23

Silas

Boris lief bereits zielstrebig auf Austin zu, als ich erfuhr, dass er vor der Schule ein Treffen mit ihm vereinbart hatte. Auch Kian stand dort. Ich war noch nicht dazu bereit, mich in einem Radius von weniger als 20 Meter mit ihm aufzuhalten. Ich brauchte Vorbereitungszeit und musste überprüfen, wie er auf mich reagierte. Am besten Boris vorschicken und unauffällig in Erfahrung bringen lassen, ob ich mich am Freitag sehr blamiert hatte. Doch so zum Kotzen direkt wie Boris war, würde er sich nicht die Mühe machen, irgendwas „unauffällig" zu tun.

Außerdem sah Kian uns in seine Richtung kommen. Es war zu spät, abzubiegen und der Situation durch einen Schlenker zum Schulhaus zu entkommen. Deshalb blieb ich mit Alica und Boris in Reih und Glied und hielt an meinem Wunsch fest, in den passenden Momenten – Momenten wie diesem hier – unsichtbar zu werden. Weiterhin erfolglos.

„Hey Party People!" Boris boxte Austin kumpelhaft in die Schulter. Sofort lagen alle Augen auf ihm.

Mir sollte es recht sein. Wenn sich alle ihm widmeten, lag deutlich weniger Aufmerksamkeit auf mir. Nur Kian schien die besondere Fähigkeit zu haben, sich dieser Wirkung zu entziehen. Er schaute mich an, seit er mich in einiger Entfernung auf ihn zugehen sehen hatte. Statt seine Blicke zu erwidern hatte ich mich umgesehen, auf den Boden geschaut und sogar ein kurzes Gespräch mit Alica über das Wetter begonnen. Und da stand ich dann, direkt neben ihm, während er mir leise einen guten Morgen wünschte.

Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Ich wich seinem Blick weiter aus. Nicht, weil ich ihn nicht ansehen wollte, sondern weil ich ihn nicht ansehen konnte.

So besoffen wie ich am Freitag gewesen sein musste, hatte ich definitiv etwas angestellt. Mich darüber zu freuen, dass er mich begrüßte, obwohl ich versucht hatte, ihn zu ignorieren, war nichts anderes als dämlich. Er war zu gut erzogen, um von heute auf morgen kein Wort mehr mit mir zu wechseln. Und es hätte ja auch ein zu leise geratenes allgemeines ‚Guten Morgen' sein können.

„Also das mit der Party müssen wir echt nochmal üben." Boris schaute strafend in die Runde. „Ende des Sommers ist eine Strandparty am See. Da gehen wir zusammen hin."

„Wer wir?" Austin sah ihn überfordert an.

„Na wir eben. Wir alle. Und dann lassen wir es richtig fett krachen. Ich will euch abfüllen."

„Wir trinken keinen Alkohol."

Boris verdrehte die Augen und erwiderte Charlies abweisenden Blick genervt. „Ihr seid alte Spießer!"

„Wir können nichts zu uns nehmen, das kein Blut ist, Boris." Austin legte einen Arm um meinen Cousin. „Wir haben nichts, das Nahrung wie eure verarbeiten könnte. Verdauung läuft bei uns ein bisschen anders."

„Und was passiert mit dem Blut, das ihr trinkt?"

„Das geht direkt ins Herz und wird da in verschiedene Formen von Energie umgewandelt."

Boris legte die Sitrn in Falten. „Welche sollen das sein?"

„Naja, eine davon hält unsere Körper am Leben, eine weitere gibt vielen von uns bestimmte Kräfte, wie ein besseres Gehör oder gute Reflexe, und die andere ist eine Art Geschenk, das man an die richtige Person weiterleiten kann, um eine lebenslange Verbindung zu schaffen. Das nennen wir Gefährtenverbindung."

„Interessant." Boris nickte verstehend, obwohl ich mir sehr sicher war, dass er nichts davon verstanden hatte. Ich sah ihm genau an, wie sein Hirn versuchte, sein Wissen über Anatomie und Biologie mit Austins Erklärung zu verknüpfen. Und wie er scheiterte.

Das Gespräch konnte spannend werden, sobald er die richtigen Fragen fand, und das wollte ich auf keinen Fall verpassen. Das Thema interessierte mich schon von Anfang an und obwohl es mir nicht an Gelegenheiten gemangelt hatte, Kian dazu zu befragen, hatte ich mich immer zurückgehalten. Ich war nicht so direkt wie Boris. Ich dachte viel zu sehr darüber nach, wie diese Fragen rüberkommen konnten und ob ich mich dabei blamieren würde – vor allem vor Kian.

Zudem war Boris, so ungern ich das auch zugab, sehr viel schlauer als ich. Zumindest im akademischen Sinne. Wenn jemand logische Schlüsse aus zu wenig Information und zu viel Verwirrung ziehen konnte, dann das intelligenzfeindliche Genie, das sich mein Cousin nannte. Das Läuten des Schulgongs verweigerte uns jedoch die nötige Zeit dazu.

„Darauf kommen wir wann anders nochmal zurück." Boris hob warnend den Finger und schaute Austin streng an. Dieser nickte lächelnd und schob meinen Cousin voran.

„Können wir in der Pause unter vier Augen reden?"

Mein Blick löste sich von Austins Hand auf dem Rücken meines Cousins und richtete sich auf Kian. Nur für eine Sekunde. Dann sah ich wieder runter und nickte.

Es machte mich verrückt, dass ich es nicht schaffte, ihn richtig anzusehen. Meiner Erfahrung zufolge gab es nicht viele Eigenschaften, die anziehender waren als ein gesundes Selbstbewusstsein. Aber was brachte es mir schon zu versuchen, auf Kian anziehend zu wirken? Mir war durchaus bewusst, dass ich nicht die Art von Typ war, die man begehrte und umschwärmte. Nicht so wie er. Er musste ja nicht einmal etwas Bestimmtes tun und löste schon Dinge in mir aus, die beinahe zu öffentlichen Peinlichkeiten führten.

„Bei den Feuertreppen?", fragte er weiter nach.

Wieder nickte ich.

Als wir im Schulhaus ankamen und uns durch die Schülermenge pressen mussten, geriet ich durch einen Stoß ins Straucheln und rempelte ihn versehentlich an. Er zuckte sofort zurück und brachte Abstand zwischen uns.

Ich schluckte hart und drängte mich möglichst schnell voran, weg von Kian, der mir noch ein gepresstes „Bis später" zuschob, bevor er in der entgegengesetzten Richtung verschwand.

Ich verstand es nicht. Er wollte mit mir reden. Zu zweit. An einem Ort, den ich beinahe als unseren Platz bezeichnen würde. Aber, wenn wir uns kurz berührten, zuckte er weg und hetzte davon.

Die einzige Erklärung, die ich finden konnte, war, dass ich etwas getan haben musste, dass ihn regelrecht anekelte. Vermutlich wollte er mir höflich mitteilen, dass ich mich von ihm fernhalten sollte, da er zu freundlich war, mich ohne Erklärung nicht mehr zu beachten.

Im Unterricht hatte ich keine Probleme damit, mich gegen die Gedanken der andern abzuschotten. Wieder war ich dazu viel zu sehr mit meinen eigenen beschäftigt. Sie machten mich wütend. Im schlimmsten Fall hatte ich mich Kian an den Hals geworfen und versucht, ihn zu küssen. Er hatte mich vor einem möglichen Kuss sicher abgewiesen. Demzufolge wusste er nun, dass er mir gefiel. Allerdings konnte es auch sein, dass ich viel schlimmere Dinge gesagt hatte, als sie zu tun. Dirtytalk zählte nicht zu meinen Stärken. Das erklärte nicht unbedingt die Reaktion auf unseren kurzen Körperkontakt , doch ich konnte nachvollziehen, warum man sich in diesem Falle vor mir ekeln konnte.

Darauf, warum genau ich so wütend war, konnte ich mich nicht festlegen. Wohl in erster Linie, weil ich es nicht geschafft hatte, mich zusammen zu reißen. Oder weil ich getrunken hatte, obwohl ich wusste, dass ich dann jedes Mal Scheiße baute. Oder weil ein naiver, dämlicher Teil von mir tatsächlich hoffte, dass Kian nicht vorhatte, mich abzuweisen. Was eher unwahrscheinlich war, da er sehr ernst gewirkt hatte bei seiner Bitte, mit mir zu sprechen. Er würde mich sicher nicht sehnsüchtig erwarten, mich wenn ich reinkam, von innen an die Tür pressen und mit leidenschaftlichen Küssen begrüßen. Seinen Körper an meinen pressen, mich an jeder zu erreichenden Stelle berühren und mir unter Stöhnen und Wimmern mitteilen, dass er mich vermisst hatte. Nein, das würde er nicht.


Ich war nervös. Nervöser als ich es hätte sein sollen. Vielleicht war das unser letztes Gespräch. Vielleicht wollte er nichts mehr mit mir zu tun haben. Vielleicht waren wir einfach nicht dafür gemacht, befreundet zu sein. Und vor allem für mehr.

Ich atmete tief durch und stellte mich an das Gitter, um meine Mitschüler zu beobachten. Es beruhigte mich, dass viele sich an ihrem üblichen Platz befanden und taten, was sie immer taten. Die Raucher zogen an ihren Kippen, die Streber versanken in ihren Büchern, Greg schrieb Hausaufgaben ab und ich stand in meinem Versteck und sah zu.

Seit ich Kian am Morgen gesehen hatte, schlug mein Herz in einer anderen Frequenz. Es fühlte sich warm und schwer an. Wie ein Lavastein, der vor sich hin glühte, ohne zu wissen, ob das Glimmen ein Feuer entfachen oder erlöschen würde.

Und dann sah ich meinen eigenen, persönlichen Vulkan.

Er drückte sich durch den dünnen Spalt der Tür und schloss sie sofort hinter sich. Als er mich sah, lächelte er leicht. Doch es war nicht das Lächeln, das ich von ihm kannte. Der Glanz in seinen Augen fehlte. Die Aufrichtigkeit. Es war ein Lächeln, das man alten Leuten auf der Straße zuwarf, um nicht für einen asozialen Jugendlichen gehalten zu werden.

Er rieb mit den Handflächen über seine Hose, kam langsam die Treppe herunter, stellte sich neben mich und schaute ebenfalls auf den Pausenhof. Im Gegensatz zu heute Morgen schaffte ich es nun nicht mehr, meinen Blick von ihm zu lösen.

Vielleicht war das das letzte Mal, das ich ihm so nahe sein konnte. Das leichte Schimmern seiner goldbraunen Haut erkennen und die hellen Sprenkel in seinen blauen Augen. Die hellblonden Strähnchen in seinen Haaren, die aus der Ferne kaum zu erkennen waren. Seine wohlgeformten Lippen, die so weich und einladend aussahen, dass es sie kaum real sein konnten.

Obwohl sein Anblick so schön war, hielt ich es nicht weiter aus, ihn anzustarren. Nicht in dem Bewusstsein, dass es bald vorbeisein würde. Also begann ich zu reden.

„Ich war am Freitag ziemlich betrunken."

Ich löste meinen Blick von ihm und richtete ihn auf meine Hand, die sich zwischen uns an das Geländer klammerte, so fest, dass meine Knöchel weiß hervortraten.

„Ich weiß nicht mehr, was ich angestellt habe, aber es tut mir leid, falls ich dich in eine unangenehme Situation gebracht habe."

„Du weißt es nicht mehr?" Sein Blick lag musternd auf mir, während ich den Kopf schüttelte.

„Nur noch ein bisschen was. Also vom Tanzen auf dem Feld und dass wir geredet haben."

Er sagte nichts, eine ganze Weile. Diese Stille schrie von dem Potenzial für bedeutende Worte, die dazu in der Lage sein konnten, was auch immer zwischen uns stand, zu beseitigen. Doch keiner von uns hörte hin.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie auch er seine Hand auf das Geländer legte. Plötzlich leitete das einst kalte Eisen eine wohlige Wärme in meinen Körper, die jede einzelne Zelle zu erreichen schien. Nicht mal seine Worte konnten etwas dagegen ausrichten.

„Ich würde dir gerne sagen, dass nichts weiter vorgefallen ist..." Nicht nur sein Lächeln war anders als sonst, sondern auch seine Stimme. Er klang erschöpft. Resigniert. Wenn nicht sogar traurig. „...Aber das kann ich nicht."

Ich schloss die Augen und wagte einen weiteren Versuch, mich in Luft aufzulösen. Wieder klappte es nicht.

„Es ist nicht deine Schuld-"

Die Gefahr, dass er mein verbittertes Schnauben als belustigten Ton missinterpretierte, war alles andere als gering.

„Das hört sich an wie ‚Es ist nicht so wie es aussieht' oder ‚Es liegt nicht an dir, es liegt an mir.'"

Wenn Kian mich damals im Wald schon für zickig gehalten hatte, dann musste er nun einen wütenden Giftzwerg in mir sehen. Dabei war ich gar nicht wütend. Eher verletzt.

Er hatte die Lippen zusammengepresst und den Blick gesenkt. „Es liegt an mir. Und könnte ich, würde ich es ändern."

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