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Kian

Meine erste Teilnahme im Inneren Kreis lehrte mich, dass das Gremium der engsten Vertrauten meines Vaters nichts mit den Ratssitzungen gemein hatte. Hier wurden fundamentale Entscheidungen getroffen und sofort durchgesetzt, ohne große Diskussionen und langwierige Abstimmungen. Hier konnte man etwas bewirken.

Sonntagvormittag eröffnete mein Vater die kleine Runde. Neben meinen Eltern und mir waren Charlie, Anna und Oliver, der Waffenmeister, anwesend. Wir sprachen über Charlies Vermutung, dass Boris, Alica und Silas von Jägern abstammten.

Aus dem Sportunterricht wussten wir, dass sie schneller waren als normale Menschen. Stärker, ausdauernder, flinker. Außerdem musste sich um ihren sechszehnten Geburtstag herum eine mentale Kraft gezeigt haben.

„Sowie ihr das beschreibt, scheint es nicht so, als würde von ihnen Gefahr ausgehen. Die modernen Druiden sind uns wohlgesonnen. Wir haben seit Jahrhunderten Frieden mit ihnen", meinte Oliver. „Sie stehen immerhin unter unserem Schutz. Es gibt keinen Weg für sie, die Kinder erreicht zu haben, ohne, dass wir es bemerken konnten."

Charlie begann während Olivers Aussage den Kopf zu schütteln. „Ich halte es nicht für unwahrscheinlich, dass es genug Gelegenheit für die Druiden gab, die Menschen zu erreichen und zu beeinflussen. Wer weiß, ob dazu überhaupt direkter Kontakt nötig war."

Oliver öffnete den Mund, um dem zu widersprechen. Er war jahrzehntelang als Wache und Beschützer für die Druiden eingeteilt gewesen und kannte sie dementsprechend gut. Ich war mir nicht sicher, ob sein Urteil nicht gerade deswegen subjektiv war. Gerüchten zufolge war er damals von seinem Posten abgezogen worden, weil er eine Affäre mit einer Druidenanwärterin gehabt hatte.

„Allerdings", Charlie warf Oliver einen Blick zu, der ihn verstummen ließ, „halte ich es auch nicht für ausgeschlossen, dass die Druiden nichts damit zu tun haben. Genauso wie in Kriegszeiten mehr und kräftigere Erwachte entstehen, galt selbiges lange auch für Jäger späterer Generationen. Der Zeitpunkt ist aber bedenklich. Und die Tatsache, wer sie sind, beunruhigt mich ebenfalls."

Oliver wirkte zufrieden mit der Erklärung einer weiteren Option. Mein Vater nickte ebenfalls, doch er hielt seinen nachdenklichen Blick starr auf die hintere Mauer des Saals.

„Die Jachans sind Nachfahren einer langen Reihe aus starken Jägern und Druiden. Wir könnten sie nicht als einfache Menschen abstufen, selbst, wenn sie keine Kräfte hätten. Ihr Wissen kann weitergegeben werden, meinetwegen sogar über Jahrhunderte hinweg. Das macht sie im Krieg alles andere als ungefährlich."

Mein erster Reflex war es, Charlie daran zu erinnern, dass wir Frieden hatten. Aber mir war bewusst, dass nicht jeder diesen Frieden wahren wollte. Deutlich realistischer war es, die jetzige Phase als Kampfpause und Verhandlungszeit zu beschreiben.

„Worauf willst du hinaus?" Meine Mutter hatte die Augenbrauen zusammengezogen und musterte Charlie mit fragendem Blick.

„Jäger und Druiden haben schon immer zusammengearbeitet. Wieso also nicht jetzt? Es könnte im Interesse beider Parteien liegen, eine neue Generation von Jägern zu erschaffen. Eine bessere."

Charlie warf mir einen kurzen Seitenblick zu. Automatisch dachte ich an Silas. Daran, dass selbst begabte Erwachte wie Charlie ihn weder riechen, noch seinen Herzschlag hören konnten. Dass ihn das gefährlich machte. Und daran, dass Charlie mit mir vereinbart hatte, dies vorerst mit niemandem zu teilen, nicht mal meinen Eltern.

„Wir können nicht wissen, woher sie ihre Kräfte haben. In Anbetracht aller Fakten müssen wir aber erstmal davon ausgehen, dass die Druiden etwas damit zu tun haben und uns demnach nicht so wohlgesonnen sind wie bisher angenommen. Alles andere wäre unvorsichtig."

Charlie gab allen Anwesenden etwas Zeit, sich seine Überlegungen durch den Kopf gehen zu lassen.

Die letzten großen Auseinandersetzungen zwischen Druiden und Erwachten waren Jahrhunderte her. Seitdem lebten wir friedlich und im ständigen Austausch miteinander. Mein Vater bot ihnen Schutz vor den Aufständischen und stellte dafür Wachen und Ressourcen zur Verfügung. Es gab keinen guten Grund, das wegzuwerfen, um alte Differenzen wieder aufleben zu lassen. Andererseits gab es für Krieg nie einen guten Grund.

An der Tafel herrschte bedachte Stille. Ich folgte meinen eigenen Überlegungen auf der Suche nach einem Vorschlag wie wir weiter verfahren sollten. Silas, Boris und Alica mussten ihre Kräfte – falls sie welche hatten – bereits entwickelt haben. Spätestens dann wäre es aus Sicht der Druiden logisch gewesen, auf sie zuzugehen und für ihre Zwecke zu rekrutieren.

Ich räusperte mich, noch leicht in Gedanken versunken. Dadurch zog ich interessierte Blicke auf mich. Aufmerksamkeit.

„Ich glaube nicht, dass sie wissen, was sie sind. Und falls die Druiden wirklich was damit zu tun haben, hätten sie sie doch schon lange ausgebildet. Sonst nutzen sie und ihre Kräfte ihnen nichts. Allerdings kann es natürlich auch sein, dass sie auf etwas gewartet haben. Sowas wie einen passenden Zeitpunkt. Und, dass dieser durch den Friedensvertrag nicht gekommen ist."

Mein Vater sah weiterhin nachdenklich an seine Wand. Wieder nickte er dabei. „Wir müssen das auf jeden Fall weiter beobachten, aber wir sollten uns bedeckt halten."

Ich wandte mich an Oliver. „Ich bin sicher, du hast noch deine Kontakte unter den Druiden. Statte ihnen einen freundlichen Besuch ab, richte ihnen herzlichste Grüße vom Königshaus aus und hake vorsichtig nach, was sie wissen."

„Ich soll sie aushorchen?"

Bevor ich antworten konnte, tat es mein Vater. „Du sollst deine Arbeit machen. Tu, was der Prinz dir sagt."

Sowie Olivers richtete sich auch mein Blick auf ihn. Es war unmöglich, etwas in seiner Mimik zu erkennen. Er sah immer gleich aus, egal, was gerade in ihm vor sich ging. Er lächelte nie, er weinte nie, er sah nie wütend aus. Manchmal frage ich mich, ob das wirklich an seiner Kontrolle lag oder doch daran, dass er womöglich gar nichts fühlte.

Oliver senkte den Blick und nickte. „Selbstverständlich."

Es musste demütigend sein, sich als Erwachter, der Jahrhunderte voller Erfahrung und duzende von Talenten vorzuweisen hatte, vor einem 19-Jährigen verneigen zu müssen, nur, weil er einen Titel trug.

„Solange Oliver sich darum kümmert, behaltet ihr die Kinder im Auge."

Mein Vater hatte seine eigene Art, Zuneigung zu zeigen. Er erteilte mir Aufgaben, weil er mir die Möglichkeit geben wollte, meine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Er schrie mich an, weil er mich dazu motivieren wollte, an mich selbst zu glauben. Und er übertrug mir Verantwortung, weil er mir vertraute. Wenn man Dinge wie diese mal durchschaut hatte, lebte es sich viel leichter mit ihm. Man hatte nicht länger das Gefühl, man sei eine einzige Enttäuschung.

„Wir sind bereits dabei, sie zu beschatten. Austin steht Boris sehr nahe, Kian hat ein Auge auf Silas und Maddy und Anna wechseln sich mit Alica ab. Es ist deutlich schwerer, richtig an sie heranzukommen als an die Jungs. Sie ist abweisend und misstrauisch", erklärte Charlie.

Ich hörte die Räder in unseren Köpfen förmlich rattern. Einzig meine Mutter hielt diese Situation für amüsant.

„Sowie das für mich aussieht, braucht das Mädchen ein Abenteuer. Einen attraktiven Schwarm vielleicht?", zwinkerte sie mir kichernd zu.

Ich war daran gewöhnt, dass sie in den letzten Jahren immer  wieder mit Frauen angekommen war, um sie mir vorzustellen. Diese waren bisher ausschließlich Erwachte gewesen. Welche aus unserem Reich, die unsere Sitten kannten und hier willkommen waren. Meine Mutter konnte den Vorschlag, mich an eine potenzielle Jägerin ranzumachen, unmöglich ernstmeinen.

„Kian hat mit Silas alle Hände voll zu tun."

Ich war Charlie unendlich dankbar dafür, dass er eingriff, bevor ich mich mit stotternden Erklärungen, warum ich das nicht machen wollte, total zum Affen machen konnte.

Alica und ich? Das würde niemals funktionieren.

Mit Silas war alles total einfach. Reden, lachen, tanzen. Ihn beinahe umbringen. Das ging von ganz allein. Bei ihm zu sein fühlte sich leicht und unbeschwert an. Auch nur daran zu denken, irgendwen sonst an seine Stelle zu setzen, erfüllte meinen Magen mit einem unangenehmen Gefühl der Enge.

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