27

Silas

Es stellte sich heraus, dass Kian und seine Begleiter die größte Villa der Stadt bezogen hatten. Als Amelie und ich früher auf dem Weg zum Spielplatz daran vorbeigelaufen waren, hatten wir uns ausgemalt, welche Adligen wohl heimlich darin residierten, während sie angeblich leerstand. Kian erzählte mir, das Grundstück sei bereits vor Jahrhunderten im Besitz seiner Eltern gewesen, schon bevor die Stadt als solche existiert hatte.

Als wir das Haus betraten, fiel mir sofort auf, wie leer es war. Wenn wir redeten, prallten Echos an den Wänden ab und von Dekorationen, Bildern oder irgendwas, das nach Zuhause schrie, war keine Spur.

„Ich finde es total übertrieben, aber so sitzen wir wenigstens nicht alle ständig aufeinander", meinte Kian.

Ich folgte ihm in die Küche und stellte die vier Pizzakartons auf einem Tisch ab, während er für Teller und Besteck sorgte.

Aus dem Nichts fing er an zu lachen.

„Was?", fragte ich verwirrt.

„Mir fällt gerade auf, dass ich bisher noch nie für zwei gedeckt habe. Ist seltsam."

„Musst du als Prinz denn selbst decken?"

„Im Palast bei meinen Eltern natürlich nicht. Da ist alles ziemlich streng. Aber Charlie, Anna, Maddy und Austin sind ja nicht meine Bediensteten."

Während ich mich verloren umsah, ging er an mir vorbei. Ich konnte nicht darauf achten, was er machte, weil ich so sehr damit beschäftigt war, etwas zu finden, das so aussah, als sei diese Villa nicht nur eine kurzfristige Übergangslösung. Erst, als er mich fragte, ob ich mich setzen wolle, fiel mir auf, dass er einen Stuhl rausgeschoben hatte und drauf wartete, ihn mir zurechtzurücken.

„Danke."

Lächelnd wich ich seinem Blick aus, setzte mich und betete zu allen potenziell existierenden höheren Mächten, dass ich gerade nicht rot angelaufen war.

Um mich von meinem Tomatengesicht abzulenken, erkläre Kian, womit die Pizzen belegt waren und mit welcher ich anfangen würde. Er hörte interessiert zu und obwohl ich bei meinen Ausführungen auf das Essen vor uns deutete, war sein Blick nur auf mich gerichtet.

„Meine erste Pizza. Ich bin irgendwie aufgeregt."

Ich lachte, während ich mir ein Stück nahm und ihn durch meinen Blick dazu aufforderte, sich ebenfalls zu bedienen. „Dieses historische Ereignis sollten wir fast schon auf Video festhalten."

„Jetzt, wo Charlie nicht da ist, könnten wir das wirklich. Ganz heimlich." Er grinste mich schelmisch an und obwohl ich wusste, dass er es nicht ernst gemeint hatte, zückte ich mein Handy, startete die Kamera und richtete sie auf ihn.

„Und action!"

„Haha, sehr witzig!" Er verdrehte grinsend die Augen. „Also ich esse das jetzt mit den Fingern, oder?"

Ich nickte, hielt mit einer Hand mein Handy und nahm mir mit der anderen mein Pizzastück, um davon abzubeißen. So litt zwar meine Kameraführung, aber wenigstens wurde mein Hunger endlich gestillt.

Kian beobachtete mich und machte mich nach.

„Okay, sie ist nicht mehr warm und knusprig auch nicht mehr. Aber man kann es essen."

„Machst du Witze?" Kians Augen waren weit aufgerissen, seine Wangen gefüllt mit dreiviertel von seinem Stück und seine Lippen bedeckt mit Tomatensoße und Mehl. „Das ist genial!"

„Muss schon echt was heißen, wenn er da plötzlich seine Manieren vergisst."

„Oh verdammt!" Er schluckte einen viel zu großen Bissen herunter, bevor er sich hektisch entschuldigte.

„Kein Problem", lachte ich. „Ich kann richtig ekelhaft essen. Solltest mich mal mit Burgern erleben. Boris kann mich dann nicht mal anschauen, ohne, dass ihm übel wird."

„Das würde ich gerne sehen."

„Meinetwegen gerne. Melde dich, wenn du mich in deinen Terminkalender pressen kannst."

Ein resigniertes Seufzen vertrieb sein Lächeln. „Am liebsten würde ich für immer hier sitzen und alles essen, was mir vorgesetzt wird."

„Das wäre ein sehr erfüllendes Dasein."

Ich legte mein Handy zur Seite und somit auch die Kamera. Immerhin war seine erste Reaktion gefilmt und ich hatte meine Aufgabe erfüllt. Nun musste ich mich aufs Essen konzentrieren, bevor Kian mir alles wegfutterte.


Später saßen wir zwar am Schreibtisch, doch statt an seinem Vortrag zu arbeiten, machten wir eine Liste von Dingen, die er noch nicht gegessen hatte und daher unbedingt probieren musste. Obwohl von der Pizza kein Stück mehr übrig war, meinte Kian, er sei noch hungrig.

„Das Problem ist, ich weiß nie, wann ich Blut will und wann ich Essen will. Und dann fresse ich mich mit beidem voll."

„Pass auf, du wirst noch fett."

Wenn er schon immer so viel gegessen hatte, dann lag sein durchtrainierter Körper wohl in seiner Natur. Total ungerecht. Ich an seiner Stelle würde die ganze Zeit nackt rumlaufen. Alles andere war egoistisch.

„Glaubst du echt?"

Er verstand meine ironische Aussage nicht als solche und sah mich daher panisch an. Das ließ das Bild eines nackten Kian in meinem Hirn verpuffen.

Wenn er so unschuldig vor mir saß, wurde mir bewusst, wie unerfahren er war. Und, dass alles, was mein Hirn manchmal fabrizierte, absolut nicht zu dem echten Kian passte. Dem Kian, der mehr war als ein heißer Körper, attraktives Grinsen und guter Sex.

„Nein."

Mehr sagte ich dazu nicht. Komplimente bekam er von den Mädchen in der Schule genug.

„Wir sollten mal langsam mit deinem Vortrag anfangen. Ich muss rechtzeitig nachhause und meiner Oma helfen."

„Oh, klar."

Er öffnete eine Schublade seines Schreibtischs und holte ein Notebook daraus hervor. Während er es startete, fragte er mich, ob, was ich eben gesagt hatte, hieß, dass meine Oma mit bei uns wohnte.

„Nein, ich wohne bei ihr. Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben und mein Papa ist, als ich neun war, wieder in den Krieg gezogen."

Ich sah stur auf seinen Bildschirm und drehte ihn, sobald Kian sich eingeloggt hatte, ungefragt zu mir, um einige Einstellungen vorzunehmen.

„Der Krieg ist vorbei", meinte er nach kurzer Zeit. „Kommt er denn nicht zurück?"

Meine Stimme klang unglaublich kalt. Kurz befürchtete ich, meine Worte würden auf dem Weg zu ihm gefrieren. „Nein. Kommt er nicht."

Kian sah mich weiterhin an, diesmal ohne etwas zu sagen.

Es gefiel mir, mit ihm allein zu sein. Es war ruhig, es war friedlich, es war witzig und es war schön. Gerade warf die Anspannung, die durch meine Adern rauschte, jedoch einen dunklen Schatten auf alles, das auch nur annähernd positiv sein könnte, und ich musste mich bemühen, seine spärliche Einrichtung nicht auseinanderzunehmen.

„Ich sollte wissen, was in deinem Vortrag abgeht, um die Präsentation zu bearbeiten."

Statt mich über den Inhalt seines Referates zu informieren, schaute er mich weiter stumm an. Ich wollte ihn anschreien, mir endlich zu antworten, nein am liebsten wollte ich auf ihn einschlagen. Aber er konnte weder was dafür, dass ich meinen Vater verloren hatte, noch dafür, dass alles, was damit zu tun hatte, so tief in mir vergraben war, dass, es zu verarbeiten nie in Frage gekommen war.

Ich atmete tief durch. Diesmal versuchte ich, mich dabei zu entspannen. „Ich rede nicht gern über meinen Vater. Ist kein gutes Thema."

Da ich ihn in meinen Gedanken regelrecht fertiggemacht hatte, sprach ich umso sanfter.

„Schon okay", meinte er ebenso leise.

Ich zuckte zusammen, als ich seine Hand vorsichtig über meinen Rücken streichen spürte.

„Wenn du doch mal reden willst, höre ich dir gerne zu."

Und wieder. Kians Hand machte kleine, kreisende Bewegungen auf meinem Schulterblatt. Er berührte mich. Und er hörte nicht damit auf. Selbst nicht, als ich ihn ansah.

„Er ist tot. Im Krieg gefallen, vor zwei Jahren."

„Das tut mir leid."

Aus Kians Mund klang das anders als die Beileidsbekundungen, die ich bisher gehört hatte. Aufrichtiger. Mitfühlender. Weniger wie eine verpflichtende Äußerung, weil es der Anstand gebührte, sondern wie ehrliches Mitgefühl. Vielleicht war es das, das mich dazu veranlasste, mich mit jedem Atemzug weiter zu öffnen.

„Ich habe zuhause seine Auszeichnungen und Medaillen rumstehen. Und jedes Mal, wenn ich sie ansehe, werde ich so unfassbar wütend. Allein der Begriff Kriegsheld...", Ich schnaubte voller Verbitterung, „Die Leute erwarten von mir, dass ich stolz bin. Ich musste mir so oft anhören, dass es keinen ehrenvolleren Tod gibt als seinen... Aber ich bin nicht stolz, ich bin angepisst. Auf jeden, der in Sicherheit war, während er gekämpft hat. Und auf jeden, der ernsthaft davon überzeugt war und ist, dieser Krieg sei auch nur im Geringsten gerechtfertigt gewesen."

Ich hatte so viel mehr zu sagen, so viel, das ich einigen Leuten ins Gesicht brüllen wollte, doch ich befürchtete, wenn ich damit einmal angefangenen hatte, könnte ich nicht mehr aufhören, bis ich an meinen eigenen Schreien erstickte. Nur bei Kian fühlte sich diese Wut nicht ganz so hart und kalt an. So zerstörerisch. Bei ihm kostete es mich keine Kraft, darüber zu reden. Es befreite mich. Mit jedem Wort, das meine Lippen verließ, schien ich leichter zu werden. Und vielleicht würde ich es irgendwann schaffen zu fliegen.

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