24

Kian

Im Laufe meines Lebens hatte mein Vater mir viele Lektionen erteilt. Er hatte mir beigebracht, dass Ehrlichkeit eine Schlucht war; Der Glaube, es sei eine Tugend, die ständige Drohung, uns in den Abgrund zu reißen; Lügen, der sichere Weg zum Fall; Und das Leben als König der Balanceakt auf einem schmalen Seil darüber.

Ich hatte Silas eine Version der Wahrheit mitgeteilt, die für alle tragbar war. Der einzige Grund für ihn zu wissen, was passiert war, wäre, um sich vor mir schützen zu können. Doch das war nicht nötig, denn ich achtete darauf, ihm nicht nahe zu kommen, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute und jede Sekunde. Ich hatte ihn ihm etwas gefunden. Etwas Schönes. Etwas Einzigartiges. Etwas, das ich um jeden Preis schützen wollte.

Anfangs redete er noch mit mir, fragte mich, ob ich mich in der Pause bei den Treppen mit ihm treffen wollte, bot mir Schokoriegel an und kam sogar wegen meines Vortrags auf mich zu. Ich hätte seine Unterstützung zweifelsohne brauchen können und ich hatte zusagen wollen und gewusst, vielleicht sollte ich das sogar. Es sprach immerhin nichts dagegen, unverbindlich Zeit mit ihm zu verbringen und davon auch noch zu profitieren. Mein Auftrag, ihn im Auge zu behalten, verpflichtete mich sogar dazu. Doch meine Angst, ihn erneut meiner fehlenden Selbstkontrolle auszusetzen, überwog.


Über einen Zeitraum von drei Wochen hinweg ließen seine Versuche, auf mich zuzugehen nach. Solange, bis gar keine mehr kamen. Wenn wir in Kunst nebeneinandersaßen, schob er mir ein lockeres "Hi" zu und zur Verabschiedung nickte er wortlos. Gespräche waren zur Seltenheit geworden.

Oliver war vor wenigen Tagen von seiner Reise zu den Druiden zurückgekehrt und hatte meinem Vater berichtet, dass sie nicht aufzufinden waren. Die Wachen waren ebenfalls verschwunden und es sah so aus als sei das schon eine ganze Weile so. Wir konnten uns nicht erklären, was passiert war und das reizte meinen Vater.

Er hatte mehrere Truppen zu weiteren Standorten der Druiden ausgesandt. Dieser Weg war weder kurz noch ungefährlich und so konnten wir nichts anderes tun als zu warten.

Wenn ich nicht gerade in der Schule war, grübelte ich mit Charlie und meinen Eltern über mögliche Erklärungen und weitere Schritte. Als vollwertiges Mitglied der Kommissionen waren Freizeit und Schlaf zu einem Luxus geworden, den ich mir nicht mehr leisten konnte.

Meine Mutter deshalb oft zu sehen war ein gewisser Trost, aber richtig miteinander reden konnten wir kaum. Immer ging es nur um Kriege, Verträge oder Strategien.

Mit jedem vergehenden Tag nahm auch Charlie an Gereiztheit zu. Was ihn wohl am meisten störte, war Austins anhaltende Sorglosigkeit. Das Verschwinden der Druiden war keine Kleinigkeit, die man auf die leichte Schulter nehmen konnte. Falls sie freiwillig gegangen waren, hatten sie nicht nur unsere Wächter korrumpiert, sondern sie waren quasi vor uns geflohen und führten mit Sicherheit etwas im Schilde. In diesem Falle drohte bereits große Gefahr. Falls nicht, mussten wir mit einem unbekannten Gegner rechnen, dessen Macht die der stärksten und weisesten Menschen der Welt überstieg. Das war ein berechtigter Grund für d schlaflose Nächte.

Austin verbrachte die meiste Zeit mit Boris oder anderen Menschen. Er hatte sich integriert. Auch Maddy hatte eine Gruppe gefunden, in die sie gut hineinpasste. Boris hatte sie als Kifferpazifisten bezeichnet. Wohl Leute, die ständig gut drauf waren und hin und wieder den ein oder anderen Joint zu viel hatten.

Für Austin und Maddy war es leicht, nach einer kleinen Aufwärmphase Freunde zu machen. Charlie und Anna waren bei Fremden zu misstrauisch. Niemand, der sie nicht bereits kannte, würde freiwillig auf sie zugehen. Und ich litt an mangelnder Sozialkompetenz. Es war nicht so als hätte niemand versucht, Kontakt zu mir zu knüpfen. Ich hatte nur so viel im Kopf, dass ich nie die passenden Worte finden konnte und so alle vergraulte.


In einer meiner Freistunden zog ich mich auf die Feuertreppen zurück, um etwas zu essen. Trotz des Gongs, der das Ende der Stunde und somit die Pause einläutete, wollte ich noch ein paar Sekunden hier sitzen und allein sein, bevor ich den Platz für Silas räumen würde. Diese kurze Zeit reichte, um mein Vorhaben zu ändern.

Silas öffnete die Tür und schlürfte auf die Treppen zu. Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er mich nicht ignorierte, sondern schlichtweg nicht wahrgenommen hatte, und da stolperte er auch schon über mein Bein, das auf einer Stufe lag. Er hielt sich reflexartig am Geländer fest und sah schockiert zu mir

„Alles okay?", fragte ich dämlich und hilflos.

„Mhm."

Er fing sich schnell wieder, stieg über meinen Fuß und setzte sich auf seine übliche Stufe.

Dunkle Ringe zeigten sich unter leicht geröteten Augen. Er knirschte mit den Zähnen, drückte mit dem Daumen in seiner Handfläche herum und wippte mit dem Bein auf und ab.

Ich wollte etwas sagen. Irgendwas, dass ihm guttat. Das ihn beruhigte. Auch, wenn ich keine Ahnung hatte, was in ihm vor sich ging, zählte in diesem Moment nur der Gedanke daran, dass das meine Chance war, für ihn da zu sein. Etwas gut zu machen.

„Weißt du was?" Er sah mich an, so plötzlich und so intensiv, dass mir für einen Moment der Atem wegblieb. „Heute ist ein verdammt beschissener Tag. Das Letzte, was ich gerade gebrauchen kann, ist, mich von dir anstarren zu lassen."

„Tut mir leid." Sofort wandte ich meinen Blick ab.

Sein Seufzen klang unfassbar erschöpft, sein Bein hatte aufgehört zu wippen und seine Finger waren nun tief in seinen dunklen Haaren vergraben, während er die Stirn auf den Handballen und die Ellenbogen auf den Knien abgestellt hatte.

„Kann ich denn etwas für dich tun?", hakte ich vorsichtig nach.

Ich sollte ihn nicht anstarren, notiert. Aber es ging ihm schlecht und ich wusste nicht wieso oder was dagegen helfen konnte. Zu fragen, war zwar unangenehm und bewies, wie unfähig ich war, doch es war ein Versuch, wenn auch ein sehr verzweifelter.

Erneut entkam ihm ein Seufzen, diesmal etwas leiser.

„Ich schätze mit einer Umarmung kann ich von dir nicht rechnen."

Ich schluckte. Mein Herz setzte einen kleinen Schlag aus. Mein Hirn formulierte Fragen wie:

Wie es sich wohl anfühlt, ihn zu umarmen?

Wo er wohl seine Hände hinlegen würde?

Ob es mir gefallen würde?

Und es schuf Bilder und Gefühle und mein Bauch kribbelte und kurz dachte ich ernsthaft darüber nach, es zu versuchen. Nicht lange genug, um die Saat dieses Gedankens fruchten zu lassen.

„Das nicht, nein", antwortete ich in derselben Lautstärke.

Die Leute, die ich bisher umarmt hatte, konnte ich an einer Hand abzählen. Irgendetwas veranlasste mich dazu zu glauben, mit Silas wäre es anders. Und ich wollte herausfinden wie. Aber ich traute mich nicht. Dadurch lernte ich die dürre Grenze zwischen Vorsicht und Feigheit kennen.

Silas nickte bloß. „Dachte ich mir."

„Ich würde es ändern, wenn ich könnte. Allein, um dir jetzt Trost spenden zu können."

Er schüttelte den Kopf, sodass seine Haare umherflogen, ehe er ihn wieder in die Hände sinken ließ. „Schon gut, Kian. Wie gesagt, heute ist ein Scheißtag. Ich hätte dich nicht so anmaulen sollen oder etwas verlangen, von dem ich weiß, dass du es nicht willst."

„Ich-"

„Lass es einfach. Ich bin echt zu fertig für Diskussionen."

Ich hielt es nicht lange aus, still in dieser dunklen Stimmung umherzutreiben. Mein Mund verselbstständigte sich. „Ich mag meinen Geburtstag nicht."

Ich war selbst überrascht davon, wie leicht es mir fiel, ihm das zu erzählen. Wie leicht es war, überhaupt mit ihm zu reden. Ich dachte gar nicht darüber nach, was ich da sagte und ob ich es sagen durfte.

„Mit jedem Jahr, das vergeht, wird immer mehr und mehr von mir erwartet und ich weiß schon sehr lange, dass das Ansprüche sind, die ich nicht erfüllen kann. Ich habe Angst vor dem Moment, an dem das auch alle anderen begreifen."

„Wow." Silas' Blick schoss zu mir, seine Augenbrauen hochgezogen und sein Mund leicht geöffnet. „Das war deprimierend. Jetzt fühle ich mich noch schlechter."

„Oh, das tut mir leid. Das wollte ich nicht."

Er schmunzelte. Seine gesamte Körperhaltung veränderte sich dabei. „Das war ein Witz. Es ist nicht so, dass es nur mir allein zusteht, traurig zu sein."

Kurz sagte keiner mehr was. Dann sprach er weiter.

„Wieso erzählst du mir sowas? Ich dachte, du willst nichts mit mir zu tun haben."

„Das ist nicht wahr! Ich will nur genügend Abstand halten."

Natürlich musste es so rübergekommen sein als würde ich ihm aus dem Weg gehen. Dabei war es doch nur der Körperkontakt, vor dem ich zurückschreckte, nicht seine gesamte Anwesenheit.

Egal, was los war, es ging mir immer etwas besser, wenn er da war. Auch, wenn er mich nicht ansah, wenn er nicht mit mir redete und wenn er mich nicht wahrnahm. Er allein reichte. Er vermittelte mir Ruhe. Und immer, wenn ich ihn sah, spürte ich eine Kraft durch meinen Körper jagen, die seines Gleichen suchte. Er lud meine Energietanks auf, selbst nach der längsten und zähsten Nacht und sorgte dafür, dass ich mich plötzlich, so ausgelaugt ich auch war, für wenige Momente lebendig fühlen konnte. Dass ich lächeln konnte und mich geerdet fühlte, obwohl ich keine Ahnung hatte, wo oben und wo unten war. Also nein, ich wollte nicht nichts mehr mit ihm zu tun haben. Im Gegenteil.

„Das hast du geschafft. Und ganz ehrlich? Ich war ziemlich verletzt deswegen. Oder eher, weil du nicht einfach sagen kannst, was dein Problem ist."

„Tut mir-"

„Noch eine Entschuldigung aus deinem Mund und ich kaufe alle Schokoriegel auf der gesamten Welt und sorge dafür, dass du keinen einzigen mehr abbekommest, ohne mich anflehen zu müssen."

Eine ernstzunehmende Drohung, die mich sofort zum Lachen brachte. Das erste Mal seit Wochen fühlte ich etwas anderes als Scham und Druck. So als lüpfte Silas alle Steine der Lawine, die mich unter sich begraben hatten, hoch und gab mir Platz zum Atmen. Und dann, als er mich lächelnd anblickte, glaubte ich, wenn er an meinem Geburtstag so neben mir säße, könnte ich ihn genießen.

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