26

Kian

Schon am Anfang meiner Zeit bei den Menschen hatte ich begriffen, dass es bei ihnen viel für mich zu entdecken gab. Essen hatte ich bis zu meinem Ausflug mit Silas nicht dazugezählt.

Als wir die Innenstadt betreten hatten, hatte ich Charlie eine Nachricht geschrieben, in der ich behauptet hatte, ich sei zuhaue angekommen. Er konnte nicht wissen, dass ich mit Silas durch die Fußgängerzone schlenderte und mir von ihm ihre kulinarische Vielfalt erläutern ließ und ich glaubte, er würde es auch niemals erfahren. Eine Lüge, die mir zunächst einiges an Stress ersparte, langfristig aber als perfektes Beispiel dafür dienen würde, was mein Vater mir beigebracht hatte.

„Also ich habe total Lust auf Pizza. Wollen wir Pizza holen?"

Meine Antwort bestand aus einem stillen Schulterzucken. In den Mittagspausen besorgten meine Mitschüler öfter Pizza, und meistens roch sie sehr lecker, doch mir selbst eine zu holen war nie in Frage gekommen und die Köche im Palast hatten mir auch nie eine zubereitet.

„Das ist eindeutig ein vor Enthusiasmus kaum zu überbietendes Ja", beschloss Silas. „Also Pizza. Ich will mit vier Käse, Pilzen und Salami. Hast du irgendwelche Wünsche?"

Weiterhin stumm schüttelte ich den Kopf.

„Alles klar. Ich suche mir was für dich aus. Wartest du hier?"

Diesmal nickte ich. Er schaute sich kurz um, deutete auf eine Bank neben dem Eingang des Gebäudes vor uns und meinte, ich solle mich dorthin setzen.

Es liefen einige Leute an uns vorbei, doch kaum jemand beachtete uns. Alle schienen zu sehr mit sich selbst beschäftigt zu sein. Oder ich war doch keine ganz so große Attraktion wie bisher angenommen. Wenn mich jemand erkannte, schaute er schnell weg und ging zügig weiter oder lächelte mir vorsichtig aus der Distanz zu. Dass keiner auf mich zukam, erleichterte mich. Mir fehlte die Kraft, den freundlichen, sorglosen Prinzen zu geben, während ich alles andere als sorglos war.

„Ich bin gleich wieder da."

Ich seufzte, nachdem Silas hinter der Tür zur Pizzeria verschwunden war und ließ meinen Rücken an die Lehne der Bank sinken.

Ich sollte mich zusammenreißen und wenigstens versuchen, mich mit ihm zu unterhalten. Immerhin opferte er gerade einen Freitagnachmittag für mich. Aber alles, was ich tun und sagen konnte, kam mir vor wie ein schlechtes Schauspiel.

Dieses Bild, wie Charlie Austin wutentbrannt an die Spinde gedrückt hatte, wollte nicht mehr aus meinem Kopf. Das Quietschen des Metalls der Spinde, als sie unter Charlies Druck nachgaben. Der penetrante Geruch von Angst aus Austins Adern.

Vor allem, als ich noch jünger gewesen war, hatten Austin und ich uns ein Spiel daraus gemacht, Charlie zu provozieren. Wir hatten ihn vor Wut explodieren sehen wollen, weil mir aufgefallen war, dass er tierische Attribute annahm, wenn er gereizt war. Seine Körperbehaarung nahm zu, er bekam klauenartige Krallen und selbst seine Ohren veränderten ihre Form.

Dies genau beobachten zu können, hatten wir nicht geschafft. Er hatte nie die Kontrolle verloren, er war nie handgreiflich geworden und er war stets beherrscht geblieben. Geschrien hatte er, ein einziges Mal. Mehr nicht.

Heute hatte ich kurz gedacht, Charlie würde Austin jeden Moment das schlagende Herz aus der Brust reißen. Keiner konnte wissen, was noch gekommen wäre, hätte ich die beiden nicht bemerkt und getrennt.


Nach wenigen Minuten, die mir absurd lange vorgekommen waren, setzte Silas sich zu mir und machte durch ein übertriebenes Räuspern auf sich aufmerksam.

„Jetzt müssen wir nur noch warten. Georgio meinte, er bringt die Pizza raus, wenn sie fertig ist."

Durch ein Nicken signalisierte ich, dass ich verstanden hatte, schaute aber nur auf meine Hände, die in meinem Schoß lagen.

Silas saß in ähnlicher Position da wie ich. Leicht gespreizte Beine und die Hände auf den Oberschenkeln. Während ich meinen Kopf nach unten gerichtet hatte und immer wieder aus dem Augenwinkel zu ihm lugte, hatte er die Augen geschlossen und streckte sein Gesicht der Sonne entgegen. Nach kurzer Zeit begann er, sich mit seinem Shirt Luft zuzuwedeln und entblößte im Zuge dessen immer wieder seinen Bauch. Ich ertappte mich dabei, wie ich die dunkle Behaarung, die in den Bund seiner Unterhose führte, mit dem Blick auf- und abglitt.

„Mann, habe ich einen Hunger. Der Geruch, der da aus dem Restaurant kommt, bringt mich fast um. Lenk mich bitte ab!"

Ich musterte ihn einfallslos.

„Erzähl mal, was macht ein Prinz so in seiner Freizeit, wenn er nicht grade im Wald liest?"

„Ein Prinz hat kaum Freizeit."

Er musste mir anhören, wie wenig ich diesen Umstand genoss.

„Oh. Da fühle ich mich beinahe schlecht, weil ich fast schon zu viel Freizeit habe und die nur in meinem Bett verbringe." Er lächelte zwar, doch amüsiert wirkte er nicht.

„Ich würde nichts anderes tun, wenn ich könnte", antwortete ich sofort. „Du hast keine Ahnung, was ich alles geben würde, um einen einzigen Tag nur im Bett zu bleiben zu können." Ich stieß einen belustigen Ton aus, als ich begriff, was ich da sagte. „Schon krass. Vor einem halben Jahr habe ich noch darum gebettelt, genau das zu tun, was ich die letzten Wochen mache, und jetzt würde ich am liebsten alles hinschmeißen und mich irgendwo verkriechen."

Seine Augen wanderten über mein Gesicht. Er rutschte auf der Bank zurück, sodass er aufrecht dasaß und drehte sich zu mir.

„Ich stecke zwar nicht in deiner Haut, aber ich denke, ich verstehe ganz gut, was du meinst. Das muss echt anstrengend sein. Die ganzen Aufgaben; Die Erwartungen, von denen du erzählt hast. Keine Zeit für sich zu haben... Vor allem, ist das alles ja nur so, weil du dafür geradestehen musst, was die Generationen vor uns reihenweise verbockt haben. Ich meine, wir wurden in einen Krieg hineingeboren, für den wir absolut nichts können, aber wir sollen die Konsequenzen tragen. Das ist echt nicht fair."

Zum ersten Mal, seit wir hier saßen, setzte auch ich mich auf. Ich sah ihm in die Augen und suchte nach dem geringsten Anzeichen danach, dass er nicht aufrichtig war. Dass er mir etwas vormachte. Dass er etwas im Schilde führte. Doch ich konnte es nicht finden.

Ich wollte mich an ihn lehnen und es mir erlauben, kurz nichts zu anderes tun, als zu spüren, was er in mir auslöste. Für einen Atemzug wollte ich, dass alles, was ich wahrnahm, er war. Denn er schien alles zu sein, wonach ich mich sehnte. Ruhe, Verständnis, Sicherheit.

Er erwiderte meinen Blick eine Weile. Je länger ich ihn ansah und nichts tat, desto nervöser wurde er.

„Hab ich was Falsches gesagt?", lächelte er unsicher.

„Nein, hast du nicht." Ich seufzte. „Ich... Ich kann normalerweise nicht über sowas reden, weißt du? Und ich glaube auch nicht, dass es irgendjemanden geben würde, der sich das anhört. Bis auf dich."

Silas wich meinem Blick kurz aus. Er lachte dabei scheu und sah mich dann wieder an. „Das ist zwar echt süß, aber ich glaube das nicht. Du liegst deinen Freunden sehr am Herzen. Das merkt man. Charlie würde zu deiner Sicherheit wohl die gesamte Welt exekutieren."

„Ich bin seine Aufgabe, mehr nicht", brummte ich und ließ mich dabei wieder zurücksinken. „Er ist für mich verantwortlich, seit ich geboren bin... Manchmal bin ich mir nicht mal sicher, ob er mich überhaupt leiden kann. Die Älteren sehen alle nur ein unreifes Kind in mir. Und irgendwie haben sie recht. Ich komme mir so lächerlich vor in ihrer Anwesenheit."

Es machte mich verrückt, diese Gedanken trotz all meinen gelungenen Auftritten nicht loszuwerden. Ich hatte es ein Mal verbockt und das wog deutlich schwerer als alles, was seitdem tadellos funktioniert hatte. Sogar mein Vater hatte mir gesagt, es gefiel ihm, wie ich mich meiner Position angepasst hatte. Nur ich war nicht zufrieden mit mir. Es konnte nur eine Frage der Zeit sein, bis sich ein Schalter in mir umlegte und ich aufhörte zu funktionieren. Dann würde meine Deckung fallen und ich wäre aller Kritik schutzlos ausgeliefert. Ich würde meine Eltern enttäuschen, und Charlie und am meisten mich selbst.

Silas drehte sich zur Seite, sodass eines seiner Beine auf dem Boden stand und das andere zwischen uns auf der Bank lag.

„Ich werde dir jetzt nicht sagen, dass du nicht an dir zweifeln sollst, weil ich weiß, dass man das nicht einfach abstellen kann. Aber ich kann dir sagen, was ich dazu denke."

Er redete erst weiter, nachdem ich zustimmend genickt hatte.

„Wir haben uns zwar schon vor über einem Jahr im Wald getroffen, aber so richtig kenne ich dich wie lange? Ein paar Monate?"

Ich zuckte ahnungslos mit den Schultern. Mir kam es vor wie ein ganzes Leben.

„Ist ja auch egal... Worauf ich hinaus will, ist, dass ich echt viel von dir halte. Du bist freundlich, hilfsbereit, verantwortungsbewusst und du hast ein gutes Herz. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mann, der dich großgezogen hat und dementsprechend viel Zeit mit dir verbracht haben muss, irgendetwas anderes in dir sieht."

„Es ist halt anders mit ihm zu reden. Er macht immer aus allem eine Lektion und wartet nur darauf, mich zu belehren. Und er ist so beschützerisch. Er wird mir niemals zutrauen, selbst auf mich aufzupassen, wenn ich ihm ständig nur die Ohren vollheule."

„Naja, er hätte dich auch höchstpersönlich bei dir zuhause absetzen und da einsperren können."

„Genau das hat er 19 Jahre meines Lebens getan. Das hier gerade ist eine absolute Ausnahme. Und ich habe es sofort ausgenutzt, um etwas zu tun, das er mir niemals erlauben würde."

Er zog die Augenbrauen zusammen. „In die Stadt gehen?"

„Mit dir in die Stadt gehen. Allein." Ich begann den Kopf zu schütteln, als ich hörte, wie das klang, doch er gab mir nicht die Möglichkeit zu erklären wie ich es gemeint hatte.

„Wie alt bist du eigentlich?"

„Im Januar werde ich 20."

„Echt?"

Ich nickte, sah ihn aber fragend an. Mir war nicht bewusst gewesen, wie sehr sich, was er über mich erfuhr, von seinem Wissen über uns unterschied, bis er weiter nachhakte.

„Ich bin ehrlich gesagt grade total verwirrt. Ich dachte geboren sein ist vielleicht ein Ausdruck bei euch für auferstehen und du nennst deine Eltern aus kulturellen Gründen deine Eltern. Aber grade klingt das alles so als wärst du echt... Naja, geboren. Als süßes Baby aus deiner Mum rausgeschlüpft."

Die Art, wie er seine Verwirrung in Worte fasste, brachte mich zum Lachen.

„Lach mich nicht aus!", schmollte er. „Wenn ich nicht nachfrage, lerne ich ja nie dazu."

„Ich lache nicht über dich. Ich finde es gut, dass du nachfragst." Es zeigt Interesse. „Was ihr auferstehen nennt, bezeichnen wir als erwachen. Deshalb Erwachte."

Silas nickte verstehend. „Aber wieso erklärt ihr das nicht gleich? Erwachte klingt so viel netter als Vampire."

„Ich bin auch der Meinung, wir sollten das mehr an die Öffentlichkeit tragen, aber ich habe es bisher noch nicht geschafft, das im Rat durchzusetzen. Die halten Image für unsere geringste Sorge."

„Voll dämlich", schnaubte Silas. „Wir hatten doch nur deshalb solange Krieg."

Ich nickte, sagte aber nichts dazu. Wir waren uns einig.

„Okay, aber das heißt, du bist wirklich geboren. So im menschlichen Sinne?"

„Kann man so sagen."

„Und deine Eltern sind König Benedict und Königin Victoria?"

Wieder nickte ich.

„Kannst du deshalb was essen?"

Nachdem er mich auf den Treppen mit den Schokoriegeln erwischt hatte, hatte ich lange darüber nachgedacht, mit ihm darüber reden, dass er es niemandem erzählen durfte. Ich hatte aber schnell bemerkt, dass er ohnehin nicht sehr mitteilungsbedürftig war und auf mein Bauchgefühl vertraut. Jetzt so locker mit ihm darüber zu sprechen, war sehr viel besser als jede meiner Vorstellungen, ihn aufzuklären. So normal. So als längen keine Welten zwischen uns.

„Ja. An mir ist einiges anders, weil ich so geboren bin."

„Ist das selten?"

„Sehr."

Ich lächelte ihn an. Es gab keinen bestimmten Grund dafür. Ich mochte es einfach, mit ihm zu reden und fühlte mich unter seinen Blicken wohl.

„Aber ist das nicht einsam?"

„Ein Bisschen. Vielleicht kann ich dir irgendwann mehr darüber erzählen. Aber grade weiß ich nicht, ob ich das darf."

„Oh, ja klar." Silas nickte sofort energisch. „Wir wollen ja nicht, dass du Staatsgeheimnisse ausplauderst."

Es erleichterte mich, dass er so verständnisvoll reagierte. Ich konnte mit ihm reden, über Dinge, die mich beschäftigten, Sachen, die uns interessierten und auch total belanglose Themen, die uns unwillkürlich zum Lachen brachten. Ich konnte das Skript zur Seite legen. Und manchmal vergaß ich sogar ganz, ein Skript gab. Dann sah ich ihn an, und wartete auf den passenden Moment zu probieren, wie es war, die Lippen einer anderen Person zu kosten. Seine Lippen. Und ich wusste, das durfte ich nicht. Es würde zu nichts führen. Silas war niemand, den ich meinen Eltern als Partner präsentieren konnte und ein Eingeständnis dieser seltsamen Gefühle würde ihm eine Verantwortung aufhalsen, für die niemand gewachsen war.

Er hatte mit sich selbst genug zu tun. Mit dieser Dunkelheit, die er mit sich herumtrug. Die er bekämpfte, jeden Tag zu jeder Minute. Wenn er versuchte, sich durch die Kopfhörer in seinen Ohren von der Außenwelt abzuschotten. Wenn er so konzentriert auf einen Punkt vor sich starrte, dass es wirkte, als sei er an einem ganz anderen Ort. Wenn er lachte und dann, so hell er dabei auch strahlen konnte, ein Schatten über sein Gesicht huschte.

Ich würde also nicht zulassen, dass irgendwas von dem, was mein Hirn sich ausmalte, Realität werden konnte. Freunde sein funktionierte gut. Näherkommen konnten wir uns ohnehin nicht, ohne, dass ich von ihm trinken wollte. Auf eine paradoxe Weise schützte mich das vor den Fehlern, die ich bereit war zu begehen, wenn ich ihm in die Augen sah.

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