erkundigte. Mir auszumalen, heute Abend nach all den Debatten, Verhandlungen und Gesprächen zum Handy zu greifen und Nachrichten von ihm erhalten zu haben, schürte Vorfreude in mir. Genauso wie unsere Vereinbarung, uns morgen in der Pause bei den Feuertreppen zu treffen, um den Vortrag durchzugehen.
Vor dem Rat oder in anderen Gremien zu sprechen, war kein Problem mehr für mich, doch der Gedanke daran, vor einer Schulklasse zu stehen und nicht zu wissen, wie sie sich verhalten würden, machte mich ungemein nervös. Ich hatte Angst davor, in alte Muster zu verfallen und zu stottern oder noch schlimmer, gar nichts rauszubekommen. Kaum zu glauben, dass ich mal über ein ganzes Volk herrschen sollte, wenn ich nicht mal dazu fähig war.
Charlie blieb vor der Tür zu Austins Gemach stehen und erinnerte mich daran, dass wir in 15 Minuten im Ratssaal sein mussten. Ich tat so als sei mir das bewusst gewesen und begleitete Austin in seine Räume. Sobald ich die Tür hinter uns geschlossen hatte, seufzte er. Augenblicklich fielen seine Schultern nach unten und er sah sich verloren um.
Ich ging einen kleinen Schritt auf ihn zu. Seit Tagen dachte ich darüber nach, wie ich ihm helfen konnte. Ich hatte getan, was ich tun konnte. Und doch fühlte ich mich nutzlos. So als würde ich ihn im Stich lassen. Ich wollte ihm klarmachen, dass ich es ändern würde, wenn ich könnte. Dass er trotz der Distanz immer mein bester Freund bleiben würde. Und, dass alles besser werden würde. Aber, als ich versuchte, durch die Nennung seines Namens seine Aufmerksamkeit zu erlangen, fiel er mir ins Wort.
„Wie sieht es eigentlich mit dem Teppichboden aus, über den wir gesprochen haben?"
„Den bekommst du, sobald ich König bin. Wie abgemacht."
Ich lächelte ihn an, ehrlich amüsiert von der Vorstellung als erste Amtshandlung, Austins Gemach mit einem Teppichboden ausstatten und meinen Thron polstern zu lassen. Das würde sicher Eindruck machen.
Austin erwiderte das Lächeln ehrlich, doch seine Augen blieben feucht.
„Mal sehen, ob ich dann überhaupt noch hier bin."
„Wie meinst du das?"
Er seufzte. „Keine Ahnung... Der Palast ist so riesig, aber ich habe das Gefühl, er hat keinen Platz für mich."
Ich verstand es nicht. Austin liebte das Leben am Hof, er mochte es pompös und übertrieben und voller Luxus und Glamour. Genau das bekam er hier. Ohne ihn, jedoch, war er viel zu kalt, leer und ernst.
Ich wollte nicht darüber nachdenken, ihn gehen zu lassen. Ich konnte nicht.
„Hier wird immer Platz für dich sein, Austin. Dafür sorge ich."
Für wenige Sekunden hielten wir Blickkontakt. Ich wusste nicht, was in ihm vor sich ging. Ob er noch wütend war, oder traurig oder enttäuscht. Dann umarmte er mich plötzlich, ganz fest, und hauchte ein leises „Danke" an meinen Hals.
„Woher habt Ihr die?"
Ich erkannte an der Farbgebung der Zeitschrift, die August meinen Eltern vorhielt, dass das keine von unseren war. Ohne das Reich verlassen zu haben gab es keine Möglichkeit für ihn, darangekommen zu sein. Und dafür hätte er eine Genehmigung von meinen Eltern gebraucht, die er sicher nicht bekommen hatte.
„Einige unserer lange stationierten Informanten haben sie uns gestern Abend übergeben."
Von wegen lang stationierte Informanten. Wohl eher kürzlich angeworbene Spione.
Mein Vater reichte mir das Magazin. Bisher hatte ich nur die Farben des Covers gesehen. Nun erkannte ich auch das Bild, das darauf abgebildet war: Silas und ich saßen nebeneinander auf der Bank vor dem Italiener, bei dem wir am Freitag Pizza geholt hatten. Man sah, wie ich geknickt dasaß und erkannte, dass Silas mich tröstete.
Selbst ohne den entsprechenden Artikel dazu gelesen zu haben, wusste ich, dass das nicht gut war. Ganz und gar nicht gut.
Ich schluckte und sah zu Charlie. Er saß in der Runde der Ratsmitglieder, sein intensiver Blick auf mir, seine Hände zu Fäusten geschlossen und seine Lippen aufeinandergepresst. Ohne zu wissen, was genau in ihm vor sich ging, ahnte ich, was er mir am liebsten an die Stirn werfen würde.
„Ich weiß, viele von euch wussten bis eben noch nichts von der Zeitung. Ich hatte leider keine Gelegenheit, euch vor der Sitzung darüber aufzuklären."
August versuchte die Leute in seinen eigenen Reihen durch unzureichende Erklärungen zu besänftigen und den Fokus auf mich zu lenken.
Plötzlich war ich nicht mehr Prinz in einer wertvollen Debatte, sondern Angeklagter in einem heiklen Verfahren. Auch ohne dies beim Namen nennen zu müssen. Die Blicke auf mir, so fassungslos und verurteilend, reichten.
„Ich hielt diese Angelegenheit für zu wichtig, um hier strikt nach Protokoll zu verfahren."
Die Doppelmoral dieses Heuchlers brachte mich innerlich zum Beben. Vor allem, da ich mir sicher sein konnte, dass das alles nur so abgelaufen war, weil August Charlie nicht hatte die Gelegenheit geben wollen, mich vorzuwarnen. Er hatte mich eiskalt erwischen wollen und das hatte er geschafft.
„Der Prinz integriert sich, ganz ohne Zweifel..."
Der Klang seiner Stimme gefiel mir nicht. So anklagend. Dabei war es doch genau das, was ich die letzten Wochen hatte tun sollen.
„...und ich bin mir sicher, Ihr macht Eure Aufgabe ausgezeichnet, Eure Hoheit..."
Am liebsten hätte ich ihm den Mund mit Chilli gestopft und dabei zugesehen, wie er langsam und qualvoll daran erstickte.
Es störte mich nicht, immer wieder von ihm attackiert zu werden. Aber diese falsche Freundlichkeit und die Tatsache, dass auf diese Aussage sicher ein ‚aber' folgen würde, waren erbärmlich.
Es ging schon lange nicht mehr darum, dass er mich für zu unfähig zum Regieren hielt. Im Gegenteil. Ich hatte die letzten Wochen und Monate bewiesen, dass ich durchaus dazu im Stande war und genau das ging ihm gegen den Strich. Deshalb hatte er das inszeniert und deshalb versuchte er mich jetzt bloßzustellen.
„..aber das ist nicht das Bild, das von Euch vermittelt werden sollte."
Ich hatte es satt, dass es nur darum ging, mich immer so zu präsentieren, wie andere es von mir erwarteten. Dieses Bild zeigte einen der wenigen Momente in meinem Leben, in denen ich mir keine Gedanken um Image und Schwachstellen gemacht hatte. Einen der wenigen Momente, in denen ich mich nicht komplett allein gefühlt hatte. In denen ich mich geöffnet hatte. Ich konnte nicht fassen, dass mir das tatsächlich zum Verhängnis werden sollte.
„Warum nicht?"
Ich stellte mich bewusst ahnungslos. Ich wollte es hören. Hören, dass alles andere als perfekt nicht gut genug war.
August wirkte überrascht davon, dass ich nicht vor Scham in meinem Thorn versank oder noch besser unter Tränen aus dem Saal stürmte. Er schien nicht damit gerechnet zu haben, auf Gegenwehr zu stoßen.
„Nun ja, als Repräsentant unseres Reiches-"
„Unseres Reiches?"
Ich wusste nicht wie oft er mich bereits übergangen hatte. Mich unterbrochen oder komplett ignoriert, was ich gesagt hatte. Wenn er das tat, riskierte er nicht nur seinen Ruf, sondern auch seine Position und, falls ich daran interessiert wäre, ein Exempel zu statuieren, sogar sein Leben. Aber ich war der Prinz. Das Kind zweier Gefährten und somit die mächtigste Person, die er jemals zu Gesicht bekommen würde. Im Gegensatz zu ihm war ich unentbehrlich. Der Platz im Rat und meine Zukunft als König standen mir zu. Ich hatte einen Anspruch darauf, durch meine Herkunft, durch meine harte Arbeit und durch meine Bereitschaft, für mein Volk jedes erdenkliche Opfer zu bringen.
„Ich denke, Ihr meint das Reich meiner Eltern. Mein Reich."
Es herrschte Totenstille im Saal. Niemand tuschelte, niemand atmete, die Protokollschreiber tippten nicht mal mehr. Meine unerwartete Dreistigkeit hatte sogar den Vorsitzenden so kalt erwischt, dass er mit geöffnetem Mund dastand.
„Mir ist klar, worauf Ihr hinauswollt. Und was Ihr damit bezweckt. Aber ich kann Euch guten Gewissens versichern, dass das genau das Bild ist, das ich vermitteln wollte. Zwei junge Männer, die sich über Dinge unterhalten, die sie beschäftigen. Dort, wo Ihr mir gerade weißmachen wolltet, Schwäche zu sehen, steckt in Wahrheit die Zukunft. Die Zukunft meines Reiches und die der Menschen. Und zwar vereint. Für jeden, der im Frieden keine Niederlage sieht, bedeutet dieses Bild also einen Erfolg."
Ich machte eine kurze, aber bedeutende Pause. Dann fragte ich den Vorsitzenden, ob er dem zu widersprechen hatte. Dabei wusste ich ganz genau, dass es für ihn in dieser Situation nur zwei Optionen gab:
- Mir zustimmen
- Oder sich wegen Verrats an den Pranger zu stellen.
Und ja, ich genoss es, das zu wissen. Ich genoss es, in meiner Position zu sein und alle Karten auszuspielen, die ich auf der Hand hatte. Es wurde Zeit für August zu begreifen, dass ich mich nicht unterkriegen ließ. Egal, womit er mich angriff. Denn ich war der Prinz und er nur eine der Stimmen, die täglich versuchen, mir weiszumachen, ich würde niemals ein guter König werden.
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